Archiv für den Monat Oktober 2019

Turiner Einzelheiten: Lila, Weiß und Grün

Ein typisches bürgerliches italienisches Wohngebäude aus den Fünfzigern oder Sechzigern, gelegen in einer der teureren Gegenden von Turin in den Hügeln jenseits des Po. Ein Eckbau links der ansteigenden Via Giovanni Boccaccio (Giovanni-Boccaccio-Straße), vier Obergeschosse auf dünnen runden Betonstützen, die das Erdgeschoß bis auf den weit zurückgesetzten und von der Straße aus gleichsam unsichtbaren Eingangsbereich auflösen. Der aufgestützte Baukörper ist ganz mit kleinen quadratischen cremefarbenen Kacheln verkleidet, zu denen als Kontrast in den Geländern der Eckbalkone und unter den großen Fensterflächen in der abzweigenden Via Guido Cavalcanti (Guido-Cavalcanti-Straße) ebensolche in kräftigem Lila kommen.

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Das Gebäude füllt in schnörkellos kubischer Form sein Grundstück aus, doch zur Via Boccaccio ist auch eine große Einbuchtung. Da sich um sie zu zwei Seiten laubengangartige Balkone legen, die links von einer fortgesetzten runden Stütze getragen werden, während rechts nur schmale Fensterbänder und geschoßhohe ornamental durchbrochene Betonblenden sind, wirkt sie wie ein zufällig offengelassener Hinterhof.

In diesem Bereich steht, ihn bis ins dritte Geschoß ausfüllend, ein immergrüner Baum in nach oben verjüngter Kegelform, wie er in Italien so häufig ist, eine Magnolie, die aber mit den schön- und kurzblühenden Zierbäumen nördlicher Vorgärten und Parks wenig zu tun hat. Sie ist wie der Höhepunkt des wohlgestalteten und ebenso exotischen Gartens unterhalb der aufgestützten Geschosse, zwischen den Betonstützen.

Diese Vegetation und diese Architektur gehören zusammen und sind sehr italienisch. Sie sind geschmackvoll und hübsch und sie sind hier so normal wie bei uns im Norden unbekannt. Ähnliche Gebäude gibt es in Turin zu dutzenden, wenn auch meist eher ohne die Le Corbusier’sch angehauchten Stützen. Gerade diese helfen jedoch, über die hübschen exotischen Oberflächen, in die man sich so gerne verlieben will, hinwegzusehen, denn sie sind für die Stadt ohne Bedeutung. Es handelt sich dennoch um Blockrandbebauung. Um den Garten verläuft eine Mauer mit horizontaler Steinverkleidung und ein Stahlzaun, ganz links neben der Brandmauer des Nachbarhauses ist eine Einfahrt, durch die man bloß in einen kleinen Hinterhof mit einigen Garageneinfahrten kommt.

So fern seine Formen auch davon sind, städtebaulich geht das Gebäude nicht über das 19. Jahrhundert hinaus. Es ist damit durchaus typisch für das kapitalistische Italien der Nachkriegszeit.


Die übrigen Turiner Einzelheiten:

Nebukadnezar in Gdańsk

Das Gebäude Świętego Ducha (Heiliggeiststraße) 121 ist absolut nicht auffällig, eines der typischen wiederaufgebauten Gebäude der Gdańsker Altstadt eben, bis auf den Volutengiebel schmucklos, schmal nur, heute im Erdgeschoß das Pub Duszek. In der Brüstung der vorgesetzten Terrasse, wie sie so auch die Nachbarhäusern und viele andere haben, ist dafür eines der interessantesten barocken Reliefs der Stadt.

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Es befindet sich links der mittigen Treppe und zeigt auf einer mehrfach geschwungenen Fläche im Vordergrund einen Mann auf allen Vieren. Er ist nackt, um seinen Bauch ist ein Band und zwischen seinen Beinen verläuft zu einem Baumstumpf rechts eine Kette. Um ihn sind Tiere, Rinder, links steht eine Gruppe Menschen, die zu ihm blickt, im Hintergrund ist rechts ein großes Haus und links eine vieltürmige Stadt in Hügeln. Hat man die Szene so erfaßt, merkt man, daß der Mann grast, er ist reduziert auf den Status eines Tiers auf dem Hof. Es ist ein starkes Bild von Gefangenschaft, von Folter.

Das entsprechende Relief rechts der Treppe zeigt zwischen Steinen und neben einem Gittertor einen bärtigen Mann in einem antiken Gewand. Um ihn sind viele Löwen sowie Totenschädel, Knochen, ein Brustkorb und in der linken oberen Ecke steht eine Gruppe Menschen an einer Art Geländer. Die Szene wirkt deutlich schwächer als die andere. Der Mann sitzt zu gemütlich, die Löwen sind zu klein. Man spürt keine Todesangst, während man die Erniedrigung im linken Relief umso stärker gespürt hatte.

Wenn man sich mit den alttestamentarischen Vorlagen der beiden Reliefs vertraut gemacht hat, wird man allerdings beide umso überzeugender finden. Das rechte zeigt Daniel in der Löwengrube (Dan 6, 2 – 29), das linke den babylonischen König Nebukadnezar in der Zeit seiner Verrücktheit, als er „aus der Gemeinschaft der Menschen“ verstoßen war und „sich von Gras ernähren [mußte] wie die Ochsen“ (Dan 4, 30). Von ersterer Geschichte hat man auch bei säkularem Halbwissen wohl schon einmal gehört, während man, um die zweite zu kennen, schon recht gut wenigstens mit dem Buch Daniel vertraut sein müßte. Daß das Nebukadnezarrelief ungleich dramatischer als das Danielrelief wirkt, ist nunmehr schlüssig, da Nebukadnezar eben tatsächlich verrückt war und wie ein Ochse graste, während Daniel in der Löwengrube von seinem Gott beschützt wurde und keine Angst haben mußte.

Was der Hausbesitzer sich dabei dachte, als er diese Szenen für seine repräsentative Terrasse wählte, wird man nicht mehr herausfinden, vielleicht war es auch einfacher und er ließ dem Künstler freie Hand: Nimm halt irgendwas aus der Bibel. Es ist ein Glück, daß dieser es nicht bei Daniel beließ, denn den kennt man ja. Mit dem grasenden Nebukadnezar verwandelte er hingegen eine der vielen, vielen eigentümlichen und unbekannten Geschehnisse der Bibel vom Wort zum Bild und setzte es in die Straßen von Gdańsk.

Die junge Tschechoslowakei am Hang – Garage Praga

Auch die Mietshäuser zwischen Sokolovna und hussitischer Kirche in Tábor müssen sich mit der steilen Hanglage arrangieren.

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Sie lösen das allesamt, indem sie direkt an der oberen Straße, der Farského, vier Geschosse und an der unteren, der Budějovická, nur eines mit Läden oder Garagen haben, auf denen dafür große Terrassen oder in einem Fall ein Garten sind; im Prinzip also dieselbe Aufteilung wie bei der Kirche. Allerdings scheinen sie nicht so recht zu wissen, welche Seite denn nun die Vorderseite ist und wo sie also mehr ihrer vor allem aus allerlei Simsen und Streben bestehenden Dekoration aufwenden sollen.

Allansichtig sein zu müssen ist ihnen als Teil der Blockrandbebauung fremd und zuwider, so daß sie eher unentschlossen wirken.

Einzig das Gebäude Praga wendet sich mit aller Entschiedenheit der Budějovická zu. Der höhere Gebäudeteil ist subtil vertikal strukturiert und auf einem Sims stehen zwischen den drei rundbögigen Fenstern des obersten Geschosses vier Männerskulpturen, über denen in einem leicht erhöhten Teil groß der lateinische (oder polnische, italienische etc.) Name von Prag zu lesen ist. Schon das hebt es weithin aus der Häuserzeile heraus, doch noch bedeutender ist der niedrigere Teil.

Über dem großen Tor in der Mitte  wölbt sich die breite abschließende Fläche abgerundet nach oben, während nach vorne eine eckige Plattform herausragt. Auf dieser ruht die Skulptur des vorderen Teils eines Cabriolets mit autosportlich lederbekleidetem Fahrer, der aus dem Bogen, wohl einem Tunnel, herauszukommen scheint.

Von oberhalb des Bogens ragt eine weitere kleine Figur über das Auto, die wie im Sprung nach vorne einen Lorbeerkranz hält, aber sie ist letztlich keine Skulptur, sondern – eine Kühlerfigur, die Kühlerfigur, die dem Auto darunter gerade fehlt.

Unter dem Auto steht am vorderen Rand der Plattform wieder das Wort „Praga“ und auf der Fläche beidseits von ihr in großen Buchstaben jeweils das Wort „Garage“, über das sich vom Auto her stilisierte lange Abgasstreifen legen. Rechts hat sich auch noch der Bildhauer Rudolf Kabeš signiert. Wo die Fläche endet, stehen links und rechts zwei Engelchen und nach einem Geländer mit dicken Streben zwei weitere, wobei unter diesen noch ein stilisierter Reifen und ein Goodyear-Logo im Putz sind.

Die Engelchen tragen Zündkerzen und spätestens jetzt merkt man, daß auch die vier Männer oben an der Fassade Mechaniker darstellen, die am Rand mit zeitgenössischen Werkzeugen und Maschinen, die in der Mitte mit einem kleinen Auto und einem Fahrrad in den Armen.

Hinter dem Tor ist kleiner Hof, wo noch heute Garagen sind und ursprünglich auch eine Garage in der zweiten Bedeutung, eine Autowerkstatt also, war.

Praga ist also vor allem die Garage in der Budějovická und nur nebenbei das Mietshaus in der Farského. Alle Architektur ist gleichsam nur Reklame für die dem modernsten und luxuriösesten Verkehrsmittel, dem Auto, dienende Garage. Man sieht hier, wie wenig Architektur und Kunst im Jahre 1928 bislang die Formen für das automobile Zeitalter gefunden hatten. Wie hoffnungslos veraltet sieht all das neben den Autos, die daran vorbeifahren, aus und sah es schon zwanzig, ach, zehn Jahre nach seiner Erbauung aus. Doch es sind nicht die barockisierenden Engelchen, die am schnellsten alterten, denn die sind immerhin Phantasiegestalten und dadurch irgendwie zeitlos, sondern das gezeigte Auto und sein Fahrer, die allzugut in eine bestimmte Zeit einzuordnen sind. Heute ist die Garage Praga eine Kuriosität, aber eine wertvolle, weil aus dieser frühen Zeit des Autos nicht viel dazugehörige Architektur und noch weniger dazugehörige Kunst übrigblieben.

Zusammen ergeben die Sokolovna, die hussitische Kirche und die Garage am Hang in Tábor ein gutes Bild der jungen Tschechoslowakei. Eigener Staat, eigene Religion und entschiedenste Modernität, so sah sie sich selbst gerne.

Die junge Tschechoslowakei am Hang – Sokolovna und hussitische Kirche

Die vom Bahnhofsvorplatz in sanfter Steigung und sanftem Fall zur Altstadt führende 9. Května (Straße des 9. Mai) ist die natürliche Hauptstraße von Tábor, seit es über die mittelalterlichen Grenzen hinausgewachsen ist. Als Stadtplanung des 19. Jahrhunderts ist sie so gut, wie sie eben sein kann, und auch jede denkbare fortschrittlichere Alternative würde zumindest ihren Verlauf übernehmen. An ihrem höchsten Punkt steht ein k.k.-Schulgebäude, das groß, weiß, historistisch die Staatsmacht repräsentiert, wobei diese örtlich schon lange tschechisch bestimmt war. Als städtischer Organismus war die Straße gegen 1900 fertig, auch wenn selbstverständlich noch später Teile der Blockrandbebauung neu errichtet oder Fassaden verändert wurden. Was dem tschechoslowakischen Staat beziehungsweise seinen Vorbereiterorganisationen wichtig war, mußte daher in die Seitenstraßen.

Das erste war noch zur österreichischen Zeit im Jahre 1903 die Sokolovna, wie die Versammlungsgebäude des tschechischen Turn- und Kultursvereins Sokol (Falke) heißen. Sie steht am Ende einer kurzen links von der 9. Května abzweigenden Straße, die beinahe wie ein kleiner Platz wirkt, und ist ein überladener historistischer Bau mit drei Geschossen, der wie andere Sokolovny dieser Zeit viel zu viel Tschechisch-Nationales aussagen will.

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Um zu verstehen, wieso sie dennoch bereits ein wichtiger Bau ist, muß man rechts neben ihr die Treppen zur Budějovická (Budějovicer Straße) hinabgehen. Auch hier hat die die Sokolovna drei Geschosse, doch der Höhenunterschied zwischen den beiden Straßen ist so groß, daß das dritte Geschoß hier die die Fortsetzung des ersten von oben ist. Man sieht, daß die Architekten mit der Hanglage rein gar nichts anzufangen wußten, ihnen aber immerhin bewußt war, daß das Gebäude, wie im übrigen auch eine freistehende Sokolovna auf ebenem Gelände, zu beiden Straßen Fassaden haben muß.

Das zweite Gebäude ist ein sbor (wörtlich Chor), wie die hussitische Kirche, die ursprünglich als církev československá (tschechoslowakische Kirche) noch stärker ihre intendierte staatsoffizielle Rolle betonte, ihre Gotteshäuser nennt. Dieser heißt als „Sbor božích bojovníků“ nach „göttlichen Kämpfern“ oder einfach „Gotteskriegern“, eine gängige Bezeichnung für die Hussiten. Genau wie ein unehrlicher Islamist oder ein trauriger liberaler Muslim heute vielleicht behaupten würde, daß Jihad ja gar nichts mit Krieg zu tun habe, würde vielleicht auch ein heutiger hussitischer Geistlicher die Radikalität dieses Namens abzumildern suchen, aber die Erbauer der Kirche wußten genau, was sie sagen wollten: die Hussiten waren Gotteskrieger, die von Tábor aus halb Europa in Angst und Schrecken versetzt hatten, und das war etwas Gutes. Von Nutzen war diese kämpferische Tradition bei der Eröffnung Mitte 1939, als der tschechoslowakische Staat gerade von den Deutschen zerschlagen worden war, allerdings erst einmal nicht.

Das Gebäude bedient sich einer schnörkellos weißen funktionalistischen Architektur wie viele solcher Kirchen. Vom Platz ist durch eine Seitenstraße links der hohe und schlanke Turm zu sehen. Er beginnt öffnungslos auf quadratischem Grundriß, wird oben, wo er vor Lamellen zu allen Seiten kupferne Kreuze hat, schmaler und endet mit einem großen kupfernen Kelch, dem zentralen Symbol des Hussitentums.

Das Gebäude am Ende der kurzen Seitenstraße hat nur im oberen der zwei Geschosse große Fenster und keinerlei monumentalen Elemente. Dafür wächst es geradezu aus den angrenzenden viergeschossigen tschechoslowakischen Mietshäusern in der Farského (Pfarrstraße), der Parallelstraße zur 9. Května, die von der Sokolovna herkommt, heraus. Aus dem Sims unter dem dritten Geschoß der links daneben stehenden Pfarrei wird das leicht überstehende Dach der Kirche.

Erst von der unteren Straße, der Budějovická, die man wiederum über eine Treppe rechts neben der Kirche erreicht, versteht man, wieso der Turm gerade in der äußersten Ecke des Gebäudes angeordnet wurde. Er richtet sich nämlich nur nebenbei an de Platz, hat vordringlich aber weit größere Ziele: die alte, einst hussitische Altstadt und deren nunmehr katholischen Kirchturm.

In der Sichtachse der engen Straße kann man beide Türme direkt nebeneinander sehen und, eckig, weiß, mit kupfergrünem Abschluß, scheinen sie einander sogar durchaus verwandt.

Wichtiger noch ist, daß man den Turm genau in der Mitte des Blickfelds hat, wenn man in der Altstadt Richtung 9. Května geht. Wiewohl recht weit entfernt und wiewohl nicht höher als normale Häuser, hat der Turm somit allein durch seine Lage eine erstaunliche Reichweite.

Das dazugehörige Gebäude ist zur Budějovická deutlich höher und monumentaler als zur Farského und erstreckt sich auch noch vor der Pfarrei. Die weißen Wände sind durch schmale vertikale Streifen mit Glasbausteinen und vertikale Streben strukturiert, die vor einer großen Dachterrasse weiter aufragen und von horizontalen Balken erst als Geländern und dann als Abschluß gequert werden.

Bei aller funktionalistischen Einfachheit entsteht so eine gotische Struktur, wiederum wie bei der Kirche in der Altstadt. In diesem unteren Raum allerdings ist nicht die Kirche, sondern: das Kolumbarium, die Aufbewahrungsstätte für Urnen. Wie man sieht war die von den Katholiken abgelehnte Feuerbestattung für die hussitische Kirche wie für die junge Tschechoslowakei insgesamt sehr wichtig. Auf unerwartete Art wird hier zudem die Tradition von bei der Kirche liegenden Friedhöfen oder gar von Katakomben wiederbelebt.

In den seit dem Bau der Sokolovna vergangenen sechsunddreißig Jahren hatten die Architekten also gelernt, auf kreative Weise mit der Hanglage umzugehen und ein vielseitiges Gebäude wie diese Kirche hineinzusetzen. Eine neue Zeit hatte begonnen.

Košljun

Nach Košljun waren wir zweimal gefahren.

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Das erste Mal war es die erste Fahrt mit dem gemieteten Kajak, dessen grüne Farbe Robert gewählt hatte und das „Iris“ zu taufen uns erst nachträglich eingefallen war. Als wir auf der Klosterinsel ankamen, hieß uns ein alter Mann von der Kasse her, unsere Oberkörper zu bedecken, was recht ironisch war, da seine Mitfranziskaner direkt daneben ebenso halbnackt im Meer badeten. Da wir kein Geld dabeihatten, blieb uns nichts anderes, als um die Insel herum zum Zeltplatz am Rande von Punat zu fahren. Als wir wieder ankamen, war der Mann nicht da und wir sparten uns das Eintrittsgeld. „Karma“, meinte Robert, „der heilige Franziskus“, sagte ich.

Jetzt hatten wir Košljun für uns, die kleine, fast kreisrunde Insel in der Bucht von Punat auf der Insel Krk an der kroatischen Adriaküste.

Einen perfekteren Ort für irgendeine Art von Befestigung oder Herrschersitz kann es kaum geben und so ist hier also ein Franziskanerkloster, das weit ältere Klostertraditionen fortsetzt.

Von der Anlegestelle an der meeresabgewandten Seite führt ein gerader Weg auf den Klosterkomplex zu.

Wohngebäude links, andere rechts, die Kirche mit Turm geradeaus und in der Mitte der quadratische Kreuzgang, der alles zusammenfaßt und verbindet. In seinen regelmäßigen schmucklosen Rundbögen und dem mittigen Brunnen erst ist die bis auf die Renaissance zurückgehende, aber eigentlich alterslose Architektur mehr als bloße Mauern und rote Dächer, hier erst verwandelt sich der allgegenwärtige Stein von Krk.

Der Kreuzgang ist wirklich Herz des Klosters, nicht nur Anhängsel, sondern funktionaler Kern, von dem alles andere erschlossen ist, still und friedlich auf der stillen und friedlichen Insel.

Robert fühlte sich im Kreuzgang an „Game of Thrones“ und Kings‘ Landing erinnert, ich hatte ob der geschnitzten Querbalken unter dem Satteldach der Kirche skandinavische Assoziationen.

Im Kreuzgang und in der Kirche sind alte Gräber mit lateinischen Inschriften, aber ansonsten ist die meiste künstlerische Ausstattung eher medioker. Weshalb eine Kopie der altkirchenslawisch beschrifteten Bašćanska ploča (Baškaer Tafel), die aus der Stadt Baška im Süden von Krk stammt und in Zagreb aufbewahrt wird,  in den Kreuzgang gestellt wurde, ist unklar. Bei der Anlegestelle steht eine neue Plastik des heiligen Franziskus mit einem Hund, in der Kirche mischt sich Barock mit teils sehr Neuem und in zwei Kapellen des Kreuzwegs sind Wandbilder aus den Siebzigern, die in einem kitschig realistischen Stil Religiöses wie tatsächliche Mönche der Zeit zeigen und sicher von einem von ihnen stammen.

Abgeschiedenheit, sieht man hier, ist künstlerischer Qualität oder Geschmack nicht zuträglich.

Aber da ist die Insel selbst. Sie ist von urwaldartig dichtem Wald, durch den vielerlei Pfade führen, bedeckt. Man spürt, daß sich die Vegetation hier anders als auf dem übrigen Krk ungestört entwickeln konnte, schon von dort besehen ist sie grüner als die steinigen Hänge der Bucht.

Am Rande sind niedrigere Sträucher und als Abschluß eine Mauer aus gestapelten Steinen, die mehr gegen die Gezeiten als gegen eventuelle ungebetene Besucher schützen soll.

Darüber, welche Abenteuer die örtliche Jugend mit der nahen und doch abgeschiedenen Klosterinsel erleben kann, spekulierten wir beim Schlendern durch den Wald viel.

An der Rückseite des Klosterkomplexes ist der Friedhof. Zu den ältesten und faszinierendsten der erhaltenen Grabsteine gehören zwei Gräber von Frauen, was auf der Insel eines Männerklosters erst einmal überrascht; sie sind den Müttern von Mönchen gewidmet sind.

Das Grab der Margerita Vitezić von 1859 ist auf serbokroatisch, das der Luigia Fischthaler von 1877 ist italienisch beschriftet, was zugleich ein Hinweis auf die damaligen Nationalitätenverhältnisse im Kloster ist.

An der Wand hängt ein großes Mosaik in Blautönen mit abstrakten Formen. Zwar hat es einen kreuzförmigen Umriß, aber ansonsten ist der Inhalt mit einem T-Kreuz, einem kleinen Gesicht im Profil und einem Hasen (?) nur vage religiös und erinnert etwa an die Weltraummosaike im Bahnhof von Cheb. Seitlich neben ihm hängen weitere Mosaiken mit einigen Zeilen aus Franz von Assisis Sonnengesang in Altkirchenslawisch und Serbokroatisch in lateinischen Buchstaben, während darunter ein RIP für all die hier begrabenen Mönche steht.

„Gelobt seist Du, mein Herr, durch alle deine Geschöpfe. Gelobt seist Du, mein Herr, durch unsere Schwester, den körperlichen Tod, dem kein Sterblicher entgehen kann. Selig, wen du durch deinen heiligsten Willen aufnimmst.“

Daß das Altkirchenslawische, eine ansonsten nur noch in der orthodoxen Liturgie gebrauchte Sprache, hier von einem katholischen Kloster gepflegt wurde, ist vielleicht die größte Überraschung auf der Insel. Zudem rettet es die Ehre des Klosters, daß es sich hier mit ein wenig  jugoslawischer Kunst höherer Qualität aus den sechziger oder siebziger Jahren schmückte.

Als wir Košljun zum zweiten und letzten Mal verließen und es hinter uns kleiner werden sahen, waren wir so zufrieden, wie wir es nach nur einem Besuch nie gewesen wären.

Schuttershof

Wenn man das zehngeschossige Punkthaus Schuttershof in Bergen op Zoom über die Senke der Bahnstrecke sieht, könnte man fast meinen, daß es aus bloßem Beton besteht, was recht niederlanduntypisch wäre.

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Von Nahem sieht man, daß es tatsächlich weißgrauer Backstein ist.

Doch auch der Typus des Punkthauses ist eher ungewöhnlich, da er keine Erschließung durch Laubengänge, keine Stapelung von Reihenhäusern, wie sie in den Niederlanden das Wohnideal sind, erlaubt. Bei diesem hat auf etwa quadratischem Grundriß jede Seite eine linke Hälfte mit Backstein und kleinen Fenstern und eine die Ecke öffnende rechte mit blaugeländrigen Balkonen vor Glasflächen.

Das Punkthaus Schuttershof (Schützenhof, benannt nach einem alten Bauernhof) will mit dieser Architektur offenkundig nicht weiter auffallen und wenn man sich ihm auf der jenseits der Gleise abzweigenden Augustalaan (Augusta-Allee) nähert, ist es zusätzlich versteckt hinter Bäumen, die seit seiner Erbauung in den Siebzigern Zeit hatten, hoch zu wachsen. Es scheint auch allein zu stehen, doch das täuscht.

Tatsächlich schließt sich an das Punkthaus eine ausgedehnte Wohnanlage mit Einfamilienhäusern an. Neben der Augustalaan sieht man bloß einige gedrungene Flachbauten und man kann sie entlanggehen, ohne viel mehr als die quer gesetzten Garagenhöfe zu bemerken.

Die eigentliche Bebauung erstreckt sich am Hang unterhalb der Straße. Es sind Häuser, die dem einfachen Stil des Punkthauses entsprechen, kubische Formen, flache Dächer, weißgrauer Backstein, Glas, weißes Holz.

Durch die Hanglage hat jedes der Häuser eineinhalb oder zwei Geschosse, kann aber oft flach beginnen. Es entsteht eine komplizierte und verschachtelte Struktur, die nicht leicht zu erfassen und zu beschreiben ist. Da die Häuser miteinander verbunden, aber gewiß nicht aufgereiht sind, ist auch fraglich, ob man von Reihenhäusern sprechen soll.

Zur Erschließung der Häuser verläuft durch die Wohnanlage ein verschlungenes Wegenetz. Mal sind es enge Gassen, nur das Weißgrau der Wände und das Grün hoher Hecken, aus denen man zum Punkthaus als einem Orientierungspunkt blickt.

Mal sind es in sanften Stufen abfallende Plätze mit Beeten, die halb öffentliche Grünflächen und halb Vorgärten der hierher geöffneten Häuser sind.

Und dann gibt es Treppen.

Überall anders wäre das normal, doch dies sind die Niederlande und die sind flach. Zwischen niederländischen Häusern gibt es normalerweise keine Treppen, denn sie stehen nicht am Hang, weil es keine Hänge gibt. Man muß sich bewußt machen, daß diese Wohnanlage, die am Rande der Stadt einen Hang zur halbwegs offenen Landschaft hinabfließt, allein durch die topographischen Bedingungen etwas äußerst Ungewöhnliches für die Niederlande ist.

Es kann daher wirken, als habe sich ein Architekt an dieser Lage gleichsam ausgetobt. Er baute niederländischste Architektur in unniederländischster Landschaft. Vielleicht deshalb ist auch etwas Südliches in diesen Gassen, Plätzen und Treppen.

Zweifelsohne gewinnt die Reihenhausarchitektur durch die Hanglage, weist schon eher auf Terrassenhäuser voraus. Punkthaus und terrassierte Einfamilienhäuser stehen in Schuttershof nebeneinander, was nicht wenig ist, die Aufgabe der folgenden fortschrittlichen Architektur der Stadt wäre es, sie zusammenzufügen. Der Schuttershof ist immerhin die fortschrittlichste Anlage der Stadt. Nebenbei hilft die Betrachtung seiner Lage am Hang auch zu erklären, woher Bergen op Zoom seinen Namen hat und was Noord-Brabant (Nord-Brabant), wo es liegt, von Holland unterscheidet.

Das Schönste in Iași

Korrektur: Der Text entsprach zwar zum Zeitpunkt seiner Abfassung Ende 2018 den Tatsachen, nicht aber zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung, denn seit dem 13. September 2019 gibt es auch im Palas-Einkaufszentrum einen McDonald’s.

Die McDonald’s-Situation in Iași ist eigentümlich. Es gibt einen in der Iulius Mall im Südosten der Stadt und einen weiteren beim Bahnhof im Nordwesten.

Das Einkaufszentrum Iulius Mall liegt einer großen Kreuzung bei den Fakultäten und Wohnheimen der Technischen Universität am Bahlui in einem durchaus städtischen Bereich, aber auch nicht zentral. Wiewohl im Jahre 2000 eröffnet, mithin nicht sehr alt, wirkt es wie aus einer fernen Zeit. Außen hat es zumeist eine Verkleidung aus weißen Quadraten, deren Ecken teils hochgeklappt sind, so daß eine hübsch bewegte Fassade wie bei einem sozialistischen Kaufhaus aus den Siebzigern entsteht.

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Innen ist es so eng und verwinkelt, so weit von westlichen Moden auch vor zwanzig Jahren entfernt, daß es wiederum an die Siebziger erinnert. Wie im Westberliner Europacenter etwa gibt es ein Restaurant über einem Wasserbassin. Wenn eine hohe rotbräunlich verkleidete Wand unter dem einfachen Glasdach Wasser herunterläuft, sieht das nur halb wie ein aufwendiger, etwas altmodischer Zierbrunnen und halb wie ein Wasserschaden aus. Hier, im engen Food Court, ist der McDonald’s.

Der McDonald’s beim Bahnhof ist ein sofort erkennbares Standardgebäude seiner Zeit mit hutartigem Walmdach und McDrive, völlig gleichgültig gegenüber seiner Umgebung, aber zugleich gut passend, da auf dem Bahnhofsvorplatz viel Platz ist.

Er war, 1998 eröffnet, der erste und bleibt das Flaggschiff der Iașier McDonald’s (tatsächlich gehört zum Kinderspielbereich etwas, das wie ein Schiff aussieht).

Keinen McDonald’s gibt es im Zentrum von Iași, das grob gesagt zwischen den beiden Filialen liegt. So schön die Vorstellung eines McDonald’s in einem der Pavillons des Piața Unirii (Platzes der Vereinigung), einer Vereinigung von Kapitalismus und Sozialismus also, auch wäre, sollte das dort vielleicht nicht überraschen. Doch daß es auch im Einkaufszentrum Palas keinen McDonald’s gibt, ist schlichtweg unfaßbar, ist es doch ein genuin kapitalistischer Ort, der geradezu danach verlangt.

Vielleicht ist das jedoch auch Absicht. Im Food Court von Palas gibt es unzählige einheimische Ketten, an einer Ecke unten einen Subway, aber schon KFC ist merkwürdig versteckt und unbeworben bei einer Rückseite, wo auch ein Drive Thru ist.

Man sieht dort ein durchaus anderes Publikum als im Food Court, keine Büroangestellten mehr, eher die, die die Büros putzen, oder aber Bewohner der umliegenden Dörfer auf Stadtbesuch, viele Roma auch. Das liegt übrigens nicht an den Preisen, die ähnlich sind. Vielleicht ist McDonald’s einfach zu demokratisch, zu egalitär für den heutigen Kapitalismus, der davon lebt, Scheindistinktion zu verkaufen und sich in Palas so gut verkörpert. Schon mit McDonald’s war der Kapitalismus schlimm genug, doch wenn einer der kapitalistischsten Orte, die man sich vorstellen kann, keinen McDonald’s hat, gibt es endgültig nichts Schönes mehr am Kapitalismus.

Um das Schönste in Iași zu sehen, muß man also an die Ränder gehen. Man kann dort all das Übliche und Vertraute essen und deshalb, für das beruhigende Gefühl, zu Hause zu sein, besucht man McDonald’s ja. Es gibt aber auch ein spezifisch rumänisches Produkt, nicht als spezielle Aktion, sondern im ständigen Angebot. Hinter dem nüchtern deskriptiven Namen „Sandviș cu porc și sos de hrean“ (Schweinfleischsandwich mit Meerettichsauce) verbirgt sich der vielleicht beste McDonald’s-Burger überhaupt.

Er ist genau, was sein Name verspricht und die Schweinefleischfrikadelle, die Sauce, die mit nichts anderem bei McDonald’s zu vergleichen ist, und einige Zwiebelschnitze und Essiggurken ergeben ein großartiges Gericht. Allein schon dafür lohnen sich die weitesten Wege.

Ein Turm für Turin

Selten ist es bei Architekturwettbewerben so, daß sofort klar ist, welcher Entwurf gewinnen muß, eher ist es ein kompliziertes Abwägen vielfältiger Details. Aber es gibt Ausnahmen wie den Wettbewerb für ein neues Gebäude auf dem nordböhmischen Berg Ještěd im Jahre 1963. Während alle anderen Entwürfe ein irgendwie geartetes Nebeneinander von Fernsehturm und Hotel vorschlugen, faßte Karel Hubáčeks Siegerentwurf beides zu einer einfachen und ikonischen, aber schwer zu beschreibenden hyperboloiden Form zusammen, die den Berg vervollständigte und zwangsläufig zum Wahrzeichen von Liberec wurde. Es ist kaum vorstellbar, daß jemand die Auswahl (ein paar noch zu betrachten auf dieser Seite) sah, ohne sofort zu erkennen, wer gewinnen mußte.

Aus Autorenkollektiv: Nordböhmen, Praha 1981

Ähnlich war es bei dem Wettbewerb für einen neuen Torre Civica (Stadtturm), den die norditalienische Stadt Turin im Jahre 1788 veranstaltete. Fast alle Entwürfe schlagen irgendwelche Türme mit mehr oder weniger vielen Säulen, Ornamenten, Geschossen, Skulpturen vor, die teils noch ganz barock, teils schon klassizistisch sind, aber immer Türme, die nichts grundsätzlich von denen in anderen Städten oder auch nur vom alten Turiner Torre Civica unterscheidet (zu betrachten hier). Anders der Entwurf von Arnolfo Spagnolini. Er ist entschieden klassizistisch: Auf einem bis auf die Tür öffnungslosen steinverkleidetem Sockel, den bloß wenige einfache Relieffiguren schmücken, und einem Band mit mittiger Uhr erhebt sich eine hohe Säule, um die sich ein Relief spiralförmig nach oben zieht. Aber noch um diese Säule verläuft eine große spiralförmige Wendeltreppe mit hohen rundbögigen Arkaden. Der ganze Turm ist eine Spirale.

Aus Manzo, Luciana u. Peirone, Fulvio (Hg.): C’era una volta una torre, Torino 2009 (Bilder zum Vergrößern anklicken)

Spagnolini löste damit das Problem der antiken Triumphsäulen und ihrer barocken Nachahmungen wie etwa vor der Wiener Karlskirche: daß ihre Reliefs nicht zu betrachten sind. Nach dem Spiralteil folgt ein offenes Arkadengeschoß für die Glocken, von wo eine kleinere Wendeltreppe im Inneren ins oberste Geschoß führt. Diese „vero Bel Vedere“ (wahre Gute Aussicht)  ist völlig frei und offen bis auf die schlanken korinthischen Säulen am Rande ihrer runden Fläche, die die Turmhaube, eine von einer Kugel abgeschlossene Kegelform mit flügelartig hervorstehenden Elementen als einzigem Schnörkel, tragen.

Aus Manzo, Luciana u. Peirone, Fulvio (Hg.): C’era una volta una torre, Torino 2009

Neben der schlichten Radikalität von Spagnolinis Spiralturm nehmen sich all die anderen Entwürfe so unendlich altmodisch aus wie die für den Ještěd neben Hubáčeks Hyperboloidturm. Indem er die Treppe nach außen legte, macht es das Besteigen des Turms zum Erlebnis. Aus der Dunkelheit des Sockels tritt man in die Spirale, die Reliefs zeigen die glorifizierte Geschichte von Turin, während das echte nach und nach um einen sichtbar wird, und dann, nach einem kurzen Moment der Dunkelheit, steht man oben auf der offenen Aussichtsplattform, wo nichts mehr ist als die Stadt und die Landschaft unter einem.

Aus Manzo, Luciana u. Peirone, Fulvio (Hg.): C’era una volta una torre, Torino 2009

Auf der Kugel auf der Turmspitze sollte laut Spagnolini der Stier, Turins Wappentier, stehen. Daß er, anders als alle anderen Entwürfe, selbst keine Form für dieses krönende Kunstwerk vorschlug, zeugt von Bescheidenheit und einem durchaus modernen Verständnis für Arbeitsteilung; darum soll sich ein Künstler kümmern, er fand ja schon die architektonische Lösung.

Anders als Hubáčeks Entwurf in Liberec wurde Spagnolinis in Turin nie ausgeführt. Nicht einmal ein Sieger für den Wettbewerb wurde je gekürt. In Folge der französischen Revolution, die seit 1798 auch französische Herrschaft bedeutete, hatte Turin andere Sorgen. Danach brauchte die Stadt, obwohl 1801 der alte Torre Civica abgerissen worden war, keinen Turm mehr, da sie dank dem beginnenden Kapitalismus rasant wuchs und er ohnedies nicht weit genug sichtbar oder seine Glocken weit genug hörbar gewesen wären. Erst hundert Jahre später baute sich Turin mit der Mole Antonelliana wieder einen Turm, der zwar höher als 1788 vorstellbar, aber für die Stadt doch letztlich zu klein und deshalb unwichtig war. Und außer der Größe hat die Mole den Plänen von Spagnolini für den neuen Torre Civica auch nichts voraus.

Was Arnolfo Spagnolini entwarf, bleibt heute so bewundernswert und vorbildlich radikal wie damals. Wäre die Geschichte ein wenig anders verlaufen, hätte etwa die französische Revolution ein Jahrzehnt später stattgefunden, und hätten die Verantwortlichen in Turin so viel Weitsicht bewiesen wie 1964 die in Liberec, wären mithin eine unmögliche und eine unsichere Bedingung erfüllt, die Stadt hätte ein Wahrzeichen mehr.

Olsztyner Höhepunkte: Bahnhof

Der dritte der Olszytner Höhepunkte neben Planetarium und Sowjetischem Ehrenmal empfängt den Besucher sofort, wenn er die Stadt per Zug oder Bus erreicht: der Bahnhof.

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Er besteht aus zwei einfachen zweigeschossigen Teilen, die im rechten Winkel aneinandergefügt sind und sich mit großen, fast durchgängigen Fensterfronten zum Vorplatz öffnen.

Über dem ersten Teil, der nur ganz links eine Wandfläche aus Beton und über den beiden Eingängen dünne aufsteigende Vordächer hat, steht in blauen Leuchtbuchstaben „Dworzec kolejowy“ (Zugbahnhof) und über dem zweiten, der nach links geschlossene Wandflächen im Erdgeschoß und Glas im Obergeschoß hat, „Dworzec autobusowy“ (Autobusbahnhof).

Dazu kommt vor dem Abschluß des zweiten Teils ein elfgeschossiges Hochhaus, das mit diesem im zweiten Geschoß durch einen Brückentrakt verbunden ist. Es hat einen rechteckigen Grundriß, dessen Breitseiten parallel zum zweiten Bahnhofsteil verlaufen. Die ersten beiden Geschosse sind etwas zurückgesetzt und unter der einen Schmalseite mit zwei eckigen Stützen geöffnet, was genau der Höhe des Bahnhofsgebäudes entspricht und einen optischen Übergang von diesem zum Hochhaus schafft. Die neun oberen Geschosse haben Fensterbänder, die kurz vor den Enden der Breitseiten von vertikalen Streben unterbrochen sind. Die Verkleidung unter den Fenstern ist in der so entstehenden Mitte blau und an den Ecken weiß gestrichen.

Parallel zum ersten Teil des Bahnhofs verlaufen die Gleise und von den Bahnsteigen gelangt man durch einen breiten Tunnel und eine Treppe in die langgestreckte helle Bahnhofshalle.

Auf dem Boden sind quadratische Platten aus unregelmäßigen grauen Steinstücken und auch sonst dominiert Stein und Grau. An der Schmalseite über der Treppe, deren quadratischen Verkleidungsplatten aus gemasertem glatten Stein in Schwarz und Rot sind, hängt eine große mechanische Anzeigetafel mit den Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge und eine ziffernlose Uhr.

An der Breitseite gegenüber der Fensterfront ist über den Öffnungen der vielen Fahrkartenschalter roher grauer Beton, auf dem eine große Uhr mit blauem Feld und weißen Ziffern und Zeigern hängt. Abgeschlossen wird dieser Bereich nach rechts von einem raumhohen vertikalen Band mit unregelmäßig horizontal angebrachten Streifen von Steinen in verschiedenen Mustern und Färbungen.

Hinter dem zweiten Teil des Bahnhofs ist der weite Halteplatz für regionale Busse. Parallel zum gesamten Gebäude verläuft ein Bahnsteindach aus Beton, dessen beidseits ansteigende weiße Fläche auf roten leicht abgerundeten und nach oben verbreiterten Stützen ruht. Ein Zwischendach verbindet es  mit der Halle des Busbahnhofs, die etwa quadratisch ist.

Links stehen über den Schaltern die verschiedenen Zielorte und Abfahrtszeiten, rechts führt eine Treppe vor einer Wand mit verschiedenen Steinplatten nach oben. Die übrige Gestaltung entspricht der Halle des Zugbahnhofs.

Das ist Olsztyns Bahnhof, der durch reine Funktionalität zum städtischen Höhepunkt wird. Zug- und Autobusbahnhof sind in einem Gebäude zusammengefaßt und beide zur Stadt geöffnet. Auf dem Vorplatz können Taxis oder Autos Reisende abholen oder hinbringen, am Hochhaus vorbei gelangen sie zur Straßenbahnhaltestelle in der Mitte der großen vorbeiführenden Straße. Damit der Bahnhof nicht allein ist, schenkte ihm das sozialistische Polen ein langes zehngeschossiges Wohngebäude mit Läden im Erdgeschoß direkt gegenüber und ein neungeschossiges Hotel weiter rechts.

Links von ersterem öffnet sich eine die breite Dworcowa (Bahnhofsstraße), die mit fortschrittlicher Wohnbebauung weit in die neuen Wohngebiete hineinführt, während rechts zwischen beiden eine ältere Mietskasernenstraße beginnt, die ins alte Zentrum führt. So wird der Bahnhof ganz zum Tor in die Stadt, während sein Hochhaus von dieser aus gesehen wie ein Turm in der Achse der beiden Straßen steht.

Als er 1971 eröffnet wurde, war Olsztyns Bahnhof der modernste in Polen und Stolz seiner Stadt. Heute ist er von den drei Olsztyner Höhepunkten leider der bedrohteste.

Der Durchgang unter dem Brückentrakt ist abgesperrt, in der Zugbahnhofshalle sind die unteren Teile der Glasfronten mit Ladenbuden zugebaut, in der Busbahnhofshalle ist an der Wand hinter der Treppe Graffiti und in den Bereichen zwischen beiden, wo einst Wartesäle und Restaurants waren, ist nun eine dunkle und halb leerstehende Ladenpassage.

Auch, daß die mechanischen Anzeigetafeln nicht gegen kleinere und störanfälligere Bildschirme ausgetauscht wurden, zeugt leider nicht von Verständnis für den Wert dieser Technik, sondern von Vernachlässigung. In der Tür zum Busbahnsteig hängen schon Pläne für einen neuen „Bahnhof“, der selbstverständlich ein Einkaufszentrum sein soll. Noch ist die Zukunft des Bahnhofs aber unklar und es bleibt zu hoffen, daß sich Olsztyn nicht in selbstzerstörerischer Manier dieses Höhepunkts beraubt.