Odessa empfängt den Reisenden mit einem riesigen kuppelgekrönten Bahnhof. Lange Bahnsteige führen entlang der endenden Gleise darauf zu. Links begrenzt ein niedrigerer Bauteil mit Arkaden das Bahnhofsareal und zwingt den Blick noch stärker aufs Hauptgebäude mit seinen hohen Pilastern, seinen großen rundbögigen Fenstern und seiner Kuppel.
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Große blaue Leuchtbuchstaben auf dem Dach begrüßen auf Ukrainisch in der Heldenstadt Одеса (Odesa), während etwas niedriger neben dem russischen Namen der Stadt, Одесса (Odessa), die den Heldenstädten verliehenen Orden sind, als sollten sie dem Bahnhof stellvertretend für die Stadt angeheftet werden.
Da paßt es, daß die hübsche sowjetische Bezeichnung die Stadt personalisiert und genauer übersetzt „Stadt-Held“ hieße. Das Nebeneinander der beiden Sprachen jedenfalls erzählt schon von den jüngst so blutig ausbrechenden Schizophrenien der Ukraine.
Der Orden ist der klarste Hinweis darauf, daß der Bahnhof ein stalinistischer Bau von 1952 und kein fünfzig Jahre älterer zaristischer ist. Doch stalinistische Architektur, so reaktionär sie war, konnte zugunsten von Prunk nicht ganz auf Funktionalität verzichten, und so ist der riesigen Kuppelhalle mit dem Kronleuchter ein zweites, ebenfalls hohes Geschoß eingezogen, wo ein ausgedehnter Wartebereich ist. Über den halb ionischen, halb palmblättrigen Kapitellen sind dort auf den Balken der Kassettendecke fünfzackige Sterne und weit oben an den Wänden hängen Bronzereliefs eines roten Soldaten und Matrosen und Ölgemälde mit Szenen aus der revolutionären Geschichte der Stadt, die den Blicken der Menschen so fern sind wie die Allegorien oder Herrscherbilder in älteren Bahnhöfen es waren. In der hohen Kassenhalle links, wo oben ebenfalls ein roter Soldat und ein roter Matrose aufgemalt sind, werden Hammer und Sichel, die Symbole der Sowjetmacht, als Teile der Kapitelle zu bloßen Ornamenten.
Einen traurigeren Ausdruck für den antisozialistischen, antisowjetischen Charakter der stalinistischen Architektur gibt es nicht.
Dem Vorplatz, der Stadt selbst, wendet der Bahnhof unterhalb der Kuppel eine große Figurengruppe zu, die wohl eine von Arbeitern, Soldaten und Matrosen flankierte Allegorie der Partei zeigen soll, aber die ist nicht nur fern der Menschen unten, sie scheint nicht einmal mit dem Gebäude organisch verbunden. Dennoch traurig, daß über all dem nur die ukrainische Fahne weht. Der Vorplatz hat dem Bahnhof auch wenig entgegenzusetzen. Zwei Unterführungen leiten die Menschenströme unter seinen Straßen hindurch.
Aus dem Stadtzentrum und ältesten Teil Odessas, der dahinter beginnt, ragen einige goldene Zwiebeltürmchen auf, doch die dazugehörigen Kirchen, banale Gebäude in einem orthodoxen Neostil, ordnen sich ganz dem Straßenraster unter. So ist es dieses Raster selbst, das die Stadt ausmacht: Odessa, 1794 an der Stelle einer türkischen Festung gegründet, ist eine geplante Stadt aus dem frühen 19. Jahrhundert. Alle Straße verlaufen von Süden, wo der Bahnhof ist, nach Norden oder von Osten nach Westen. Alle sind sie breite und großzügige Alleen. Noch immer stammen weite Teile der Bebauung aus der Entstehungszeit der Stadt, es sind zweigeschossige Häuser mit bescheidener klassizistischer Ornamentik.
Die Alleebäume aber, größtenteils alte, weitausladende Platanen, ragen weit über diese Gebäude empor. So hat Odessa etwas Südliches, Mediterranes, ohne aber verwinkelt oder natürlich gewachsen zu sein. Es ist vom Plan gemäßigte Südlichkeit. Auch weitere Kirchen, Synagogen, Verwaltungsgebäude, Börse, Theater bleiben dem strengen Raster untergeordnet.
An einigen Stellen, häufiger nach Norden hin, treten an die Stelle der alten Häuschen höhere Miets- und Bürohäuser, die sich aller möglichen Neostile des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie des Jugendstils bedienen. Da sie meist unvermittelt aus der niedrigeren Bebauung aufragen, können sie leicht wie Hochhäuser wirken und wirkten vor hundert Jahren gewiß erst recht so. Überhaupt hat Odessa neben dem Südlichen etwas Amerikanisches. Wie die amerikanischen Städte ist es eine koloniale Gründung. Daß das zuvor türkische Neurußland etwas näher an Moskau ist als Neuengland an London, ist nur ein Detail. Wie die amerikanischen Städte wurde es von Einwanderern gebaut. Und nicht zuletzt ist dieses ungeordnete Emporwachsen aus einem rechtwinkligen Straßenraster hier wie dort dasselbe. Es ist nur wirtschaftlichen und geschichtlichen Umständen geschuldet, daß Odessa nie New York wurde. Es ist auch hervorzuheben, daß Odessa, wiewohl im zaristischen Rußland gegründet, eine gänzlich bürgerliche Stadtstruktur hat. Zwar gibt es im Westen einen breiten Boulevard und einen quadratischen Platz, aber sie sind für die Stadt nicht wichtig. Der größte und klassischste Platz ist am westlichen Rand des Stadtzentrums, wo das Straßenraster abschwenkt und nunmehr aus Straßen in südöstlich-nordwestlicher und nordöstlich-südwestlicher Richtung besteht. Grundsätzlich jedoch sind alle Straßen gleich groß und gleichwertig.
Eine der Straßen führt auf die Oper zu, die sich als für einen historistischen Prunkbau des späten 19. Jahrhunderts überraschend schlankes, an einen Schiffsrumpf erinnerndes Halboval, vor das noch ein offener zweigeschossiger Eingang gesetzt ist, den Blicken entgegenwölbt.
Aus Meyers Neues Lexikon: Band 10, Nb – Plovd, Leipzig 1974
Den Hauptteil ihres nun doch groß und mächtig wirkenden Baukörpers zeigt die Oper aber einem nach rechts leicht abfallenden Platz, auf und um den sich andere repräsentative Gebäude in klassizistischen Formen befinden. An der Säulenfront des Rathauses vorbei öffnet sich der Platz zum Schwarzen Meer. Hier beginnt der Meeresboulevard (Приморский бульвар), der dem Verlauf der Küste nach Nordwesten folgt.
Eine andere Straße führt auf einen kleinen Platz zu, auf dem dein Denkmal Katharinas II., die Odessa gründen ließ, steht. Von ihrem Sockel weist die bronzene Zarin nach rechts und dort, leicht versetzt zum Verlauf der Straße, öffnet sich die Stadt wiederum zum Meer.
Wie zwei geöffnete Hände wenden sich zwei viertelkreisförmig geschwungene zweigeschossige Gebäude beidseits der endenden Straße dem Meer zu. In der Mitte des so entstehenden halbkreisförmigen Platzes, der auch die Mitte des Meeresboulevards ist, steht ein zierliches Denkmal für den ersten Gouverneur der Stadt, den Grafen von Richelieu, das auch eine allegorische Gestalt, eine Freiheitsstatue von Odessa sein könnte. Die Statue blickt aufs Meer und mit ihr tut es die ganze Stadt.
Dort unten, weit unterhalb des Plateaus, auf dem die Stadt errichtet wurde, ist der Hafen von Odessa. Hinter Straßen, Bahnlinien und Lagerhäusern liegen vielerlei Schiffe in den drei Becken mit ihren Kränen und sonstigen Anlagen und weit dahinter ist die Bucht von Odessa.
Es ist eine Industrielandschaft, die sich dort direkt vor der Stadt ausbreitet, ganz nah und doch so fern, als handele es sich um riesige Spielzeuge. Dank der geographischen Bedingungen sind Stadt und Hafen auf einmalig glückliche Weise zusammengeführt. Sie bleiben für sich und bilden doch eine harmonische Einheit. So sehr sich der Hafen in den etwas mehr als zwei Jahrhunderten seit der Gründung Odessa verändert hat, die Wirkung bleibt dieselbe. Die Planer der Stadt wußten, was sie hier schaffen konnten, weshalb sie alle städtebauliche herausgehobenen Situationen für das Wichtigste aufhoben: das Aufeinandertreffen der Stadt mit Hafen und Meer. Und Höhepunkt all dessen ist die Treppe, die vom Platz, von der Füßen der Statue zum Hafen hinunterführt. Durch Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ ist sie auch zu filmischen Ruhm gekommen, aber das lenkt von ihrer stadtplanerischen Genialität eher ab.
Verschwenderisch und doch genau angemessen breit, fast zweihundert Stufen lang, die immer in regelmäßigen Abständen von ebenen Flächen unterbrochen sind, zieht sich die Treppe als sanfte Wellenform den steilen Hang hinab. Sie ist wie ein Teppich, den die Stadt allen, die da übers Meer herankommen mögen, ausrollt, um sie hinauf in ihre wohlgeordneten Straßen zu bitten, heute wie 1841, als sie gebaut wurde.
Hier nun, an dieser durch nichts zu verändernden oder zu verbessernden Treppe, knüpfte die sowjetische Architektur, die oben in der Stadt nur durch einige Hotelbauten bemerkbar ist, an. Früher stand am Fuße der Treppe eine Kirche, die Sowjetunion jedoch baute etwas unendlich viel Nützlicheres: ein Fährterminal. Die eigentliche Bezeichnung lautet gar Meeresbahnhof (Морвокзал). Jenseits der Straße gelangt man durch ein zweigeschossiges Gebäude auf eine breite aufgestützte Fläche, zu der von beiden Seiten auch Rampen für Autos führen. So geht man, über Gleise und andere Straßen hinweg, aufs Meer hinaus und auf das Bahnhofsgebäude zu, wo die Fläche, nun schon zwei Geschosse über dem Wasser, breiter wird. Es wendet der Stadt eine breite Fensterfront, die von unten schrägt nach oben und vorne ansteigt, zu. Im Inneren sind an beiden Seiten viergeschossige Bauteile, zwischen denen sich eine hohe verglaste Halle öffnet, deren Dach von schmalen, zu beiden Seiten nach außen ansteigenden Stützen getragen wird und um die im ersten Geschoß eine Galerie führt.
Durch die Glasflächen zu beiden Seiten blickt man hinaus in die Hafenanlagen. Sah man sie vom Boulevard oben klein wie Spielzeuge, ist man nun mitten zwischen ihnen.
Vorne in der Mitte endet sie Halle mit einem weiteren Bauteil, an den die Glaswände von beiden Seiten schräg anschließen. Sowohl das Dach als auch die Fläche der Galerie setzen sich draußen neben der Halle und noch um den vorderen Bauteil herum fort. Nach vorne, zum Meer hin, wird das Dach fast freischwebend, gehalten nur von schräg nach vorne ragenden Stützen.
So entsteht ein so markantes wie funktionales Gebäude, das von der Stadt hinaus aufs Meer und vom Meer hinein in die Stadt führt und dabei wie nebenbei ihren raison d’être, den Hafen, präsentiert. Der Meeresbahnhof ist nichts anderes als die logische Fortsetzung der Treppe von Odessa. Er ist, am anderen Ende der Stadt gelegen, auch das fortschrittliche Gegenstück zum stalinistischen Bahnhof und gleichsam eine Entschuldigung der sowjetischen Architektur für diese Verfehlung.
Heute jedoch steht noch vor dem Meeresbahnhof ein Hotelhochhaus. Nicht nur ist es mit seinem billigen blauverspiegelten Glas ein Stück traurigster Architektur der traurigen Neunziger, vor allem stört es die Bewegung des Bahnhofs zum Meer, ganz wie früher die Kirche die Bewegung der Treppe zum Hafen störte. So zerstört der restaurierte Kapitalismus das, womit der Sozialismus eine frühere kapitalistische Stadtplanung vollendet hatte. Aber die Heldenstadt Odessa hat schon ganz anderes ausgehalten.
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