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Metro Charleroi

Charlerois Metro hat einen Ring um das Stadtzentrum und drei in verschiedene Richtungen hinausführende Zweiglinien, was vorbildlich und beeindruckend klingt, bevor man merkt, daß sie bloß mit Straßenbahnwagen und in nicht sehr dichtem Takt befahren wird.  Dennoch ist sie für die Stadt wichtig und im Guten wie im Schlechten ihr Symbol. Ihre Existenz zeugt von Charlerois einstigem auf die Schwerindustrie gestütztem Reichtum, ihr heutiger Zustand zeugt von seinem beispielslosen Niedergang seit den Achtzigern, als die Arbeiten weitgehend eingestellt wurden, und von den hilflosen Versuchen, es zu retten, die immerhin dazu führten, daß vor zehn Jahren endlich der Zentrumsring geschlossen wurde.

Das Logo der Metro ist ein weißes M auf blauem Hintergrund, das wie ein Band bei den Spitzen umgefaltet ist und rechts breiter wird, fließend wie die Schals auf den warnenden Piktogrammen bei den Rolltreppen, und ausgesucht schön, obwohl sie es sich mit Brüssel, für das es vom Designer Jean-Paul Edmonds-Alt entworfen wurde, teilen muß.

Wo immer es ist, ist ein Stationseingang nicht weit und mit ihm das Gefühl von Großstadt. Wenigstens die Stationen sind meist unterirdisch, während die Strecken eher oberirdisch – mal auf Brücken, mal in Senken, mal neben der Stadtautobahn, mal, wie im Falle der nach Norden führenden M3, auf der Straße – verlaufen. Wo die Metro ist, da ist Charleroi.

In der Ville Haute (Oberen Stadt) bilden die Eingänge der Station Waterloo, in der das Logo und der Name in dicken hellblauen Blöcken vor den abgerundeten Glasdächern stehen, den Abschluß der zentralen Chaussée de Waterloo.

Neben dem Zentrum mischen sich die Brücken der Metro unter die der Stadtautobahn.

In der Industrielandschaft westlich der Sambre ist die aufgestützte Strecke einerseits gut an den in kleinen Abständen zueinander angebrachten vertikalen Betonplatten, die teilweise in der oberen Hälfte nach einem Kreis gelbe Metallverkleidung haben, zu erkennen, aber andererseits auch nicht ganz anders als die sonstigen Bahnstrecken und Förderbänder.

In Marchienne-au-Pont ist die Station neben dem Schloß und die Strecke schmiegt sich um den Park.

Aber außer den bestehenden Linien der Metro gibt es noch weitere, die geplant waren, und eine hinaus nach Montignies-sur-Sambre im Osten, die gebaut, aber nie in Betrieb genommen wurde. Östlich des Zentrums sieht man ihren Tunnel von der Station Waterloo kommend auf einer Brücke die Stadtautobahn überqueren.

Zwischen den Häuschen von Neuville verläuft die Trasse auf niedrigen Stützen und unter ihr sind Parkplätze.

Hier gibt es eine Station mit grünem Blech um das Bahnsteigdach und einem Aufgang, über dem nur der Name in der charakteristischen Schrift und das Metrologo fehlen.

Weiter draußen verläuft sie neben einem Autotunnel in einer Senke mit Betonmauern und eine Fußgängerbrücke führt über sie, während dort, wo Metros fahren sollten, dichte Bäume und Sträucher wachsen, eine Szenerie für einen postapokalyptischen Film.

Eine weitere Station ist nur angedeutet durch hohe annäherend dreieckige Betonwände mit achteckigen Öffnungen, die zur einen Seite geschwungen abfallen, aber die kurze flache Unterführung, die sie hätte erschließen sollen, ist noch immer die schnellste Verbindung zwischen zwei Vorortstraßen mit roten Backsteinhäusern.

Vielleicht wurde diese Linie nie gebraucht, vielleicht ist die gesamte Metro von Charleroi mehr, als die Stadt unbedingt braucht, vielleicht ist sie eine jener „grands travaux inutils“ (nutzlosen großen Baumaßnahmen), wie es in Belgien heißt. Doch das wäre eine reaktionäre Sicht. Die Metro von Charleroi ist vielmehr gerade deshalb so großartig. Sie ist ein Luxus, aber einer, den jede Stadt haben sollte.

Die Zukunft in Marchienne-au-Pont

Marchienne-au-Pont, ein westlicher Stadtteil von Charleroi, verwandelt das Schloß De Cartier, das seine Vergangenheit war, und tritt in die Zukunft, indem es ihm einen Verwaltungsbau als erhöht hinter Metroeingang, Grünflächen und Parkplätzen gelegenen linken Flügel anderer Art  gibt.

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Er zeigt sich von hier zuerst als drei große kubische Formen: die blaue horizontale Kachelverkleidung des Erdgeschosses, die glatte graue Steinverkleidung des Obergeschosses und die glatte schwarze Steinverkleidung des Saals, der kurz nach der Ecke das Obergeschoß unterbricht, etwas höher reicht und vorne, wo er verglast ist, auf ebenfalls schwarz verkleideten Stützen übersteht.

Die Stützen wirken dennoch wie Säulen, das Gebäude hat etwas Klassisches, was von einer konservativen Vorstellung von Repräsentation zeugt und woran auch der ganz links vorgesetzte Balkon, dessen Vorderseite ein Steinrelief ist, nichts ändert. In halbabstrakten Formen zeigt es nach links und rechts liegend und in der Mitte durch gewellte Bänder verbunden Frau und Mann und daß es von 1971 stammt, zeigt, wie spät Belgien in oft in Fragen der Kunst oder Architektur war.

Der Rest des Gebäudes – vertikale Fenster mit vorgesetzten Rahmen in heller Steinverkleidung links des Saals, die trotz Fensterbändern vertikale Fassade des rückwärtigen dreigeschossigen Bürotrakts – entspricht dem konservativen Eindruck.

Aber ringsum sind neben Parkplätzen immer auch Grünflächen, es entsteht ein offener, fließender Bereich ohne Hinten und Vorne, in dem ein Weltkriegsdenkmal und eines für einen stellvertretenden Bürgermeister gut Platz finden. An dem Gebäude entlang verläuft der Park mit alten Bäumen und geschwungenen Wegen.

Rechts ist ein großer Flachbau mit viel Glas und den blauen Kacheln, eine Versammlungs- und Sporthalle. Verbunden damit ist der Sportplatz, zu dessen Toren sich vom Park dann zwei schräge Mauern mit den blauen Kacheln öffnen und für das dank der überdachten Tribünen auch das Wort Stadion nicht übertrieben war.

Den Abschluß bildet eine Schule: ein schnörkelloser, wiederum vom Blau bestimmter Bau quer zum Lauf des Parks, bei dessen Ecke ein buntes Kachelmosaik eine menschliche Gestalt mit Symbolen der Technik und einer schrägen Linie zeigt.

Wie das Stadion zwischen den öffentlichen Einrichtungen und der Schule angeordnet ist und alle mit dem Park verbunden sind, ist städtebaulich vorbildlich. Aber das ist noch nicht alles.

Direkt hinter dem Schloß, rechts neben den Freiflächen des Verwaltungsgebäudes und von drei Stufen des Flachbaus gleichsam eingeleitet, ist das Schwimmbad.

Es ist aus all diesen Perspektiven ein hoher Bau mit noch dazu vertikaler Fassade aus blauen Kachel- und hellen Putzstreifen, der vor allem nicht nach einem Schwimmbad aussieht. Alles an ihm kontrastiert mit dem Schloß, dessen dicken runden Turm in der Ecke der Flügel man kaum ohne ihn sehen kann.

Doch unten, am Ufer der Sambre, auf der untersten der drei Stufen des Parks und Zentrums, von denen das Gebäude zwei verbindet, hat es zu beiden Seiten große Glasflächen und auch zum Fluß hin neben einer freistehenden Betontreppe kleinere mit vorgesetzten Rahmen, hier ist das eigentliche Schwimmbad.

Im Wasser des Beckens oder auf der erhöhten Tribüne konnte man das Schloß, das hoch über der Steinwand ganz anders wirkt, den unteren Teil des Parks, den Fluß und die am anderen Ufer stehenden roten Backsteinhäuschen sehen.

Lastkähne und einige Schornsteine in der Ferne zeugten auch hier von der Industrie, die Charleroi prägt, aber sie wurde Teil eines geradezu idyllischen Ganzen. Außerdem kommt die Metro hier an die Oberfläche, macht einen Bogen um das Ende des Parks, wo die Wiesen in verschachtelten rechteckigen Flächen mit Bänken enden, und fährt auf einer blauen Stahlbogenbrücke über den Fluß. In der Ferne sieht man bereits das Schloß von Monceau-sur-Sambre.

Das muß so sein, alles, was Charleroi ausmacht, kommt hier zusammen, hier entsteht ein neuer Stadtraum, wie ihn eine solche Stadt braucht und viel zu wenig hatte. Alt und Neu, Landschaft und Gebäude, Infrastruktur und Natur werden hier zu einer Einheit.

Sogar die Tauben hatten ihren Platz, denn in der Rückseite des Hoftors und im sympathischen Gegensatz zum repräsentativen Wappen der Vorderseite ist ein kleiner Taubenschlag.

In der Verbindung von scheinbar Gegensätzlichem kann das als Symbol für das gesamte Zentrum von Marchienne-au-Pont dienen. Heute ist das egal, Tauben wohnen dort zwar noch immer, aber ihnen stehen unzählige weitere Räume hinter zerschlagenen Fenstern frei, auch das Schwimmbad selbst. Sie mögen sich freuen; dem Menschen bleibt nur die Erinnerung an die Zukunft.

Die Vergangenheit in Marchienne-au-Pont

Charleroi ist nicht nur Niedergang und Potential, sondern Potential, das vor nicht allzulanger Zeit ausgeschöpft war, wie das Zentrum des westlichen Stadtteils Marchienne-au-Pont eindrucksvoll zeigt.

Von den großen Straßen aus sieht man vielleicht nur die namensgebende Brücke über die Sambre, die große neogotische Kirche und den unscheinbaren Metroeingang in der Mitte eines verkehrsumspülten Platzes. Die Station heißt De Cartier und Schloß und Park De Cartier sind die Grundlage des neuen Zentrums des Stadtteils. Leicht läßt sich das Tor übersehen, daß in der Platzecke zum Vorbereich des Schlosses führt, obwohl es als Backsteinkonstruktion mit einer Verkleidung aus Streifen hellgrauen Steins, in die Kapitelle, ein mittiges Wappenrelief und die Jahreszahl 1699 eingebettet sind, und leicht überstehendem geschwungenen Walmdach durchaus repräsentativ ist.

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Am Ende des etwa quadratischen Ehrenhofs ist der Hauptflügel des Schlosses. Er ist zweigeschossig und hat ein Walmdach, aber der Sockel ist bis unter die unteren Fenster aus hellgrauem Stein und diese sind von ihm an den Seiten in unregelmäßigen Quadern gerahmt und unten, oben und leicht oberhalb der Mitte durch schmale Streifen verbunden, was eine sehr regelmäßige horizontale Fassade ergibt, eine minimalistische Ausprägung der späten Renaissance oder des frühen Barock. In der rechten Hälfte ist eine Tür, die mit ihrem Gesims bis über die unteren Fenster hinausreicht, und ganz links, in der Verlängerung des Tors, ist ein weiter durch das Gebäude führendes Tor. Die verziertere kleine Tür daneben ist neuer und paßt eher zum rechten Flügel, der Backstein und Stein, ja, sogar die Streifen der Fassade beibehält, aber ganz anders verwendet.

Er ist niedriger, aber um weniger als ein Geschoß, so daß sein einziges Geschoß sehr hoch ist, was durch die Mittelstreben und die gebrochenen Giebel der drei hohen Fenster noch betont ist. Hier ist der zwischen den beiden näher am Hauptflügel liegenden Fenstern angeordnete Eingang, zwischen dessen Giebelteilen ein Wappenrelief mit Schachbrettmuster ist, niedriger. Der Flügel selbst endet in einem Treppengiebel, vor den jedoch noch ein niedrigerer abgerundeter Teil mit rundbögigen Fenstern und dorischen Kapitellen gesetzt ist. Das dürfte die Kapelle sein und laut den Inschriften des wappengeschmückten Brunnens an ihrem Ende dürfte sie von 1702 stammen. Ein frei schrägt neben Kapelle und Flügel stehendes achteckiges Türmchen hingegen ist laut seiner Inschrift erst von 1884 und ähnliches mag für den ganz rechts am Ende der Außenmauer in Efeu versinkenden und verfallenden Turm gelten.

Auf dem Vorplatz sind geometrische Beete oder deren Andeutung, da es wenig hilft, daß das Gras der Rasenflächen manchmal gemäht wird, wenn auf den Kieselwegen ebensoviel wächst. Ganz in der Mitte ist eine kleine Steinstele mit dem Bildnis der Schriftstellerin Marguerite Yourcenar, die mit der Familie De Cartier verwandt war und nach der die heute im Schloß sitzende Bibliothek heißt.

Einen linken Flügel hat das Schloß nicht mehr, aber bis hin zum Tor ist er halbhoch mit Fenstern und Öffnungen, die dem des Hauptflügels entsprechen, angedeutet. Ein Stück vor dem Tor sind diese Mauern und der höherer Bereich weiter links mit weißgetünchten Rundbögen und einem Walmdach verbunden, um zum zweiten Eingang der Metrostation zu leiten.

Sind das immerhin zurückhaltende, aber wenig selbstbewußte Formen, so wird die Verwandlung des Schloßareals durch den Verwaltungsbau, der vom Vorplatz immer zu sehen ist und hinter Grünflächen und Parkplätzen einen linken Flügel anderer Art bildet, deutlich. Mit ihm tritt Marchienne-au-Pont in die Zukunft.

Cocktails in Charleroi

„Cocktail Bar/Restaurant“, zwei stilisierte schräge Cocktailgläser, rosa und türkis, Leuchtreklame, Neon, siebziger, vielleicht achtziger Jahre, wie vielfach in Charleroi.

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Es könnte auch aus dem Film „Cocktail“ mit Tom Cruise sein, aber in diesem Fall befindet es sich an einem Stahlgitterring auf einem weißen blechverkleideten Pfahl, damit es von Weitem sichtbar sei. Demselben Zweck dient eine Kugel aus von der Mitte ausgehenden leuchtenden Stangen, die daneben steht.

Sie richten sich an die Stadtautobahn, die hier in einem Graben verläuft, so daß die Auf- und Abfahrten als parallel zu ihr verlaufende Rampen beidseits einer Brücke gestaltet sein können. Was könnte in dieser Umgebung besser passen, als die Bar in einem ausrangierten Flugzeug, einem Jet selbstverständlich, unterzubringen? Zum Eingang neben dem Pfahl mit der Leuchtreklame führte selbstverständlich eine Rolltreppe.

Doch die siebziger Jahre sind vorbei, die achtziger Jahre auch, sogar die neunziger Jahre – denn tatsächlich wurde der von Nigerian Airways stammende Airbus A310 erst 1999 aufgestellt – und dies ist Charleroi, also ist das Flugzeug zwar noch da, aber ein ausgebranntes Wrack, das neben der Autobahn abgestürzt und einfach liegengelassen worden zu sein scheint.

Die Rolltreppe führt ins Leere.

Es ist, als ob es Charleroi immer darauf anlegte, sich möglichst starke Symbole für seinen postindustriellen Niedergang, seinen Absturz, zu schaffen.

Kaum besser als dem Flugzeug erging es einem Eisenbahnwaggon daneben, in dem unter einer Leuchtreklame mit dem Wort „Gelateria“ und entsprechenden Symbolen Eis verkauft wurde.

In Wirklichkeit ist es gerade der Flughafen, der in Charleroi noch funktioniert, wenn auch als Billigflughafen für Brüssel, während viele Bahnverbindungen stillgelegt wurden.

Cocktails kann man in Charleroi wohl noch immer trinken, doch wenn man dazu nicht einem Flugzeug an der Autobahn sitzen kann, wieso sollte man?

Die Sprachen der Arbeiterklasse von Charleroi

Auf dem Grand‘ Place (Großen Platz) in Marcinelle, der eine weit ältere Kirche als das Zentrum von Charleroi, aber ansonsten eine so beliebig durchmischte Bebauung wie jeder andere Platz in der Stadt hat, steht ein vielsprachiges Denkmal.

Es besteht aus unregelmäßig zusammengewürfelten Blöcken aus verschiedenfarbigen glatten Steinsorten, auf denen jeweils ein, zwei oder drei Ländernamen in den jeweiligen Sprachen und Schriften stehen:

FRANCE, ΕΛΛΑΣ, GREAT BRITAIN, DEUTSCHLAND, CCCP, ITALIA, MAGYAROSZÁG (sic), NEDERLAND, POLSKA

Nur der Name Belgiens steht oben auf einem vertikalen grauen Block auf Latein, BELGICA, was eine elegante Art, keine der beiden Staatssprachen zu bevorzugen, ohne sowohl Belgique als auch België ausschreiben zu müssen, darstellt. Auf einem weißen Stein, der fast wie ein klassischer Obelisk am höchsten aufragt, ist die noch unklare Inschrift: „Unis dans le sacrifice, unis dans la memoire des hommes“ (Vereint im Opfer, vereint in der Erinnerung der Menschen).

Und auf dem obersten rechten Block mit „Polska“ steht die realistische und etwa lebensgroße Bronzeplastik eines Bergarbeiters mit ernstem Blick, der die Hände über dem vor ihm stehenden Preßlufthammer gefaltet hat.

Erst auf der Rückseite erläutert eine weiße Tafel, wem das Denkmal gilt:

„Am 8. August 1956 fielen bei der Katastrophe im Bergwerk Bois du Cazier 262 Bergleute von zehn Nationalitäten auf dem Feld der Ehre der Arbeit.

Die Internationale  Vereiningung der Versehrten und Invaliden der Arbeit und der Zivilinvaliden hat – dank der Mitarbeit der Herkunftsländer – dieses Denkmal errichtet und widmet es allen Helden des Abgrunds

  1. März 1960“

Eine neuere schwarze Tafel darunter ergänzt:

„Seit der Errichtung dieses Denkmals im Jahre 1960 ist die Zahl der Herkunftsländer der Opfer der Katastrophe von 1956 durch die Unabhängigkeit Algeriens in Folge der Entkolonialisierung sowie durch die Trennung von Rußland und der Ukraine während des Auseinanderbrechens der Sowjetunion von zehn auf zwölf angestiegen

  1. August 2018“

Das erklärt den kleinen Stein rechts vor den anderen, auf dem die neuen Ländernamen, الجزائر, Россия und Україна, bereits wieder verblassen, da die Stadt 2018 weniger Geld als 1960 auszugeben in der Lage war.

Nicht zufällig kann man das Denkmal im ersten Moment für ein Kriegsdenkmal halten, die Rhetorik der Inschriften ist bewußt martialisch, aber sie erweitert das Feld der Ehre zum Feld der Ehre der Arbeit, auf dem Arbeiter verschiedener Nationalitäten gemeinsam kämpfen und gemeinsam fallen. Die Form ist in der Verbindung abstrakter und realistischer Elemente gelungen, wenn auch bloß zeittypisch. Die entscheidende Idee war es, die Ländernamen so zu schreiben, wie sie auch in den Ländern, aus denen die Opfer stammten, geschrieben werden. Das bringt zum einen Länder eines politisch geteilten Europa ungewöhnlich nah zueinander und läßt zum anderen die Internationalität der Arbeiterschaft des Bergwerks besser spüren.

Was das Denkmal nicht erzählt, vielleicht nicht erzählen kann, ist, daß dieses schlimmste Bergwerkunglück der belgischen Geschichte auch den unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen geschuldet war, und daß die mehr als die Hälfte der Opfer italienische Gastarbeiter waren, die oft in schlechten Bedingungen in ehemaligen Kriegsgefangenenbaracken leben mußten.

Doch so tragisch der Anlaß und so groß die Auslassungen, hier auf dem Grand‘ Place von Marcinelle ist die Industriegeschichte Charlerois, die wie jede auch eine der Migration ist, gegenwärtiger als vielleicht irgendwo sonst.

Erkundungen auf Friedhöfen: Dampremy

Auf dem Friedhof von Dampremy ist man mitten in Charleroi, weil man am Rande ist: auf der einen Seite das Industriepanorama mit Schornsteinen, Hochöfen und zugewachsenen Abraumhalden, auf der anderen die kleinen backsteinernen Arbeiterhäuschen an verwinkelten Straßen.

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So wie hier ist außerhalb des Zentrums das typische Antlitz dieser südbelgischen Industriestadt.

Der Friedhof liegt leicht am Hang und ist leicht in Terrassen angelegt, doch mehr noch unterteilen ihn lange Reihen von etwa eineinhalb Meter hohen Grabkästen, halben Gruften, in langen geraden Gassen, die nur an ihren Enden verbunden sind. Sie sind ganz mit grauem Stein verkleidet und vorne, wo sie geöffnet werden können, stehen die Namen der hier bestatteten Familien.

Die Namen sind zumeist belgisch, also französisch und seltener niederländisch, die Inschriften nur französisch, ab den fünfziger Jahren kommen viele italienische mit entsprechenden Inschriften hinzu, auch polnische finden sich.

Die einzelnen Familienmitglieder, aber wohl nicht alle, sind meist auf kleineren Steinen genannt, die auf den Kästen stehen oder an der etwas höheren Mauer, die sie von der nächsten Reihe trennen, befestigt sind.

Fast immer gehören dazu ovale Plaketten mit Photos, so daß man wie durch eine Galerie der Charleroier Physiognomien der letzten hundertfünfzig Jahre, aber auch der Arbeit der Photostudios, die am rechten unteren Rand genannt sind, geht. Noch heute, oder jedenfalls in jüngerer Zeit, fertigen die Studios solche Plaketten an, aber die neueren Bilder sind oft eher Schnappschüsse aus dem familiären Umfeld und nicht immer vorteilhaft, was den Wert professioneller Photographen verdeutlicht. Außerdem sind die Oberflächen der Grabkästen Ablage für Grabgeschenke mit Widmungen, wie sie in Belgien üblich sind, gravierte Platten oder aber durchsichtige Kunststoffplatten, in die Blumen eingeschlossen sind, was eine hübsche Idee ist, die sich leider nicht bewährt hat, da sie nicht durchsichtig blieben.

Obwohl am Eingang des Friedhofs mehrere Denkmäler vor allem für den ersten Weltkrieg stehen, sind es rechteckige Emailletafeln bei den einzelnen Gräbern, oft auf den Grabkästen, die die eindrücklichere Erinnerung an ihn darstellen. Auf gelbem Hintergrund und zwischen jugendstil-gotisch verschlungenen roten Linien, deren Zwischenräume schwarz gefüllt sind und oben in den Ecken die Kürzel FNC und NSB der Fédération Nationale des Combattants/Nationale Strijdersbond (Nationale Kämpfervereinigung) haben, in den belgischen Farben also, steht dort: „Ici repose un combattant de la Grande Guerre — Passant !! Salue et souviens-toi.“ (Hier ruht ein Kämpfer des Großen Kriegs — Vorübergehender !! Salutiere/grüße und erinnere dich.)

Es sind so viele, daß man aus dem Salutieren gar nicht mehr herauskäme, doch man erinnert sich allemal, auch wenn es eine diffusere Erinnerung ist, als die Gestalter der Tafeln wohl meinten. Manchmal sind auf den betreffenden Gräbern Photographien von Männern in Uniform, manchmal starben sie auch tatsächlich im Krieg, doch meist erst Jahrzehnte später in reifem Alter.

Seltener sind Tafeln für Kriegsgefangene des zweiten Weltkriegs in schlichterem Design auf weißem Hintergrund. Wenn beide auf demselben Grab stehen, ist nie klar, ob es um eine Person oder verschiedene Generationen einer Familie geht.

Felder mit vertrauteren freistehenden Grabsteinen gibt es ebenfalls, ihre Gestaltung ist weniger einheitlich, auch hier sind oft Photos. Im unteren Teil sind sie derart verwüstet, daß sie selbst Schlachtfeldern gleichen, postindustrieller Niedergang als Krieg, doch überhaupt ist der Zustand des Friedhofs nicht gut, damit jeglichem öffentlichen Raum in Charleroi gleich.

Manchmal ist das interessant, wenn an einem der besonders prunkvollen älteren Gräber, das sich auftürmt wie eine absurde Version des Hochofens im Hintergrund, unter der Steinverkleidung die Backsteinkonstruktion und ein Stahlbalken zum Vorschein kommen.

Manchmal ist das von eigentümlicher Schönheit, wenn an einem ganz schlichten Grabstein die Familiennamen noch in Umrissen zu lesen sind, die Steinbuchstaben aber durcheinander davorliegen und sich wie Scrabblesteine neu zusammensetzten ließen.

Meist aber ist es traurig wie das Schicksal von Charleroi insgesamt.

Ein Symbol dafür ist ganz in der Ecke des Friedhofs, versteckt hinter einer bizarren künstlichen Grotte, die jemand auf sein Grab bauen ließ, die Skulptur einer Frau mit weit über die Stirn hängendem Kopftuch, die mit beiden Händen ihr weites Kleid vor ihr Gesicht hält, das so völlig verdeckt ist.

Sie ist ein Bild der Trauer, nicht anders als viele ähnliche Skulpturen auf vielen anderen Friedhöfen, aber konsequenter, das Gesicht zugunsten des Gewands weglassend, und dadurch stärker. Ganz so vielleicht ist es mit Charleroi: es stieg höher, fiel tiefer. Man darf darüber traurig sein, aber anders als die Skulptur muß man hinschauen. Auf dem Friedhof von Dampremy sieht man bereits viel von Charleroi.

Wallfahrt nach Marcinelle

Das Schlechte an Wallfahrten ist, daß man nie findet, was man sucht, weil es entweder nicht da ist oder man es schon vorher hatte. Ein Allgemeinplatz, schon seine obige Formulierung vielleicht ein unbewußtes Zitat. Weil ich es weiß, informiere ich mich niemals vorher über Orte, an die ich reise. Doch ich wurde erinnert, wie wahr es ist, als ich zum Sitz des Comicverlags Dupuis ging, dessen Adresse ich herausgesucht hatte, nachdem ein erster Gang durch Marcinelle keine Ansatzpunkte gebracht hatte. Ein großes, aber niedriges gläsernes Bürogebäude hinter einem schattigen Parkplatz in der Rue Destrée (Destréestraße), keine schlimme Architektur, aber es könnte auch die eines beliebigen Start-Ups sein und gewiß ist es nicht die, in der Spirou und Fantasio ihre Glanzzeiten erlebten. Und überhaupt, Dupuis ist seit 1985 kein eigenständiger Verlag mehr. Und überhaupt, was ist mir Dupuis, für mich erschienen die Comics im Carlsen Verlag, Dupuis war Kleingedrucktes auf dem Vorblatt.

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Aber auch die Comics waren es, die mich nach Charleroi, zu dem Marcinelle heute gehört, brachten, die diesen Namen mehr leuchten ließen als den anderer belgischer Städte. Wenn Spirou und Fantasio oder das Marsupilami auch nicht geradezu durch die Straßen gehen, sondern rostend in der Mitte von Kreisverkehren stehen, so ist hier immerhin die spezifisch belgische Stadt und die Architektur der sechziger Jahre, die mir durch die in der Bad Vilbeler Stadtbücherei zusammengelesenen Comics so vertraut ist,

Ob beim Bahnhof oder in zwei Metrostationen sind die Bezüge auf seine Comicgeschichte in Charleroi so traurig wie alles andere dort, aber immerhin war es eine nette Idee, eine kleine Straße neben dem Dupuis-Gelände Rue de Champignac (Champignacstraße), nach dem fiktiven Ort aus „Spirou et Fantasio“, zu benennen.

„Eine aus dem Stift von André Franquin geborene Welt“

Etwas gab mir auch der Besuch von Dupuis, denn den Namensgeber der Straße, Jules Destrée, hatte ich schon in drei Teilen (sections) von Charleroi mit Denkmälern geehrt gesehen, auf dem Weg konnte ich die gotische Kirche von Marcinelle näher betrachten und hinter der großen Route de Philippeville, die nur durch einen McDonald’s- und Supermarktparkplatz von der Rue Destrée getrennt ist, ragen rostige Fördertürme auf. Im Delhaize-Supermarkt steht eine Spirou-Figur samt Eichhörnchen, aber der McDonald’s macht es richtig und ignoriert die Tore von Dupuis völlig. Ihm genügt es, an der langen Ausfallstraße, über die das Zentrum von Charleroi so gut zu sehen ist, wie vielleicht von sonst nirgendwo und wirklich deutlich wird, wieso dessen oberer Teil Ville Haute (Obere Stadt) heißt, den hohen Betonpfahl mit dem gelben M auf der roten Basis, die alte sowjetische Farbgebung noch, aufzurichten.

Und mir genügte es, dort zu vier (!) ChickenMcNuggets mit Currysauce und einer Cola ein paar Gedanken über Wallfahrten niederzuschreiben, die unweigerlich mit einem weiteren Allgemeinplatz enden müssen: Das Gute an Wallfahrten ist, daß man viel finden kann, von dem man nie geahnt hätte. Solange man um ihr Schlechtes wie ihr Gutes weiß, sind sie ein so guter oder schlechter Anlaß zum Reisen wie alle anderen.