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Die Welt in Rüdesheim

Rüdesheim, das ist das Westdeutschland der fünfziger Jahre angereichert mit all dem Schlechtesten dessen, was davor und danach kam. Jedes Hotel und jede Weinstube hat biederes Sgraffito im blassen Putz, das Trauben, Ranken oder trinkende Menschen zeigt, und Neonschilder. Zugleich ist überall eine veraltete Internationalität, ein Hotel hat einen Tea Room und viele Schilder sind auf Japanisch für Touristen, die es zwar wohl noch gibt, die aber nicht mehr die einzigen oder wichtigsten aus Asien sind. Seinen reinsten Ausdruck findet die Zeit, die in Rüdesheim nie endete, in einem der flachen Ladenvorbauten der historistischen und Nachkriegshotels in der Rheinstraße, die wie der Name sagt am Fluß entlangführt und trotz starkem Autoverkehr und der noch davor verlaufenden Bahnstrecke durch den Blick ins Rheintal halbwegs angenehm ist.

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Es ist genauer gesagt nur der rechte Teil eines solchen Vorbaus, den ein winziger Durchgang vom nächsten trennt.

Er hat ein links die Ecke umlaufendes leicht vorgesetztes Schaufenster im Goldrahmen, hinter dem eine runde Stütze zu sehen ist, eine Glastür, deren schräger Stahlgriff teils mit schwarzem Kunststoffband umwickelt ist, und eine Verkleidung aus unregelmäßigen glatten Steinstücken in Schwarz, Grau und Hellgrau, zwischen die sich einige goldene mischen.

Unter dem leicht überstehenden flachen Dach und der orange-weiß gestreiften Markise ist ein milchiges und einst wohl leuchtendes Glasband, das die internationalen Kunden begrüßt. So steht an der linken Seite unter einem Torero „buenas dias“, unter einer Gondel „buena sera“, unter einem unklaren Schloß und einem Wappenschild in den belgischen Farben „Bonjour“, unter dem Big Ben „Good day“,

unter dem Eiffelturm „Bonjour“, unter einer Hochhaussilhouette „Helloh“, unter dem Stockholmer Rathaus „Hej Hej“, unter einer Windmühle „Welkom“ und neben der auf einem Stein sitzenden Kopenhagener Meerjungfrau „God dag“.

An der schmalen Vorderseite des Schaufensters steht zwischen dem die Rheinstraße abschließenden Adlerturm und einem stilisierten Stadtwappen mit Jakobsmuschel, die jeweils von Weinblättern und -reben geschmückt sind: „Willkommen in Rüdesheim“.

Über der Tür steht wie ergänzend über einem Schweizer Wappen „Grüezi“ und neben einem Eiskristall „hyvää päivää“.

Es ist ein Panorama der ganzen westlichen, das heißt mit Ausnahme der USA, westeuropäischen Tourismuswelt der fünfziger Jahre, mit dem sich der Laden schmückt. Die jeweiligen Attraktionen der Länder sind so bieder stilisiert dargestellt, daß sie auch zwanzig, vierzig Jahre vorher nicht aufgefallen wären, die Grußformeln sind in einer Schreibschrift abgefaßt und haben jeweils rote Anfangsbuchstaben. Vielleicht richtet sich all das auch eher an die deutschen Touristen und Ausflügler, denen es diesen Tourismusort mit anderen, Zielen der Sehnsucht, die aber erreichbar scheinen, verbindet.

Künstlerischer Höhepunkt der Ladengestaltung sind leicht schräg angebrachte Mosaikbänder im schmalen Pfosten rechts der Tür, die von oben nach unten die Flaggen folgender Länder zeigen: Schweden, USA, Niederlande, Großbritannien, Dänemark, Frankreich und Belgien. Auch diese Auswahl, die vielleicht nur aus Platzgründen nicht ganz der im Scheibenband entspricht, zeigt das Westeuropa plus die USA, das für die westdeutschen Fünfziger die Welt darstellte.

Verkauft wird in dem Laden heute wie zweifelsohne damals allerlei Kitsch und Nippes, all die Figürchen und Souvenirgläser, die für wenig Geld von Ausflügen mitgebracht werden, um dann in Regalen oder Vitrinen zu verstauben.

Es gibt in der Rheinstraße zu Rüdesheim ein Dutzend weiterer Läden mit demselben Zeug, doch in keinen paßt es so gut, in keinen gehört es so sehr wie in diesen. Im November 2020 zur Zeit des zweiten Lockdowns kündigte ein kleines Schild einen Räumungsverkauf an, also wird zumindest diese Enklave Westdeutschlands und der fünfziger Jahre vielleicht bald verschwinden. Doch sie haben in diesem Laden so lange und in solcher Reinheit überlebt, daß Rüdesheim hier, falls es, wofür wenig spricht, so viel Bewußtsein seiner selbst hat, hier ein Museum dieser unübersehbaren und lebendigen Phase seiner Geschichte einrichten könnte.