In keinem Land der Welt ist das Wandern beliebter und in keinem Land der Welt gibt es ein dichteres und besser beschildertes Netz von Wanderwegen als in Tschechien, wobei das eine das andere in gewissem Maße bedingt. Große und detaillierte Wanderkarten gibt es im Zentrum jedes Orts, bei jedem Bahnhof und an vielen anderen Stellen, manchmal mitten im Wald. Es ist deshalb nicht überraschend, daß gerade in Tschechien Landkarten in funktionale Kunstwerke verwandelt wurden.
Auf dem Platz in Hostinné wird es zweifelsohne der kleine Rathausturm mit seinen beiden riesigen Figuren und der Pendeluhr, faszinierend bizarren Werken der Renaissance beziehungsweise des Barock, sein, der die Blicke auf sich zieht, doch es lohnt, auch in den direkt dahinter gelegenen Teil der Arkaden zu blicken.
In einem großen Kasten ist dort eine Karte der gesamten Krkonoše (des Riesengebirges) an der polnisch-tschechischen Grenze, in dessen niedrigen Vorhügeln Hostinné liegt, aber keine vertraut flache, sondern eine dreidimensionale.
Hinter einer Glasfläche wölbt sich die Karte als äußerst detailliertes Relief, in dessen Vertiefungen und Erhöhungen, Tälern und Bergen oder Hügeln, jeder Ort, jede Straße und jede Bahnlinie eingezeichnet ist.
Alle Informationen einer konventionellen Karte sind da, aber außerdem gibt sie eine Information, die keine von ihnen, auch kein mapy.cz oder Google Maps, auch keine dreidimensionale Computeranimation je geben könnte: das Gefühl für die Höhenunterschiede.
Was ein Gebirge ist, bleibt auf einer normalen Karte zu abstrakt, und wird auf einer Wanderung zu konkret, hier hinter dem Rathausturm in Hostinné aber steht man vor der Landschaft wie ein Gott oder ein Riese es tun würden. Doch selbst dieser Vergleich oder der mit dem Blick aus einem Fluggefährt passen nur halb, da es eben doch eine Karte ist, übersichtlicher und klarer, als es eine echte Landschaft aus egal welcher Perspektive sein kann, zudem beschriftet und annotiert. Die Reliefkarte ergänzt die Kenntnis der Landschaft um eine Übersicht bei gleichzeitiger Plastizität, von denen man zuvor nicht einmal wußte, daß sie einem fehlen. Man sieht die Krkonoše hier wie man sie nirgends sonst sieht und man versteht sie besser, nachdem man sie so gesehen hat.
Auch am Bahnhof von Jičín wird man die fortschrittliche Architektur von 1936, die Landschaftsbilder in der Halle oder die Skulptur über dem Eingang wohl vor der Reliefkarte in der Bahnsteigwand sehen, aber auch hier verdient sie ebensoviel Aufmerksamkeit.
Ihr Maßstab ist kleiner, die dargestellt Landschaft des Český Ráj (Böhmischen Paradieses) und des Podkrkonoší (Krkonoševorlands), in der Jičín liegt, lieblicher und ohne extreme Höhenunterschiede, aber der Effekt des nie vermißten neuen Blicks ist derselbe wie bei der Karte der Krkonoše.
Zudem sind hier sogar die Wanderwege eingezeichnet, was die Karte auch zum vollwertigen Ersatz für die Wanderkarten an anderen Bahnhöfen macht.
Aktuell sind sie auf dem Stande von 1968, als die in der Entstehungszeit des Bahnhofs von František Šalda und Jaroslav Havelka geschaffene Karte erneuert wurde.
Daß sie im halben Jahrhundert seither unverändert blieb wie auch, daß es sogar im wanderliebenden Tschechien nur wenige solcher Karten gibt, wird durch den enormen wissenschaftlichen wie künstlerischen Aufwand ihrer Herstellung zu erklären sein. Das macht sie nur noch wertvoller und für jeden Ort erstrebenswerter, denn solange es die aus Filmen bekannten Hologramme nicht gibt, wird nichts Landschaften so gut erlebbar machen wie sie.