Archiv für den Monat Mai 2018

Congregational Church Kilmainham

Das 1796 errichtete Kilmainham Gaol (Kilmainham-Gefängnis) im Westen Dublins hat eine kalte und feindselige klassizistische Steinfassade. Schon zu Zeiten, als es anderswo noch einen Barock gab, wurden solche Formen in der britischen Architektur für alle öffentlichen Gebäude gerne verwandt, wodurch sie alle etwas wie Gefängnisse aussehen.

Daß es auch anders ging, zeigt ein ein zierlicher Bau, der nur ein Stück entfernt auf der anderen Seite der Inchicore Road steht.

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Hinter einem leicht ansteigenden britisch-südlichen Garten, in dem auch Immergrünes und Palmen nicht fehlen, ein weißes Gebäude mit niedrigem Walmdach und drei rundbögigen Fenstern. Ausgewogen in Höhe und Breite, mit schlichtem hölzernem Maßwerk in den Bögen, sind diese Fenster Beispiele einer gänzlich ungotischen Neogotik, aber dienen doch einfach dazu, Licht in den dahinterliegenden Saal zu lassen. Trotz ihren historistischen Anklängen behaupten sie auch nichts anderes.

Ein Blick auf dieses bescheidene sachliche Versammlungsgebäude genügt, um zu wissen, daß es sich um einen Sakralbau einer nur geduldeten Minderheitsreligion handelt, denn – ob nun eine Mennonitenkirche in Gdańsk oder eine Synagoge in Erfurt – diese gleichen sich immer sehr. In diesem Fall baute ihn sich vermutlich 1815 die Congregational Church, eine protestantische Sekte, die, wie der Name bereits sagt, die selbstverwaltende Rolle der Gemeinde betont. Wie aus ihrer vielleicht einzigen Geschichte hervorgeht, wurde die kleine Kirche am Rande von Dublin von einem englischen Industriellen gegründet und war immer eng mit aus England eingewanderten Arbeitern und in der Gegend stationierten Soldaten verbunden. In ganz Irland stand die Congregational Church im Gegensatz sowohl zur anglikanischen Church of Ireland (Kirche von Irland) als auch zur katholischen Kirche. Heute existiert sie in der Republik Irland nicht mehr, auch das Gebäude hat in den Neunzigern seine religiöse Funktion verloren und war 2012 für 550 000 Euro als Wohnhaus auf dem Markt. Doch selbst wenn es das alte Schild draußen nicht mehr gäbe, bliebe es immer als bescheidener Sakralbau zu erkennen. Wenigstens architektonisch zeigte sich die Congregational Church mit ihrem Kleinod in Kilmainham den beiden größeren Kirchen überlegen.

Alterlaa als Grundlage

Alterlaa ist etwas Besonderes. Eine ganze Wohnanlage aus hohen Terrassenhäusern, jede Terrasse üppig begrünt – wie oft gibt es das schon?

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Und das ist das Problem an Alterlaa. Es sollte nichts Besonderes sein, sondern das Normale. Terrassenhäuser wie diese, die die Vorteile des Einfamilienhauses mit den Vorteilen des Hochhauses verbinden, sollten gegenwärtig die Grundlage aller Architektur sein. Es sollte sie in tausendfachen Variationen geben, höher und niedriger, mit kleineren und größeren Terrassen, auf verschiedenste Arten an städtische und landschaftliche Bedingungen angepaßt, mehr oder weniger gelungen auch. Sie zu sehen sollte alltäglich sein, langweilig, banal. Keiner sollte darüber nachdenken müssen, wieso sie so sind wie sie sind, da sie eben normal sind und funktionieren. Daß es nicht so ist, daß Alterlaa etwas Besonderes ist, zeigt die Stagnation in der Architektur, die irgendwann zwischen 1975 und 1980 begann.

In den fünfzig Jahren davor hatte es starke Strömungen gegeben, denen es mehr um Funktion als um Form ging. Ihre Grundlage waren mehr oder weniger hohe, mehr oder weniger lange freistehende Wohngebäude.

Es gab sie in tausendfachen Variationen, höher und niedriger, mit allen möglichen mal mehr, mal weniger schlichten Fassadengestaltungen, oft, aber nicht immer mit Flachdach, auf verschiedenste Arten an städtische und geographische Bedingungen angepaßt, mehr oder weniger gelungen auch. Sie zu sehen war und ist alltäglich, langweilig, banal. Keiner denkt darüber nach, wieso sie so sind wie sie sind, da sie eben normal sind und funktionieren. Das war aber nicht immer so. Bis Mitte der zwanziger Jahre gab es diese Art von Gebäude praktisch nicht. Normal war bis dahin und nach lange danach die Blockrandbebauung. Daß sie heute nichts Besonderes mehr sind, war nicht selbstverständlich, sondern ein Sieg des Fortschritts.

Auch Alterlaa muß siegen und aufhören, etwas Besonderes zu sein.

Poldi

Kladno ist eine Bergbaustadt ohne Bergbau, eine Industriestadt mit wenigen Resten von Industrie. Wenn es nicht so nah an Prag läge, hätte es wohl ernste Probleme. So muß es zumindest zu seiner Vergangenheit eine Haltung einnehmen.

Die Geschichte der Arbeiterbewegung blendet es heute naheliegenderweise aus, doch aus der sozialistischen Zeit blieben einige Gedenktafeln an Gebäuden. Das gegenwärtige Kladno betreibt lieber einen gewissen Kult um den Wiener Kapitalisten Karl Wittgenstein. Dieser war Ende des 19. Jahrhunderts ein wichtiger Investor der Pražská železařská společnost (Prager Eisenindustrie-Gesellschaft) und betrieb die Gründung des neusten Stahlwerks, der Poldihütte. Es waren mithin also auch die Kladnoer Arbeiter, die es Karls Sohn Ludwig später erlaubten, als Lehrer, Architekt und Philosoph zu dilettieren, letzteres mit einigem Erfolg. Wichtiger für Kladno war, daß Karl die Fabrik nach seiner Frau Leopoldine Poldi nannte und ihr Gesicht zu deren Zeichen machte. In der sozialistischen Zeit, als eher die Rolle der Arbeiter als die der Kapitalisten betont wurde, hieß die Fabrik Spojené ocelárny n.p. (SONP – VEB Vereinigte Stahlwerke), behielt aber mindestens halboffiziell immer den hübschen Namen Poldi. Auch das Gesicht der Namenspatin blieb und wurde in seiner nunmehrigen Variante zum vielleicht hübschesten Logo, das je ein Industriebetrieb hatte: in einem aufrechten Oval ein Frauenkopf mit hochgestecktem Haar im nach links blickenden Profil und etwas oberhalb der Stirn ein schräger fünfzackiger Stern, alles in Linien stilisiert.

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Das Antlitz der Kapitalistengattin wurde als Logo des sozialistischen Betriebs gewissermaßen in Volkseigentum überführt. Noch immer empfängt es, auf einem dreieckigen Betonelement vor dem Werksgelände oder auf einer der Hallen, den Besucher, der dem Schriftzug Poldi auf einem Schornstein gefolgt sein mag. Vom Werk jedoch ist nicht mehr viel übrig.

Wie wichtig dem heutigen Kladno seine Geschichte ist, zeigt das Muzeum Poldi (Poldi-Museum). Es wurde 1975 als Muzeum SONP in einem dafür perfekt geeigneten Gebäude eingerichtet: der sogenannten Bachrovna (sinngemäß Bacher-Haus), in der Karl Wittgenstein eine Dienstwohnung für seine Besuche hatte und der Bergbaudirektor Gottfried Bacher lebte. Die große kommunistische Schriftstellerin Marie Majerová beschreibt das Gebäude und seinen Bewohner in ihrem Kladno-Roman „Siréna“ (Die Sirene) folgendermaßen (zur deutschen Übersetzung):

„Bohumír Bacher, důlní ředitel, bydlil ve vile s věží, která přípomínala středověký hrad; měla jakoby cimbuří a přístavbu, které se říkalo šermírna.

Bohumír Bacher měl kolem svého sídla vysoký plot a vrata mřízová z litého železa, výrobek Vojtěchovy huti, okázalý ve své výšce a nedobytnosti jako na výstavu.

Bohumír Bacher měl rozsáhlou anglickou zahradu, na dvoře americkou lednici a jeho roční příjmy se rovnaly položce všech příjmů havíře Jana Stádníka z Braškova, jenž pracoval v uhelně třicet let a vydělal za tu dobu třináct tisíc zlatých.“

(Gottfried [tschechisch Bohumír] Bacher, der Bergbaudirektor, wohnte in einer Villa mit Turm, die an eine mittelalterliche Burg erinnert; sie hatte nachgeahmte Zinnen und einen Vorbau, der Fechthalle hieß.

Gottfried Bacher hatte um seinen Sitz einen hohen Zaun und Gitterpforten aus Gußeisen, ein Erzeugnis der Vojtěch-Hütte, in seiner Höhe und Uneinnehmbarkeit prunkvoll wie für eine Ausstellung.

Gottfried Bacher hatte einen ausgedehnten englischen Garten, im Hof ein amerikanisches Gewächshaus und sein Jahreseinkommen entsprach dem Lebenseinkommen des Bergmanns Jan Stádník aus Braškov, der dreißig Jahre in der Zeche gearbeitet und in dieser Zeit dreizehntausend Gulden verdient hatte.)

Bacher und seine Villa wurden dadurch berüchtigt, daß er bei einer Streikdemonstration an Fronleichnam 1889 die Polizei in die Menge schießen ließ, wobei drei Kinder getötet wurden. Allen folgenden Verwaltern und anderen Nutzungen zum Trotz blieb die Villa so die Bachrovna. Über die Bedeutung des Streiks von 1889 für die Arbeiterbewegung in Kladno urteilt Majerová (zur deutschen Übersetzung):

„Kladno třetího června toho roku odložilo cechařské odznaky, které nosilo již jen ze setrvačnosti, a objevilo se na jevišti světa jako průmyslový dav. Průmysl a uhelná těžba za tří desítky let nepozorovatelně vytvářely nové lidi.“

(Kladno legte am dritten Juni dieses Jahres die Zunftabzeichen, die es nur noch aus Beharrlichkeit getragen hatte, ab und zeigte sich auf der Bühne der Welt als industrielle Masse. Unmerklich hatten Industrie und Kohlebergbau in drei Jahrzehnten neue Menschen geschaffen.)

Als diese neuen Menschen die Bachrovna später zum Museum machten, war das auch ein symbolischer Akt der Enteignung der Burgen des Kapitals und ihrer Aufhebung im Sozialismus. Die Villa sieht noch immer aus wie von Majerová beschrieben, aber kein Zaun versperrt mehr Blick oder Weg.

Egal, von wo man auf das nunmehrige Poldi-Museum zukommt, man sieht zuerst Denkmäler für die Opfer des Faschismus unter der Arbeiterschaft.

Kommt man von der Straße, steht links in der Grünfläche eine überlebensgroße Skulptur des Bildhauers Jiří Bradáček. Sie zeigt einen behelmten Arbeiter in einer unklaren Bewegung, die Aufbäumen wie Zusammensinken sein könnte, die rechte Hand zur Faust geballt über den Kopf erhoben, die linke auf der Brust. Kampf wie Tod sind im Stein dargestellt und auf dem niedrigen Sockel steht: „Kladenským hutníkům obětem druhé světové války“ (Den Kladnoer Hüttenarbeitern, die Opfer des zweiten Weltkriegs wurden).

Kommt man durch das Gelände vor der stadtseitig angrenzenden Poliklinik, sieht man vor dem Turm eine freistehende Betonwand, auf der eine vertikale schwarze Steintafel mit den Worten „Nezapomínáme oběti fašismu“ (Wir vergessen die Opfer des Faschismus nicht) und vielen Namen angebracht ist. Auf der Hälfte ihrer Höhe unterbricht sie ein vertikales beidseitig überstehendes Relieffeld, das rechts einen leidend, sterbend liegenden Mann und links eine helfend zu ihm gebeugte Frau zeigt.

Nach dieser Einleitung kommt man zum Museum. In den nunmehr kleineren Garten führt rechts neben der Villa ein niedriges ornamentiertes Eisentor, das ein bauliches Majerová-Zitat sein könnte.

Danach ist er unregelmäßig mäandernd von mit kleinem Abstand nebeneinandergesetzten Betonstelen umgeben.

So selbstbewußt die fortschrittliche Architektur der Tschechoslowakei hier Alt und Neu verbindet, so freundlich ist sie auch, da die Stelen nur so hoch sind, daß man gut in den Garten blicken kann. Alles Abweisende ist dieser Umrandung, die kein Zaun mehr ist, genommen.

Im Garten stehen einige riesige rostende Maschinenteile, während sich aus einem niedrigen Teil der Villa große, bis zum Boden reichende Fensterflächen und Türen öffnen, die auch in ein viel neueres Gebäude passen würden.

Das Muzeum Poldi könnte im weiteren alles über Kladno erzählen, was die Stadt von sich erzählt haben will. Könnte, denn es ist bereits seit 2006 geschlossen. Keiner tritt mehr durch die Glastüren in den Garten, keine Tafeln erklären mehr die Geräte. Kladno ist eine Industriestadt ohne Industrie und auch ohne Museum für diese Industrie.

Kegeln in Linköping

Gamla Linköping (Alt-Linköping) ist nicht etwa die Altstadt des südostschwedischen Linköping, sondern ein Freilichtmuseum am Rande der Stadt, wohin in den Fünfzigern und Sechzigern viele ältere Gebäude aus dem Zentrum versetzt wurden. Vielleicht ist das nicht die schlechteste Art, mit wertvollen Bauwerken, für die in der neuen Stadt einfach kein Platz mehr ist, zu verfahren. Wenn es sich wie in Linköping vor allem um Holzgebäude handelt, ist es wohl auch nicht besonders aufwendig. Aber es betrübt zu sehen, daß im Zentrum an die Stelle dieser früheren kapitalistischen Bebauung eben ganz und gar keine Stadt neuer Art, sondern nur andere kapitalistische Bebauung trat, und daß die alten Holzhäuschen im Freilichtmuseum nun eine Idylle simulieren, die es nie gab, als sie noch Teil einer lebendigen kapitalistischen Stadt waren.

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Wenn man auf all den Schildern liest, die Häuser seien in diesem oder jenen Jahr „flyttad“ („umgezogen“, hier eher „umgesetzt worden“), fällt es noch schwerer als sonst, nicht an das etymologisch nahe „geflüchtet“ zu denken, denn geflüchtet vor den Veränderungen in Linköping sind sie ja.

Die Funktion der meisten Gebäude von Gamla Linköping ist einfach zu erkennen, doch ein einziges verwirrt. Es steht gut sichtbar in einem Garten an der Ecke der Straßen Majagatan/Malmslättsvägen, wo das Freiluftmuseum endet.

Das Verwirrende an diesem offenen Holzbau mit Geländern und auf Doppelstützen ruhendem Satteldach ist seine Länge.

Wäre es rund, quadratisch, was auch immer, dann wäre es ein Gartenhäuschen wie die anderen ringsherum, die Ornamentik der Giebel und bei den Stützen paßt gut dazu. Es wäre ein typisches Produkt des 19. Jahrhunderts, hübsch vielleicht, weil es erhalten ist, aber nicht sonderlich erhaltenswert, da sich Adel und Großbürgertum auf der ganzen Welt ähnliches in die Gärten ihrer Villen gestellt hatten. Aber wieso ist es so lang und hat nur an einer Schmalseite einen Zugang? Auch die Details helfen nicht weiter.

Der Anfang ist am breitesten und hat seitliche Bänke, dann folgt ein langer schmaler Mittelteil, nach dem das Ende wieder etwas breiter wird. Hinten ist eine niedrige Barriere mit Gitter und nach kurzem Abstand ein verschlossener Kasten. An der linken Seite ist außen neben dem Geländer eine Art Rinne, einfach aus zwei in V-Form zusammengefügten Brettern gezimmert, die von hinten nach vorne leicht abschüssig verläuft.

Die gesamte Konstruktion sitzt auf niedrigen Steinstützen, was denn auch die einzige Spekulation über ihren Zweck fundieren mag: ein Steg für einen großen Gartenteich. Was sie tatsächlich ist, würde man so leicht nicht erraten: eine Kegelbahn.

Das erklärt sogleich alles, die Länge, die Aufteilung, die Barriere, vor der man nun auch metallene Markierungen für die Kegel bemerkt, und die Rinne.

Die ungewöhnliche Form des Gebäudes ergibt sich erstaunlicherweise aus seiner ungewöhnlichen Funktion. Viele Bürger hatten Gartenhäuschen in ihren Villengärten, aber nur wenige hatten dort so etwas wie der Linköpiger Beamte Adolf Wallenberg, der seine kägelbanan 1867 bauen ließ. Daß man bei diesem Gebäude wohl zuletzt an eine Kegelbahn gedacht hätte, liegt auch daran, daß das Kegeln heute als populäres, ja, proletarisches Vergnügen gilt. Diese großbürgerliche Kegelbahn zeigt, daß dies erst Ergebnis des nivellierenden und demokratisierenden 20. Jahrhunderts ist. Dabei hat sie durchaus schon alles, was auch heutige Kegelbahnen haben, bloß mußte das heute automatische Wiederaufstellen und Zurückschicken der Kugeln eben ein Bediensteter erledigen.

Kegel-, beziehungsweise Bowlingbahnen (der Unterschied zwischen Kegeln und Bowling ist für mich wie der zwischen dasselbe und das gleiche – nachvollziehbar, wenn er mir erklärt wird, aber völlig belanglos, so daß ich ihn sofort wieder vergesse), Bowlingbahnen gibt es im heutigen, nicht hinreichend neuen, aber doch sehr veränderten Linköping etwa in der Sporthallen (Sporthalle), die den Anspruch des Neuen noch am besten verkörpert.

In diesem eleganten, von zwei großen freistehenden Betonbögen mit Stahlseilen gehaltenen Hallenbau von 1956 sind sie nicht geradezu versteckt, aber doch nur Nebensache. Nicht durch den Haupteingang rechts, über dem in blauen Leuchtbuchstaben „Sporthallen“ steht, sondern über die linke Schmalseite bei Parkplätzen und Lieferzonen erreicht man sie.

An der Wand der Halle führt eine Betontreppe mit blauem Metallgeländer zu einer kleinen Tür und rechts steht in weit kleineren Leuchtbuchstaben „Bowlinghall“. Irgendwo hier, oder im Park, der nach einer komfortablen Unterführung folgt, wäre vielleicht ein besserer Platz auch für die neunzig Jahre ältere großbürgerliche Kegelbahn.

Indem die Verwandlung eines Sports unmittelbar zu sehen wäre, könnte sie an dieser Stelle mehr über Linköping, alt wie neu, und die Welt aussagen.

Sowjetisches Gdynia

In Gdynia gibt es einen sowjetisch-polnischen Friedhof für die sowjetischen und polnischen Soldaten, die die Stadt befreiten. Im Vorort Redłowo erstreckt er sich an der Straße Legionów und ein Stück den Hügel hinauf. Auf ihm ruhen die Soldaten zweier Armeen und entsprechend hat er zwei Eingänge.

Der erste ist der sowjetische Eingang. Nach nur wenigen flachen Stufen wird man empfangen von einer großen Bronzeplastik in der Wiese links hinten und einem Denkmal in der Mitte der Wegfläche.

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Die Plastik zeigt eine überlebensgroße und übertrieben realistisch dargestellte fortschreitende Frau, die eine mit einem Band über ihrer Schulter befestigte Fahne trägt.

Sie gehört nicht hierher, sondern stand früher auf einer hohen runden Stele im Stadtzentrum. Das Denkmal besteht aus je zwei übereinandergesetzten Steinen, deren erstes Paar zum Betrachter zeigt, während das zweite nach rechts gerichtet ist.

Im oberen linken Stein ist ein fünfzackiger Stern im Relief und auf den anderen verteilen sich die Worte einer russischen Inschrift:

„Вечная память героям павшим смертью храбрых в боях за освобождение польского народа от гитлеровских захватчиков“  (Ewiges Andenken den Helden, die in den Kämpfen für die Befreiung des polnischen Volks von den hitlerfaschistischen Eindringlingen den Tod der Tapferen gefallen sind)

Der zweite Teil des Denkmals ist wie ein Wegweiser hinein in den sowjetischen Teil des Friedhofs, der sich dann in mehreren Reihen parallel zur Straße hinzieht.

Auf den Gräbern sind fünfzackige Sterne mit Namen, Rang und Lebensdaten der Gefallenen.

Sie stehen auf den unteren Spitzen und wirken in ihrer unklaren dunklen Farbe metallisch, sind jedoch tatsächlich aus Kunststoff. Der Hauptweg führt dann auf eine hohe Stele aus glattem silbernen Stahl zu, doch die steht bereits im polnischen Teil des Friedhofs.

Diesen kann man auch durch den zweiten, den polnischen Eingang betreten.

Rechts von ihm steht ein ähnlicher Stein wie auf dem sowjetischen Teil mit der polnischen Aufschrift: : „Cmentarz żołnierzy radzieckich i polskich poległych w latach 1939-1945“ (Friedhof der in den Jahren 1939-1945 gefallenen sowjetischen und polnischen Soldaten), wobei das „radzieckich i“ (sowjetischen und) herausgemeiselt ist. Eine lange flache Treppe führt parallel zur Straße und nach links abgeschirmt von Nadelsträuchern etwa hinauf. Danach öffnet sich der Blick auf den polnischen Teil des Friedhofs, dessen Höhepunkt am rechten Rand die silberne Stele bildet.

Nach weiteren Stufen ist man auf dem vom sowjetischen Teil heranführenden Weg. Dahinter erstreckt sich eine breite Treppenanlage, in der vor der Stele eine schräge Tafel aus glattem schwarzen Stein mit weißem polnischem Adler und der Inschrift „Bohaterskim obrońcom Gdyni poległym w walce z hitlerowskim najeźdźcą 1939-1945“ (Den heldenhaften Verteidigern von Gdynia, die im Kampf gegen die hitlerfaschistischen Eindringlinge gefallen sind) ist. Glatter Stein bildet auch ein unregelmäßiges Muster im Boden um die Stele.

Die weite zentrale Fläche wird links im Schatten großer Birken von freistehenden Wänden mit langen Inschriften und einer Liste der Gefallenen begrenzt, während rechts hinter der Stele eine große Rotbuche steht. Der polnische Friedhof zieht sich dann als weites Halbrund aus vielen Reihen mit Grabsteinen den Hang hinauf.

Auf den einzelnen Gräbern sind Steine in der Form von Wappenschildern, auf denen Namen, Lebensdaten und Rang der Gefallenen und oben ein Ordenskreuz mit den Worten „Na polu chwały“ (Auf dem Feld des Ruhms) sind.

Gdynias sowjetisch-polnischer Friedhof besteht somit aus zwei deutlich verschiedenen Teilen. Der sowjetische Teil erstreckt sich bandartig entlang der Straße, während der polnische Teil quer dazu hügelan verläuft und halbrund abschließt. Zugleich sind die beiden Teile vielfach miteinander verbunden. Nicht nur führt der Hauptweg des sowjetischen Teils zur zentralen Fläche des polnischen, sondern auch weiter oben stößt das Halbrund der polnischen Wege wieder auf die geraden sowjetischen, sie fließen gleichsam ineinander.

Das komplizierte Zusammenkommen verschiedener Teile auf dem Friedhof entspricht wohl der Komplexität des gemeinsamen Kampfs der sowjetischen und polnischen Armeen und mehr noch den verschiedenen Erinnerungskulturen beider Staaten. Wenn auch ein Ganzes entsteht, wirken manche Details geradezu disparat. Die sternförmigen sowjetischen Grabsteine etwa wirken unendlich viel moderner als die biederen polnischen Wappenschilder, was man umso stärker merkt, wenn man sie von der anderen Seite betrachtet, die nur bei den polnischen Steinen eine unschöne Rückseite ist.

Der Kern zum Verständnis des Doppelfriedhofs ist die bewußt ambivalente Gestalt seines höchsten und markantesten Elements, der Stele.

Aus zwei zueinander zeigenden Halbkreisformen aus Edelstahl, die oben zu beiden Seiten gleichsam aufklappen, zusammengesetzt, ist sie ist recht eigentlich gar nichts, damit jeder darin alles sehen kann. Für den konservativen Teil der polnischen Bevölkerung, der seit Mitte der Fünfziger nicht mehr ansatzweise bekämpft wurde, ist sie ein Kreuz. Für den beiläufigen nichtreligiösen Betrachter ist sie eine abstrakte Form, irgendwie hoch, heroisch vielleicht. Für, nun, für vielleicht niemanden als den, der das wirklich sehr will, ist sie ein Hammer, genauer gesagt der Hammer zur Sichel, die der Grundriß des Friedhofs, gerade und halbrund, bildet.

Es gehört kein kleines Geschick dazu, so viele widersprüchliche Bedürfnisse in einem einzigen Friedhofsensemble, das trotz allen Spannungen harmonisch bleibt, zu befriedigen. Das ist die Stärke wie die Schwäche des sowjetisch-polnischen Friedhofs von Gdynia.

Beton bei Reda

In unseren Breiten ist die Hand des Menschen überall zu sehen und oft ist das von ihr Geschaffene auch das Schönste, was es zu sehen gibt.

Die Landschaft östlich von Reda etwa, einem Ort nördlich von Gdynia, ist denkbar reizarm. Keine Hügel mehr, noch kein Meer, alles flach, weite offene Felder, einige verlorene Baumgruppen, letzte Häuser, das Panorama des Orts aus Heizkraftwerk und im Bau befindlichen Wohnhochhaus immer ferner.

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Vom Wasserwerk führt eine Straße quer nach Südosten, eine Zufahrtstraße bloß, die nicht einmal einen Namen hat. Hier ist die Weite der Landschaft weniger drückend, es gibt mehr Bäume und Büsche, neben ihr schlängelt sich ein Bach.

Diese Straße besteht ganz aus quergelegten rechteckigen Betonplatten. Der bauliche Aufwand, den das darstellt, deutet auf ihre Wichtigkeit hin, wobei nicht klar ist, worin die bestehen könnte. Außer dem Wasserwerk an ihrem Anfang und in regelmäßigen Abständen angeordneten umzäunten Tiefbrunnen gibt es bloß ein einziges Haus, das sich zwischen hohen Büschen versteckt.

Angesichts des nicht vorhandenen Autoverkehrs scheinen auch die ebenfalls betongepflasterten Ausweichbuchten eher unnötig, doch sie werden offenbar gerne für Verkehr anderer Art in parkenden Autos genutzt.

Ebenso sind die Spaziergänger, Radfahrer und Jogger aus Reda und Umgebung dankbar für den festen und dauerhaften Betongrund der Straße und es kümmert sie nicht, daß sie nicht in erster Linie für sie gebaut wurde. Die Straße verläuft fast gerade und führt nirgendwohin. Kurz nach einer kreuzenden Straße endet sie deutlich vorm Dörfchen Kazimierz, wo dann auch wieder Hügel sind.

Wo die landschaftlichen Reize fehlen, wird das Menschengemachte selbst zum Reiz, also die Straße, der Beton. Es sind auch wahre Miniaturlandschaften, die sich auftun, wenn man zu Boden blickt. Keine der Betonplatten gleicht der anderen. Meist liegen sie auch nach über dreißig Jahren noch regelmäßig aneinander, aber manchmal wurde eine durch die Zufälligkeiten der Bodenbeschaffenheit deutlich verschoben.

Oft gibt es kleinere Löcher, die aus Jahrzehnten der Benutzung resultieren, aber manchmal größere, die das Stahlgerüst freilegen und nur mit Qualitätsmängeln des Ausgangsprodukts zu erklären sind.

Manchmal, aber durchaus nicht immer, sind die Platten in der Mitte leicht gebrochen, was sowohl mit den Bodengegebenheiten als auch mit Qualitätsschwankungen in der Produktion zu tun haben kann.

An den Rändern greift oft die Natur auf den Beton aus, zähe Gräser wachsen auf kleinen Flecken Erde. Auch bläuliche Flechten ziehen sich an manchen Stellen über das Grau.

Das sind die Veränderungen der Zeit, aber als die Straße neu war, waren ebenfalls nicht alle ihrer Platten gleich. Einige haben horizontale Linienstrukturen,

andere vertikale.

Die schönsten haben horizontale Wellenlinien, mal mehr,

mal weniger steil,

und werden gleichsam zu abstrakten Kunstwerken, mindestens so t-shirtgeeignet wie Joy Division-Schallplattencover. Und schließlich sind da noch Zahlen, manchmal Buchstaben im Beton vieler der Platten.

Irgendetwas Technisches, ahnt man, und nach und nach wird klar, daß es sich um Datumsangaben handelt.

Ende 1984, Anfang 1985 wurden die Platten demnach in einem Betonwerk hergestellt. Ganz prosaisch mithin, gebraucht sicher, um in irgendwelchen lange verlorenen Unterlagen festgehalten zu werden. Aber diese Zahlen im Beton sind noch etwas anderes: die Unterschriften von Künstlern auf ihren Werken. Die Arbeiter, die sie mit leichtem Strich in den Beton schrieben, wußten sicherlich nicht, daß sie ihn signierten. Es sind schließlich Unterschriften bestimmt dazu, zu verschwinden oder übersehen zu werden. Die Arbeiter wußten vielleicht nicht einmal, daß sie die Schöpfer der Welt sind. Ihr Werk jedoch ist alles.

Der Mensch setzte selten Unterschriften auf die Welt, die er sich schuf. Angemessen vielleicht, daß es gerade hier anders ist, denn hier ist die menschliche Schöpfung alles. Ohne diese Betonstraße, also ohne die namenlosen Arbeiter eines Betonwerks, gäbe es diese Landschaft östlich von Reda nicht.