Archiv für den Monat Januar 2021

Čechoslovakisches Hamburg

Am Rande des Hamburger Hafens steht ein tschechoslowakisches Juwel. Recht versteckt zwischen einem Hafenbecken und der großen Straße und Bahnstrecke vor der Wohnsiedlung Veddel, hinter dem gestuften Beton der Hochwassermauer und umgeben von hohen Silberpappeln, ist es doch sogleich am strahlenden Dunkelblau seiner Kunststoffverkleidung zu erkennen.

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Es hat zwei dieser blauen Geschosse mit horizontalen Fensterbändern und vertikalen silbernen Metallstreben, die auf regelmäßigen eckigen Stützen aus weißem Beton ruhen.

Im solcherart geöffneten Erdgeschoß ist nur in der Mitte der nach vorne verglaste und zur linken Seite aus vertikal geriffeltem Beton bestehende Eingang. Links von ihm und dem Gebäude leicht vorgesetzt ist das Treppenhaus, das unten ebenfalls aus Beton ist, während es darüber nach vorne Backsteinverkleidung und seitlich Glasbausteine hat.

Dort oben vorm Backstein hängt ein weißes Schild, das neben einer weiß-roten Fahne mit blauem fünfzackigem Stern folgende Aufschrift trägt:

„Československá/plavební akciová společnost Labská/odbočka v Hamburku//Čechoslovakische/Elbe-Schiffahrts-Aktiengesellschaft/Niederlassung in Hamburg“

Diese Worte erstaunen nur halb, denn obwohl das Gebäude so schlicht ist, hat es etwas Vertrautes, etwas, das weiter elbaufwärts weist, wenn nicht unbedingt sechshundert Kilometer weit bis in die Tschechoslowakei, dann sechzig bis in die DDR. Und bei aller Schlichtheit ist da doch die ganze Brillanz der tschechoslowakischen Architektur. Die Aufstützung, die anderswo eine Spielerei sein könnte, dient hier dem Hochwasserschutz. Der Backstein ist ein subtiler lokaler Bezug, der das abgehobene tschechoslowakische Blau mit dem Boden des Hamburger Hafens verbindet. All das gilt auch für das linke Nebengebäude, das drei Geschosse mit Fenster- und Betonbändern sowie Backstein an den Schmalseiten und am Treppenhaus hat und Wohnzwecken diente, doch es ist zu unscheinbar und braucht unbedingt die Gesellschaft des schwebenden und leuchtenden blauen Baus.

In das Becken hinter den Gebäuden ragt ein einziger Steg und weiter links ist eine große Kaifläche mit Containern und einer Halle, aber heute ohne Hafenkräne.

Das ist der Hauptteil eines von zwei Bereichen in deutschen Überseehäfen, die die neuentstandene Tschechoslowakei im Versailler Vertrag zugestanden bekam (der andere ist im nunmehr polnischen Szczecin). Das Becken heißt Saalehafen, doch eine Verbindung zur Elbe verläuft über den passender benannten Moldauhafen und beide sind tschechoslowakisch. An die Zwischenkriegszeit, als die Tschechoslowakei sich hier zuerst ihre Hafenenklave einrichtete, erinnert architektonisch nichts mehr, doch eine kleine Spur ist im Namen der Čechoslovakischen Elbe-Schiffahrts-Aktiengesellschaft selbst. An der Verwendung tschechischer Sonderzeichen erkennt man eine spezifisch tschechoslowakische Rechtschreibung des Deutschen, die in der ersten Republik der Zwischenkriegszeit staatsoffiziell war, nach dem zweiten Weltkrieg aber unnötig wurde, da es keine nennenswerte deutsche Bevölkerung mehr gab. Den Name trug die Gesellschaft bei ihrer Gründung 1922 und bekam einen ähnlichen auch 1992 wieder, während sie in ihrer besten Zeit, als sie die drittgrößte Binnenschiffahrtsgesellschaft Europas mit über 700 Schiffen war, Československá plavba labsko-oderská, n.p. (ČSPLO – VEB Tschechoslowakische Elbe-Oder-Schiffahrt) hieß.

Noch heute sind der Uferstreifen am Saalehafen und ein weiterer am Moldauhafen souveränes, nunmehr tschechisches Territorium, auch wenn die Anlagen an allerlei obskure Firmen vermietet und in schlechtem Zustand sind. Und noch immer strahlt das blaue tschechoslowakische Juwel, dessen Baumaterial vielleicht einst auf Schiffen auf der Elbe herangeschafft wurde. Obwohl es sie nicht mehr gibt, ist die Tschechoslowakei oder, wie hier vielleicht richtiger zu schreiben ist: die Čechoslovakei, in Hamburg würdig repräsentiert.

Erkundungen auf Friedhöfen: Szczeciner Buchstaben

Das Lapidarium des Hauptfriedhofs von Szczecin, im eigentlichen ein restaurierter Teil des alten deutschen Friedhofs, kann viel über die örtliche Begräbniskultur zwischen etwa 1915 und 1945 erzählen, aber es hat nur ein wirklich großes Kunstwerk, das weit über diesen Friedhof und alle anderen Friedhöfe hinausstrahlt.

Es ist dies das Grab der Gertrud Ziegenrücker. Aus viel mehr als diesem an sich unauffälligen bis lustigen Namen besteht es auch nicht, doch es zeigt ihn auf auffälligste und ernsteste Weise. Er steht in erhabenen Buchstaben auf einer dicken liegenden Platte, erwächst geradezu aus deren grauem Kunststein. Er nimmt drei Zeilen in Großbuchstaben ein, wozu der Nachname getrennt ist. Wie die Buchstaben verteilt sind, wie sie mal mehr, mal weniger hervorstehen, wie sie zugleich minimalistisch klar und äußerst kompliziert sind, wie sie für sich stehen und verbunden sind – das rückt das Grab vom Bereich der Skulptur letztlich in den der Typographie.

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Man muß aber in keinem der beiden Bereiche ein Experte sein, um zu erkennen, daß man vor etwas Besonderem steht. Nach dem Gesamteindruck begeistern die Details: das T in der oberen Zeile, bewußter Mittelpunkt und entschieden kein Kreuz, das = als Bindestrich am Ende der zweiten Zeile, dessen Streifen am Rande der Platte bis zum Boden führen, die um einen zusätzlichen Längsstrich vor dem mittleren Querstrich erweiterten Es als häufigste Buchstaben und der als UE mit kleinem ins U gesetztem E ausgeführte Umlaut in der letzten Zeilen.

Es ist nichts an dieser in Beton gegossenen Typographie, was nicht auch heute entstanden sein könnte. Zeitlos ist es nur deshalb nicht, weil weder Bildhauerei noch Typographie vor etwa 1920, als auf die künstlerischen Neuerungen von Jugendstil, Kubismus etc. politische gefolgt waren, frei genug für solch ein Werk waren. Daß es sich in die zwanziger oder frühen dreißiger Jahre einordnen läßt, liegt wiederum einzig daran, daß die Nazis ein solches modernes Kunstwerk sogar auf einem Friedhof schwerlich akzeptiert hätten und daß Szczecin nach 1945 nicht mehr deutsch war. Da auf dem Grab außer dem Namen nichts ist, stellt es erst einmal ein Rätsel dar.

Den spärlichen Informationen nach verstarb Gertrud Ziegenrücker am 12.3.1924, so daß das Grab nicht viel jünger sein kann. Sie wurde als Gertrud Wechselbaum geboren und war die Ehefrau des aus dem damaligen Stettin stammenden Berufsoffiziers Friedrich Ziegenrücker, der es kurz vor seinem Ruhestand 1943 zum Generalmajor brachte, aber in der Zeit der Weimarer Republik in zivilen Berufen, vor allem als Beamter, arbeitete. Daß gerade ein preußischer Offizier, Angehöriger einer nicht gerade als fortschrittlich bekannten Gesellschaftsschicht ein radikales Kunstwerk wie dieses Grab in Auftrag gab, scheint völlig widersinnig, aber das Grab ist eben da und beweist, daß es genau so war. Das einzige, was in Ziegenrückers Biographie auf zumindest eine Berührung mit Typographie hinweist, ist die eigenartig kurze Tätigkeit als Werbechef der örtlichen Schnapsfabrik Rückforth gerade im Sommer 1924 nach dem Tod seiner Frau. Aber selbst, wenn, was zu untersuchen wäre, die Werbung dieser Firma in dieser Zeit äußerst modern gewesen sein sollte, ist es noch einmal ein enormer Schritt, auch das Grab so zu gestalten. Offenbar war dieses Offiziersehepaar mehr, als man vernünftigerweise vermuten würde.

So bleibt das Grab der Gertrud Ziegenrücker weiterhin ein gewisses Rätsel. Zweifelsfrei ist nur, daß es ein großes Kunstwerk ist und als solches kann es auch ganz für sich stehen.

Die beiden Nepomuks von Štětí

Štětí ist eine neue Stadt, in der man die kleine Barockkirche mit dem roten Blechdach und -turm kaum betrachten kann, ohne auch fortschrittliche Wohnbebauung zu sehen.

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Doch so wenig Altes es in dem Städtchen an der Elbe in Nordböhmen gibt, es hat zwei Johannes von Nepomuks und eigentümlicherweise stehen beide vor der Kirche.

Die linke Nepomukskulptur ist völlig konventionell, der Heilige steht auf einem schlichten schmalen Sockel ohne Inschrift, trägt ein Birett, hält rechts ein Kruzifix und links einen Palmzweig.

Die rechte ist ein Kunstwerk, auf das Štětí stolz sein kann. Nepomuk hält das Birett in der links neben dem Körper ausgestreckten Hand und hat den also bloßhäuptigen Kopf verzückt nach oben gewandt, so daß er in die Eichenzweige über sich statt zu dem hoch in seinem anderen Arm ruhenden Kruzifix blickt. Sein ganzer Körper ist in einer Bewegung von links unten nach rechts oben.

Neben ihm auf dem Sockel, der hier von Voluten getragen breiter wird, sitzen zwei Engelchen. Der linke hat ein medaillonartiges Bildnis von Maria mit Jesuskind im Arm,

der rechte legt den Finger auf den Mund und hält ein Schloß in der Hand.

Das drückt die besondere Verbindung mit Maria, die als einzige andere Heilige Sterne im Heiligenschein hat, und die Bewahrung des Beichtgeheimnisses aus, wie jeder, der Nepomuk kennt, sofort weiß.

Weit ungewöhnlicher und unklarer ist die Szene, die vorne auf dem Sockel im Relief gezeigt ist. Links kniet ein Heiliger auf einem Kissen – Nepomuk? – noch links vor ihm liegt eine Krone und schräg darüber greift er zu einem Ring an der Wand, einem Türklopfer mit Löwenkopf, während über ihm ein Engel, der einen Lorbeerkranz in der einen und einen Palmwedel in der anderen Hand hält, in Wolken, aus denen Sonnenstrahlen zum Heiligenschein hervorbrechen, schwebt und rechts dicht neben, also hinter ihm, ein Mann mit Kappe, weit nach rechts ausholender Hand im dort wallendem Mantel und der anderen Hand am Schwert im Begriff scheint, ihn zu erstechen.

Man sieht hier, wie ein Heiliger hinterrücks ermordert wird, doch Johannes von Nepomuk wurde nicht erstochen, sondern von der Brücke in die Moldau gestürtzt. So könnte man lange rätseln, welcher Teil der Nepomukgeschichte hier gemeint ist, und würde doch zu keinem Ergebnis kommen, denn das Relief zeigt nicht ihn, sondern den heiligen Václav (Wenzel). Der halblegendäre Gründer des tschechischen Staats ist hier in dem Moment gezeigt, da er in einer Kirche von seinem Bruder Boleslav oder in dessen Auftrag ermordet wird. Ohne weitere Kenntnisse kann man das kaum erkennen, aber es macht Štětís zweiten Nepomuk noch interessanter, daß er zusätzlich ein halber Václav ist.

Daß beide Skulpturen vor der Kirche stehen, erklärt sich wohl dadurch, daß die sozialistische Tschechoslowakei eine von ihnen im Zuge des Um-, nein, Neubaus der Stadt von einem zentralen Platz ins Exil schickte. Das ist nicht schlimm, aber schade, daß sie Štětí an seiner Stelle keine ebenbürtige sozialistische Kunst gab.

Poseidon auf Hel

Was ist der größte Luxus, den ein Hotel an der polnischen Ostseeküste haben kann? Alle Zimmer mit Meerblick selbstverständlich, eigener Strandzugang, aber besser noch gleich eine eigene Molo (Seebrücke). All das hat das OW Posejdon bei Jastarnia auf der Halbinsel Hel unweit der Trójmiasto. Daß es ein ośrodek wypoczynkowe (Erholungszentrum) und kein Hotel ist, beschreibt einen aus der sozialistischen Zeit herrührenden Unterschied im Zielpublikum – betriebliche Reisegruppen statt individuelle, vielleicht internationale Gäste – dem kein architektonischer entspricht.

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Spitze des Luxus ist also die weit ins flache Wasser der Zatoka Pucka (Pucker Bucht) hinausführende Molo.

Ihre Pfeiler wie ihr Boden sind aus Beton, ihr Geländer ist aus Stahl und in regelmäßigen Abständen unterbrochen für die stählernen Pfähle von Kugellampen. An einer Stelle verbreitert sich die Fläche und eine Treppe führt hinab auf einen niedrigeren Teil, der holzbedeckt als Bootsanlegestelle diente. In der Ferne liegt das andere Ufer der Bucht und wenn die Molo immer weiter führte, würde sie wohl irgendwann Gdynia erreichen.

Blickt man von der Molo zurück auf das OW Posejdon, sieht man es rechts, wo ein kleines Strandstück ist, von hohen Bäumen verdeckt, während links deutlich vom Ufer zurückgesetzt der Anfang seines Gebäudes ist.

Es ist dreigeschossig und in den beiden Obergeschossen ganz in Balkonbänder aufgelöst, deren Geländer unten geschlossenen und oben mit einem stählernen Teil transparent sind. Hierher zeigen zwischen regelmäßigen Trennwänden die dem Meer zugewandten Zimmer. Das Gebäude erstreckt sich mit drei leichten Rücksprüngen nach rechts, wo kurz vor seinem Ende der Flachbau von Speisesaal, Bar und Küche vorgesetzt ist. Dieser weiter nach rechts reichende Teil hat große Fenster und ein flaches Satteldach mit dicken Querbalken.

Ein verglaster Gang verbindet ihn mit dem Gebäude, in dem hier der Eingangsbereich mit Rezeption und einem verglasten Treppenhaus, das oben noch einen gläsernen Aufbau und offenbar eine Aussichtsterrasse hat, ist.

Von der anderen Seite, wo nach einem schmalen Gartenstreifen die Straße – wirklich die Straße, die einzige der Länge nach durch die schmale Halbinsel führende Straße – ist, zeigt sich das OW Posejdon verschlossen: nur freiliegende Laubengänge, Türen und oben schmale Badezimmerfenster. Diese Seite dient ganz der Erschließung der Zimmer. Auch die weiteren Treppenhäuser sind offen und quer in den durch die Rücksprünge des Gebäudes entstehenden Ecken angeordnet.

Hebt sich das OW Posejdon also alles Wichtige für die Uferseite auf, der Straße zeigt es etwa in der Mitte des Daches als Leuchtreklame sein Logo, einen stilisierten Poseidon mit Dreizack in einem Kreis,

und seinen Namen, in dem man leicht ein I statt einem J erkennen kann.

Für den Eingangsbereich ist das Gebäude um einen verglasten Vorbau, dessen Dach im zweiten Geschoß eine steingefließte Terrasse ist, erweitert und oben durch den Treppenhausturm betont, wirkt aber von außen dennoch ganz schlicht.

Vielleicht durch diesen Kontrast überwältigt das Innere: die Stützen holzvertäfelt, hölzerne Kassettendecke, Fußboden aus glatten schwarz-grauen Steinstücken mit Teppichstreifen, ein Hochbeet aus drei versetzten  und schräg verbundenen schmalen Rechtecken, das den links geradeaus führenden Durchgang zum Speisesaal locker vom Treppenaufgang und der Rezeption rechts separiert,

An der Wand der Treppe ist ein buntes Mosaik aus Keramikbruchstücken, das eine Art Seestern und einen Fisch zeigt.

Vor allem ist dort aber verschwenderisch viel Platz und Licht.

Außer dem Eingangsbereich gibt es zwei weitere Durchgänge durch das lange Gebäude und beide sind angemessen gestaltet. Im mittleren ist eine Karte der östlichen polnischen Ostseeküste neben der Aufschrift „Pobrzeże Gdańskie“ (Gdańsker Küste) und einer Strandszene, als sollte damit das OW Posejdon auch künstlerisch an seinem Ort verankert werden.

Links schließt sich an den Durchgang die sogenannte Oranżeria (Orangerie) an, ein langer und aufgrund der Gestalt des Gebäudes schmaler Raum mit großen Fensterfronten, in dem einige Tische und Stühle, eine Tischtennisplatte und ein Billardtisch stehen.

Sie ist ein Aufenthaltsraum, in dem die Gäste die Sonne auch bei kühlerem Wetter auskosten können, und entsprechend dem Namen stehen bei den Fenstern vielerlei immergrüne Pflanzen. Der Boden ist wieder aus dunklem Stein, die Stützen an der Straßenseite sind durch horizontal geriffelte Holzverkleidung viel breiter als die an der Meerseite und zwischen ihnen stehen als ungewöhnlichstes Einrichtungsstück dreistufige Holzbänke, die ein angedeutetes Amphitheater mit Blick in den Raum und hinaus in den Garten und letztlich zum Meer bilden.

An der abschließenden Wand ist ein Bild in unauffälligen Farben, Weiß, Hellgrün, Orange und Schwarz. Während das Bild bei der Karte in einem stilisiert-realistischen Stil, der zu Werbeprospekten der Zeit passen mag, gehalten ist, will dieses Wandbild ein Kunstwerk sein. Es zeigt einen Förderturm, eine Geige, eine Pinsel, eine Feder, eine Säule, ein geöffnetes Buch, ein Gesicht und rechts oben zwei gekreuzte schwarze Hämmer neben Blättern, aber nicht einfach neben- und übereinander, sondern einander durchdringend, sich halb aus den Farbflächen formend und in das nächste Motiv übergehend. Zusammengehalten wird das durch eine hellgrüne Fläche im Hintergrund, die etwa den Umrissen Polens entspricht.

Auf halbabstrakte Weise ist so eine Verbindung zwischen Bergbau und den Künsten dargestellt, aber mehr als eine leichte, hübsche Ergänzung für den Ort kann und will das Bild wohl nicht sein.

Im letzten Durchgang, neben dem ein Raum für verschiedene Kuranwendungen ist, besteht das Wandbild nurmehr aus einem schmalen Band mit schwarzen Rändern, das so etwas wie Gesteinsschichten im Durchschnitt und darin zwei schwarze und zwei weiße gekreuzte Hämmer zeigt.

Die Farben ähneln dem Bild in der Orangerie und es ist als eine Art Fortsetzung der dort anklingenden Bergbauthematik zu verstehen.

Heute sind die Kunstwerke, zu denen im weitesten Sinne auch die gekreuzten Hämmer im Tor und ein Hochbeet in dieser Form im straßenseitigen Garten gehören, das einzige, was noch an die Geschichte des OW Posejdon erinnert.

Es wurde um 1970 als Ferienobjekt für die Bytomskie Zjednoczenie Przymyslu Węglowego (Bytomer Kohleindustrievereinigung) errichtet, um den schlesischen Bergarbeitern Urlaub an der Ostsee zu ermöglichen. Auf alten Bildern kann man noch sehen, daß dort, wo nun Büsche und Schilf wachsen, einmal ein größerer Strand war und auf der Molo Bänke standen.

Alles am OW Posejdon ist so schlicht und zurückhaltend, so ganz an seinen Ort und das Meer angepaßt, so selbstverständlich funktional, daß man es leicht für etwas Normales halten kann. Daß alles auch ganz anders sein kann und allzuoft ist, zeigt dabei schon der Ort Jastarnia, an dessen äußerstem Rand es steht, zum Glück mit genug Abstand. Dort ist das ganze Chaos eines kapitalistischen Ferienorts, kein Haus, das nicht wenigstens Zimmer vermietet oder gleich zum improvisierten Hotel ausgebaut wurde, keine Ecke, an der in der Saison keine Verkaufsbude steht, keine freie Fläche ohne Werbung und vor allem keinerlei Planung, die all das irgendwie zusammenhält. Davon frei zu sein, das ist der Luxus des OW Posejdon. Es ist ein dezidiert sozialistischer Luxus, der nicht in den individuellen Zimmern, sondern in der Großzügigkeit und den verschiedenen Möglichkeiten der Gesamtanlage zu suchen ist. Es ist ein Luxus, der noch immer als einziger anzustreben ist.

 

Heldenbergen – Evangelische Kirche und Schloß

Wenn man aus dem Vortor des im Besitz der Familie Von Leonhardi befindlichen Heldenbergener Schlosses tritt, sieht man nicht nur vor sich die katholische Kirche, sondern auch links zwischen den Bäumen, offenbar auf der anderen Flußseite, einen zweiten Kirchturm, spitzer, ebenfalls schwarz.

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Auch vom  Gelände der katholischen Kirche sieht man den zweiten Turm, offenbar außerhalb des alten Ortskerns.

Tatsächlich läßt man das alte Heldenbergen hinter sich und überquert Wasser, um zur zweiten Kirche zu gelangen, aber es gehört heute zu einem Altarm der Nidder. Die dazugehörige Brücke wurde mit rotem Steingeländer und drei Sitzecken gestaltet, in einer von welchen neben Blumenkästen auch ein Johannes von Nepomuk steht. Das geschah laut einer Inschrift erst 1996 und es paßt gut in die Tradition des Orts, daß der Nepomuk zu klein ist.

Umso mehr erstaunt, daß das so ostentativ katholische Heldenbergen eine alte evangelische Kirche haben sollte, wie es der Turm aus der Ferne andeutet. Sobald man die wirkliche Kirche, die kurz vor der Brücke über den heutigen Lauf der Nidder steht, erreicht, erklärt sich das sofort.

Nach dem freistehenden eingeschossigen Pfarrhaus, das weiße Backsteinmauern und auch an der Giebelseite schwarze Satteldächer für die Doppelgarage und den Wohnteil hat, besteht sie aus vier Gebäudeteilen mit entsprechenden Mauern und schiefergedeckten schwarzen Zeltdächern.

Die drei niedrigeren und größeren haben jeweils quadratische Grundrisse, sind aber unterschiedlich groß und hoch. Von diesen wiederum bilden zwei rückwärtig abseits der Straße das Gemeindezentrum, während der größte rechts zur Straße hin den Kirchensaal beherbergt.

Inmitten dieser verbundenen L-Form steht an der Straße völlig frei der Turm, der den übrigen Teilen ähnelt, aber auf kleinerem quadratischem Grundriß viel höher und damit spitzer aufragt. Oben hat er eine filigrane Wetterfahne mit Hahn, die ganz denen von traditionellen Kirchtürmen der Wetterau entspricht.

Allein durch die Spitze und deren Abschluß, nicht durch irgendwelche weitergehenden historistischen Details, konnte aus der Ferne der Eindruck einer alten Kirche entstehen, was angesichts des entschieden katholischen Heldenbergen widersinnig erscheinen mußte. Das ist eine ganz erstaunliche architektonische Leistung, dank der die evangelische Kirche sich in das historische Ortsbild geradezu einschleicht, ohne aber irgendwelche Kompromisse zu machen. Denn wenn man bei der Kirche steht oder im offenen Bereich um den Turm, zu dem die Eingänge zeigen und der mit Betonpflaster und Bänken aus Beton und Holz nicht ganz Hof, mit Rosen und einem zentralen Magnolienbaum nicht ganz Garten ist, dann ist jeder Gedanke an alte Kirchen vergessen.

Dies ist ein vollendetes Kirchenensemble aus dem Jahre 1968, das im Übrigen auch katholisch sein könnte. Während die andere Kirche sich so sehr bemühte und so sehr scheiterte, gelingt dieser alles und mit scheinbarer Leichtigkeit.

Unterhalb des Dachs des Saalteils verlaufen horizontale Bänder mit blauen Glasmustern und in seiner Kupfertür ist ein Reliefstreifen, der links einen Wolf im Wald vor einer Stadt und rechts einen Schäfer mit Schafen und Hund vor seiner Hütte zeigt. Er befindet sich etwas unterhalb der Mitte, so daß die linke Klinke vom vorgewölbten Teil eines Baums und die rechte vom Horn eines Schafbocks gebildet wird.

Dieser minimale figürliche Schmuck mit minimaler, aber klarer religiöser Bedeutung, ist wertvoller als fast alle ungeschickt plazierten Skulpturen der katholischen Kirche.

Die evangelische Kirche von Heldenbergen ist eben zu Hause in der westdeutschen Sakralarchitektur der Nachkriegszeit, während die katholische etwas sein will, das sie nicht sein kann. Wie um das Feingefühl für den Ort, das ihre Architektur besitzt, zu unterstreichen, trägt diese zwischen zwei Brücken gelegene Kirche den Namen Brückenkirche. Wenn man von der zweiten Brücke zu ihr blickt, kann man neben oder zwischen den schwarzen Pyramiden ihrer Dächer manchmal den Turm der katholischen Kirche sehen und er paßt gut dorthin, besser vielleicht als zu seiner eigenen Kirche.

Das Schloß aber ist von keiner der Kirchen auch nur zu erahnen. Obwohl es leider zum Verständnis des Orts unabdingbar ist, erfreut es doch, daß es hier noch Anderes und Wichtigeres gibt. Die wahre Heldentat wäre es, den Schloßpark für den Ort, für die ganze Stadt Nidderau, zu der Heldenbergen heute gehört, zu erobern. Wenn es klassenkämpferische Politik oder wenigstens rebellisch gesinnte Jugend in den dann endlich richtig benannten Heldenbergen gäbe, auf den Mauern um das Schloß stünde: „Von Leonhardi enteignen! Schloßpark für alle!“

Strážnice 1956

Am unteren Ende des Platzes (náměstí, dialektal auch rynek) von Strážnice steht ein Gebäude, das erst einmal nicht nach viel aussieht. Rechts von ihm verläuft die bald nach rechts abbiegende Durchgangsstraße, links von ihm eine kleine, fast unmittelbar nach links abbiegende Gasse.

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Es ist zweigeschossig mit überstehendem Walmdach, braunem Putz und weißumrandeten Fenstern, die mal schmaler, mal breiter sind. Sogar, daß das Gebäude über und über mit Sgraffito im Braun des übrigen Putzes, dunklerem Braun und Weiß bedeckt ist, genügt noch nicht auf den ersten Blick, es zeitlich einzuordnen – dazu muß man das Dargestellte betrachten und die dazugehörigen Texte lesen.

Auf der Vorderseite nimmt das Sgraffito den Bereich zwischen den beiden Geschossen ein, wo die Figuren auf einer Linie stehen. Nur rechts und links vor den letzten, breiteren Fenstern vergrößert sich die Fläche nach unten mit einer herausgehobenen, gleichsam hervorgetretenen Figur und nach oben mit einem kurzen Text, um unten wie oben mit Ornamenten aus der örtlichen südostmährischen Tracht abgeschlossen zu werden. Links ist diese Figur eine Bäuerin, die eine Heugarbe auf der Schulter trägt, und der Text ist aus dem „Píseň práce“ (Lied der Arbeit), der vielsprachig verbreiteten Hymne der österreichischen und später tschechoslowakischen Linken:

„Již zazni, písni vzenesená,/o práci, která vrozená/přírodou lidstvu jest./Vše čeho člověk užívá/ z šlechetné práce vyplývá/ buď práci čest“ (Erklinge, erhabenes Lied/von der Arbeit, die der Menschheit/von Natur aus angeboren ist./Alles, was der Mensch benutzt/geht aus edler Arbeit hervor./Der Arbeit sei Ehre)

Links von ihr sind Tanzende und eine zweite Bäuerin, die zu ihnen blickt, und rechts ein Weinbauer neben einer Rebe und drei zu ihm blickende Industriearbeiter.

Mittig sind ein Mann, der zwei nach rechts gewandte, sich aufbäumende Pferde beidseits von sich am Zaum hält, und ein nach rechts eilendes Paar in Tracht, der Mann mit Holzfällerbeil.

Dort rechts sind dann nur noch viele Tanzende in Tracht, aus denen ein Mann, der mit einladender Bewegung grüßt, hervorgehoben ist, während über ihm Zeilen aus einem lokalen Volkslied stehen.

An den anderen Gebäudeseiten nimmt das Sgrafitto die fensterlosen Flächen, die auf die Ecke folgen, ein und über der von der Vorderseite übernommenen, nicht fortgesetzten Linie ist nur noch ein kleiner Teil der Gesamtszenen. An der rechten Seite stehen unter der Linie zwei Zeilen aus einem Pionierslied:

„Chceme zpívat, chceme smát se, jako louka v máji kvést/Prápor míru, prápor práce v čele mládi lidstva chceme nést“ (Wir wollen singen, wir wollen lachen, wie die Wiese im Mai blühen/Die Fahne des Friedens, die Fahne der Arbeit wollen wir an die Spitze der Jugend der Menschheit tragen)

Von rechts unterhalb davon laufen sich an den Händen haltende Kinder in Tracht im Bogen nach rechts zu einer Gruppe von Kindern, die auf der Linie steht und einen Schwarm weißer Tauben über sich aufsteigen läßt.

An der linken Seite stehen rechts und nach rechts gewandt drei sowjetische Soldaten im stilisierten Kampf, einer mit Bajonett am Gewehr, einer mit Handgranate und Maschinenpistole, der dritte dahinter mit links erhobener Pistole und rechts weit oben an der Stange gegriffener Fahne, so daß sie zwar weht, Hammer und Sichel aber verkehrt herum zu sehen sind. Weiter links ist ein Sowjetsoldat getroffen und liegt im Arm seine Kameraden, während darüber ein Mann in angedeuteter, nicht festlicher Tracht einem weiteren Soldaten die Richtung weist. Das lange Gewand einer Frau leitet nach links unten zu einer weiteren Szene mit drei Kindern, einer Frau und einem bloßhäuptigen Soldaten über. Sie stehen um einen liegenden Helm, auf den ein Mädchen Erde streut, ein Begräbnis, doch zugleich weist der junge Baum, den die Frau am Stamm hält, auf einen Neubeginn hin.

So gerahmt steht unter der Linie ein Gedicht von František Hrubín, der mit Abstand längste Text, auch wenn die drei letzten Zeilen übermalt sind:

Nad městem oblaky máje
v dým požárů se promění
a v krutých mozcích už zraje
jen smrt a mučení,
smrt stařen, žen a dětí,
už není slz, už není slz,
jen rány, první, druhá, třetí …
a čtvrtou nestihls,
ty mrtvý na své barikádě,
ta čtvrtá patří nám,
někomu z nás v té řadě,
v níž končím – začínám,
já, bezejmenný, já,
já voják svého lidu.
Krasnaja Armija,
pomoz mi, slyš mou bídu,
vím, daleko je k nám,
pro slávu revoluce
pomoz mi, jsem tu sám
a mám jen holé ruce …
Über der Stadt verwandeln sich die Wolken
des Mai in den Rauch von Bränden
und in grausamen Hirnen reift nur
noch Tod und Folter,
Tod von Alten, Frauen und Kindern,
keine Tränen mehr, keine Tränen mehr,
nur Schüsse, der erste, zweite, dritte…
und mit dem vierten trafst du nicht,
du Toter auf deiner Barrikade,
der vierte gehört uns,
jemandem von uns in dieser Reihe,
in der ich ende – beginne,
ich, Namensloser, ich,
ich Soldat des Volks.
Krasnaja Armija,
hilf mir, erhöre mein Elend,
ich weiß, es ist weit zu uns,
für den Ruhm der Revolution
hilf mir, ich bin hier allein
und habe nur bloße Hände…

 

 

Das Gedicht ist der Schlüssel zum gesamten Kunstwerk. Inspiriert vom Prager Aufstand im Mai 1945 ist es so etwas wie ein kommunistisches Gebet, in das die russischen Worte für „rote Armee“ eingestreut sind wie es in einem katholischen Gebet lateinische Worte sein könnten. An der Hauswand ist die Erfüllung des Gebets zu sehen und das Dargestellte ist von links nach rechts zu betrachten und zu lesen. Links Kampf- und Neubeginn, vorne links, wo die Tanzenden übrigens zwei sowjetische Soldaten und ein Mann und eine Frau in Tracht sind, befreite Arbeit, vorne rechts Lebensfreude mit lokaler Folklore, rechts die Jugend im weiteren Kampf für den Frieden.

Das ist für ein tschechoslowakisches Kunstwerk dieser Zeit, die Signatur lautet „K 56“, erstaunlich gut. Das ist gelungener sozialistischer Realismus. Die Figuren sind nicht bloß realistisch, es ist Leben und Bewegung in ihnen. Die Darstellung ist in wenigen Linien und Schattierungen genau so detailliert, wie sie sein muß, um die einzelnen Figuren zu mehr als Typen zu machen und zugleich nicht vom Gesamtbild abzulenken. Es paßt da, daß der Weinbauer, der auf der linken Seite mit einer Weinbäuerin, einem weißen Rundbogen, Ornamenten und einem krönenden Hahn die Tür rahmt, angeblich die Gesichtszüge des damaligen Bürgermeisters Cundrla hat.

So erstaunlich es ist, Strážnice besitzt ein wertvolles sozialistisches Kunstwerk.

Wenn nur das Gebäude nicht wäre! Es ist ja nicht einmal, daß es besonders stalinistisch wäre, es hat nichts Monumentales und außer dem Sgrafitto, zu denen weiter hinten an den Seiten noch Blumenbouquets gehören, nur ein rotes ornamentales Band unter dem Dach und ein blaues an den Wänden des tiefen Eingangs, aber es ist so ungenügend für die Bauaufgaben der Zeit. Es ist Blockrandbebauung, schließt rechts hinten sogar an ein dörfliches Häuschen an und hat innen einen Hof mit Laubengängen zur Erschließung der Wohnungen, was wohlmöglich sogar irgendwie kollektiv gemeint war, aber kein Unterschied zu großstädtischen Mietskasernen darstellt.

Was könnte Strážnice sein, wenn ein paar Jahre später an der Stelle ein Wohnhochhaus errichtet und das Kunstwerk auf der Wand seines Sockelbaus angebracht worden wäre! Doch leider gab es, als die tschechoslowakische Architektur zu neuen Höhen fand, solcherlei Kunst noch seltener als auch im Jahre 1956 schon. Immerhin hat Strážnice etwas, was es selten gibt.

Heldenbergen – Schloß und katholische Kirche

Alles in Heldenbergen muß man in Verbindung zu seinem Schloß sehen. Es steht erhöht am Hügel über der Nidder, der so sehr ein Berg ist wie die Schloßherren Helden, wodurch der Name, der vermutlich eine andere Etymologie hat, nicht weniger hübsch wird. Vom Ort ist das Schloßgelände in Richtung Fluß außer durch den Hang auch durch rote Mauern abgetrennt, während auf der anderen Seite ein hoher Holzzaun und eine große Straße, die einem reißenderen Fluß als der Nidder gleicht, verlaufen.

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Durch Fachwerkgebäude und ein Vortor kommt man zwar bis vor das mehr oder weniger barocke Schloß, an dem besonders die 1803 vorgesetzte Kapelle mit ihrem kleinen, noch sehr barocken Zwiebeltürmchen auffällt, und kann nach rechts zu einer historistischen Villa in einem riesigen Garten blicken, doch das bleibt eher eine Inhaltsangabe als eine wirkliche Lektüre dieses Ensembles, da im Torbau verschiedene Privatwohnungen sind und der Rest seit 1886 im Besitz der Adelsfamilie von Leonhardi ist, weshalb der riesige Park völlig unzugänglich bleibt.

Aber aus dem Vortor zu treten und den Verbindungsweg zum Ort, an dem rechts über dem Hang Kastanien aufgereiht sind, zu gehen, ist unbedingt nötig, um Heldenbergen zu verstehen.

Etwas links der Achse ragt da ein hoher, typisch mehrstufig schmaler werdender schieferverkleideter Kirchturm auf.

Zu dieser Kirche gelangt man völlig zwangsläufig auf der Hauptstraße, die mit einigen Querstraßen und einer weiteren Straße unten am Fluß den alten Kern von Heldenbergen bildet.

Falls die Schloßkapelle noch Zweifel gelassen hatte, wird sehr schnell klar, daß diese Kirche eine katholische und Heldenbergen ein katholischer Ort ist. Die Seiten ihres eine ganze Haushöhe links oberhalb der Straße liegenden terrassenartigen Geländes bestehen aus rotem Mauerwerk und oben steht in der Ecke eine nur kleine rote Statue mit Totenkopf in der Hand, die die Hauptstraße entlangblickt. In einer Linie darunter kniet in einer rundbögigen Nische ein roter Jesus, der zu einem links in der Wand hängenden Engelsgesicht betet.

Ein Eingang zu dem Gelände ist an der hier neben ihm ansteigenden Querstraße, doch der wichtigere ist an seinem anderen Ende, wo ein Fachwerkhaus die Ecke bildet. Hinter einem Tor führt eine steile Treppe in die Mauer hinein nach oben und an beiden Seiten stehen hoch oben wie auf enormen Torpfosten graue Skulpturen, links Petrus, rechts Paulus. In einer Nische links in der Mauer ist außerdem eine rote Pietà.

Oben auf dem Gelände kann man mit der Statue in der Ecke, die den als Heiligen verehrten, aber nie offizielle heiliggesprochenen Gottfried von Cappenberg zeigen soll, die Straße entlangschauen oder sich einem Kreuz und einer größeren Pietà, die dort zwischen hohen Bäumen stehen, widmen.

Zwei barocke Grabsteine gegenüber dem Kirchenportal, zwischen dessen gebrochenem Dreiecksgiebel noch eine Maria ist, und einer aus der Renaissance weiter hinten blieben vom Friedhof.

Die schräg zur Straße stehende Kirche fällt dagegen ab, sie ist bloß groß mit regelmäßigen Rundbögenfenstern. Einzig der am Ende zur Straße zeigende Anbau ist mit zwei längsovalen Fenstern im unteren Teil etwas ungewöhnlicher.

Offenkundig bemüht sich diese Kirche, so katholisch zu sein wie nur möglich, und irgendwie gelingt ihr das auch, aber nichts daran ist besonders schön oder geschmackvoll. Die Skulpturen sind allesamt so angebracht, daß man sie nicht gut sehen kann, oder aber von geringer Qualität. Am gelungensten ist noch die Pietà an der Treppe, die Jesus mit links von Marias Schoß hängendem Kopf zeigt, während sie rechts seine schlaffe Hand in ihrer erhobenen hält, doch auch sie kann man weder von der Straße noch von der Treppe gut betrachten.

Die Skulpturen scheinen auf dem Gelände etwas beliebig herumzustehen, weil eine katholische Kirche sie eben braucht, aber ganz ohne die innere Notwendigkeit eines zusammenhängenden Ensembles, das erst wirklich katholisch wäre. Wiewohl selbst aus der Mitte des 18. Jahrhunderts wirkt die Heldenbergener Kirche wie eine Epigonin barocker Kirchen aus katholischen Landstrichen. So gerne sie etwas anderes wäre, bleibt sie eben doch eine Wetterauer Dorfkirche, die ebensogut protestantisch sein könnte, und so sieht man ihr mit ihren Bemühungen auch deren Scheitern an.

Gute katholische Architektur braucht offenbar nicht nur Katholizismus, sie braucht starken, allumfassenden Katholizismus. Tschechische Barockkirchen etwa sind nicht nur so vielfältig und oft gelungen, weil in einem Ort ein Baumeister so gut baute, sondern weil in allen Orten im Umkreis von hundert Kilometern ähnliche Kirchen standen. Qualität entsteht durch Wiederholung und wie sollte das in der Quasidiaspora möglich sein? Die einzige Alternative wäre, sich eben nicht an fremden Vorbildern zu orientieren, sondern innerhalb der regionalen Traditionen etwas Eigenes zu schaffen, aber dafür sind in Heldenbergen nicht einmal Ansätze vorhanden. Den Schloßherren reichte wohl ihre eigene, zierlichere Kapelle und der Blick zur Kirche. Und außerdem gibt es in Heldenbergen noch eine weitere Kirche.

Amsterdamer Juwelen

Ein Laden an der Ecke Singel/Koningsplein, Hausnummer Koningsplein 1 (Königsplatz 1), mithin einer sehr guten Lage im Zentrum von Amsterdam, und eine Ladenarchitektur von solch luxuriöser und doch zurückhaltender Eleganz, daß das beliebige historistische Gebäude darüber unsichtbar wird.

Große Schaufenster links und rechts sind in glatten schwarzen Stein gefaßt. Vor der Ecke tritt die steinverkleidete Wand leicht zurück, was nur unten durch eine Schräge abgemildert ist, rahmt zwei kleinere Fenster und verläuft geschwungen zum direkt in der Ecke gelegenen, gar nicht großen Eingang, wozu sie eine vertikale Rillenstruktur bekommt. Darüber ist ein unregelmäßiges Muster aus quadratischen Kacheln in matten, irgendwie herbstlichen Gelb-, Orange-, Braun-, Ocker-, Gold-, Rot-, aber auch Blau- und Grüntönen. Links und rechts sind nur rahmenartige Stellen neben Fenstern aus vertikalen matten Glasstreifen so verkleidet, während noch darüber ein Band mit der schwarzen Steinverkleidung Platz für den Ladennamen läßt, aber in der Mitte über dem Eingang bilden die blaß-bunten Kacheln eine einzige große abgerundete Fläche. Diese Kacheln leuchten nicht, aber sie wirken gerade dadurch teurer, wie etwas, daß nicht überall zu haben, sondern speziell für diesen Laden angefertigt ist. Vielleicht sind die Farben auch deshalb so zurückgenommen, damit die Schaufenster umso heller strahlen können.

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Rechts folgt auf das hier längere Schaufenster noch ein zurückgesetzter zweiter Eingang mit einer roten Tür, die ebenso kompliziert und kleinteilig ist wie der übrige Laden einfach und großflächig. Vor dem schmalen vertikalen Fenster in ihrer Mitte bilden schmiedeeiserne Rechtecke, Kreise und geschwungene wie gerade Linien ein abstraktes Muster, während das Holz ringsherum zu konzentrischen Rechtecken geformt ist.

So entsteht ein Trompe-l’œil, ein Eindruck, als sei das Muster in weiter Ferne und man könnte zu ihm auf den vielleicht nur wegen des Lichts heller wirkenden unteren Linien der Rechtecke hingehen, wenn nicht direkt vor diesen horizontale Metallstreben wären. Zu dieser Tür leitet der schwarze Stein leicht geschwungen hin und darüber ist die Kachelverkleidung für eine kleinere Glasfläche aus vertikalen Streifen unterbrochen. Im schwarzen Stein der Decke sind zwei runde weiße Lampen und auf dem Boden sechs längere weiße Streifen und dann kurz vor der Türschwelle versetzt fünf kürzere.

Die Tür des Nebeneingangs ist wie ein Juwel versteckt in der Ladenarchitektur, aber ihr entscheidendes Element bleibt die Kachelverkleidung. Sie ist es, die die letztlich recht klassische Gestaltung des Ladens nicht nur in ihre Gegenwart holt, sondern über diese hinausweisen läßt. Der Architekt Harry Elte (ansonsten für Bauten für die jüdische Gemeinde bekannt und später von den Deutschen ermordet), der den Laden für den Juwelier Spyer (auch Spijer geschrieben) gestaltete, verewigte sich rechts des Eingangs im Stein, aber leider ohne Jahreszahl, so daß man nicht ohne weiteres erfährt, daß die Gestaltung von 1929 ist, also an die dreißig Jahre älter, als man im flüchtigen Vorbeigehen schätzen könnte.

Am Koningsplein sieht man so nicht nur eine besonders gelungene Verwendung von unregelmäßigen Kachelmustern in der Ladenarchitektur, sondern eine sehr frühe. Hier ist vorweggenommen, was von den fünfziger bis mindestens in die siebziger Jahre eine der beliebtesten Mittel der Ladengestaltung war. So vertraut sind solche Kachelmuster von den Metzgern der westdeutschen Provinz bis zu den Kaufhallen der DDR und noch weit darüber hinaus, daß man über sie bei diesem Juwelier in Amsterdam gar nicht staunt. Wieder einmal sieht man hier das Schicksal von Architektur, die ihrer Zeit voraus ist: sie wird so normal, daß sie fast unsichtbar wird.

Vom Juwelier, später zu Ace & Spyer zusammengeschlossen, waren im Coronasommer 2020 noch viele Spuren vorhanden, aber die billigen Werbeuhren beidseits des Eingangs, die billige Werbung auf den Rollläden und das billige Logo auf der zentralen Kachelfläche zeigen den langen Niedergang eines Traditionsgeschäfts an. Über die Schließung kann man so kaum mehr traurig sein. Wie ein Juwel ist der Laden auch, ohne daß man Juwelen darin kaufen kann, vielleicht sogar noch mehr.

Zwei Belvedere

Es ist wahr, daß das BelvederePrinz Eugenio von Savoys Landsitz in Wien – von oben zu betrachten ist. Es ist wahr, daß es ein Fließen von Wasser, Garten und Architektur den Hang hinab zur Stadt ist. Das Obere Belvedere ist zu Garten, Hang und Stadt ausgerichtet.

Wie sein an den Seiten bloß zwei hohe Geschosse umfassender Baukörper nach jeweils nur vier Fenstern um ein weiteres Geschoß ansteigt und nach fünf weiteren Fenstern mit dem Mittelteil nach vorne tritt und noch etwas höher wird, wobei Geschoß- wie Fenstergrenzen unwichtig werden. Wie noch mehr die kupfernen Walmdächer hinter Brüstungen mit Skulpturen, die sie nicht verstecken und nicht verstecken sollen, Stufen nach oben und dann nach vorne bilden. Wie das Gebäude so gleichsam eine Pfeilform bekommt und seine Bewegung nach vorne durch das transparente Erdgeschoß des Mittelteils noch betont wird. Wie die vier achteckigen Türme in den Schmalseiten mit ihren hohen Kuppeldächern hinter den Brüstungen die Bewegung bremsen, das Gebäude festhalten, als nüchterne Eckpunkte seine Waghalsigkeit in vernünftige Bahnen leiten. All das ist wahr.

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Aber es ist zu ergänzen, daß das 1726 fertiggestellte Obere Belvedere der neuere Teil des Ensembles ist. Das ältere Untere Belvedere von 1716 hat einen deutlich anderen Charakter. Es ist so lang wie sein oberes Gegenstück, aber anders als dieses wirkt es auch lang. An den Seiten hat es nur ein hohes Geschoß und im langen ziegelgedeckten Mansarddach einige Fenster. Der Mittelteil ist leicht vorgesetzt, vor allem aber durch Brüstungen mit Skulpturen vor den Enden der Dächer und ein weiteres Geschoß mit weiterem, spitzerem Mansarddach hinter Brüstungen und Skulpturen betont. Die seitlich abschließenden Teile haben vor ihren spitzen Mansarddächern gar dreieckige Tempelgiebel, ein antikisierendes Motiv, das die seitlichen Türme des Oberen Belvedere eher zitierend und viel kleiner aufnehmen.

Es ist dies die Gartenseite des Unteren Belvedere, denn ausgerichtet ist es eigentlich zur Straße, zum Rennweg, zu dem es einen wegen dessen Verlauf unregelmäßigen Vorhof hat. Das Untere Belvedere ist damit ein recht typisches, recht mediokres Barockschlößchen, das in Wien nicht auffallen würde.

Auch sein Garten ist nicht weiter bemerkenswert: Skulpturen stehen auf Sockeln vor Wänden aus Hecken, die rechteckige Bereiche mit Senken umschließen. Wenn man von hier aus zum Oberen Belvedere hinaufblickt, sieht man vielleicht noch keine Bewegung nach unten, sieht es überhaupt kaum. Zwischen der unteren und der mittleren Ebene des Gartens ist eine deutliche Stufe, der Brunnen könnte auch, wie er es ursprünglich war, in einer abschließenden Wand sein und die seitlichen Treppen wie Rampen sind steil.

Die beiden oberen Ebenen des Gartens aber sind an den Seiten mit durchgehenden, sanft ansteigenden Wegen verbunden, in die die mittlere wie eingebettet ist, und der Brunnen hat viele Stufen, die man von beiden Ebenen gut betrachten kann. Hier gibt es keine Grenze, kein Hindernis mehr, hier beginnt alles zu fließen. Hier stehen die Skulpturen frei, wenn auch vielleicht in Wasserbecken, haben keine oder sehr niedrige Sockel und wollen von allen Seiten betrachtet werden.

Das gleicht gilt, bei aller Bedeutung seiner Bewegung zum Garten, zum Hang, zur Stadt hin, für das Obere Belvedere, das auch von Straßen nichts mehr weiß. Es ist kein Zufall, daß seine seitlichen Türme an mittelalterliche Burgen oder Renaissanceschlösser erinnern, denn wie solche steht es frei, losgelöst von der Stadt. Hier erst ist das Belvedere es selbst.

Das Belvedere ist ein Ensemble, aber es besteht nicht aus gleichwertigen Teilen. Das Untere Belvedere ist ein konventionelles Barockschloß mit dem Garten hinter sich, das Obere Belvedere aber hat den Garten, die namensgebende Aussicht und ganz Wien vor sich. Es verleibt sich auch den unteren Garten samt Gebäude ein. Das Obere Belvedere braucht das Untere nicht, aber dieses wäre ohne jenes völlig wertlos. Niemals wäre das Untere nach dem Oberen Belvedere errichtet worden, denn sein Fließen will einen ganz anderen Abschluß oder nein, noch lieber will es gar keinen Abschluß, es will als Flut immer weiter, alles wegspülen, um Platz für Neues zu schaffen. Da das unmöglich war, ist das Untere Belvedere als Abschluß so gut und enttäuschend wie jeder andere es wäre.