Direkt gegenüber von Lisewo, am anderen Ufer der Wisła (Weichsel), liegt Tczew. Hoch ragen seine Kirchtürme und Wohnhochhäuser auf und noch davor führt die doppelte Eisenbahnbrücke in diese Stadt der Brücken und der Eisenbahn.
In Lisewo dagegen ist alles klein und hinter dem Deich an der Wisła fast versteckt. Auch die Nähe zu Tczew ist nur eine theoretische, da der Fluß hier nur mit dem Zug zu überqueren ist (jedenfalls gegenwärtig und legal). Während Tczew erhöht liegt, gehört Lisewo ganz zur flachen Landschaft der Żuławy. Ein einziges Haus ist mit seinem backsteinernen Sockel an den Deich gebaut und lugt mit seinen beiden hölzernen Obergeschossen hinüber zur Stadt, schon von den Straßen des Dorfs sieht man sie nicht.
Was man heute schwerlich noch erahnen würde, ist, daß auch Lisewo einmal ein Bahnknotenpunkt war, nämlich für das dichte Schmalspurbahnnetz der Żuławy. Spuren davon sind bestenfalls eine Halle und große unbebaute Flächen an der schräg von Bahnhof und Deich wegführenden Hauptstraße.
Erst nach einem ganzen Stück sind dort vermischte dörfliche Häuser aus dem späten 19. Jahrhundert.
In den Nebenstraßen gibt es außerdem eingeschossige Arbeiterreihenhäuschen mit Satteldach, preußischer Backstein. Zwischen zwei wieder zur Bahnstrecke abzweigenden Erschließungsstraßen sind auf der einen Seite kürzere und auf der anderen längere zweigeschossige Wohngebäude aus der sozialistischen Zeit, zwischen deren Schuppen und Garagen noch ein Fußweg verläuft.
Fast alle Straßennamen im Ort haben noch Bezüge zu seiner Befreiung durch die sowjetische Armee Anfang 1945: 10 Marca (Straße des 10. März), Braterska (Brüderliche Straße), Wyzwolenia (Straße der Befreiung), Niepodległości (Straße der Unabhängigkeit), Robotnicza (Arbeiterstraße). Nur am Rande ist die unvermeidliche Jana Pawła II (Johannes-Paul-II-Straße).
Erst kurz vorm Ende des Dorfs ist an den hohen und dichten Bäumen der alte Kern zu erkennen, der fast nur aus zwei großen Höfen mit repräsentativen Häusern und großen Scheunen besteht. Hier sind auch eine ebenfalls aus der sozialistischen Zeit stammende Schule und auf der anderen Seite am Rande der Felder einige Hallen, Silos und Stallanlagen, die wohl zu einem PGR (Państwowe Gospodarstwo Rolne, etwa einem Volkseigenen Gut der DDR entsprechend) gehörten.
Ganz zuletzt steht die Kirche. Sie ist ein kleiner gotischer Backsteinbau inmitten des Friedhofs und besteht im Kern nur aus einem Saal mit halbwegs regelmäßigen spitzbögigen Fenstern und Strebepfeilern unter einem Satteldach.
Doch zur Straße hin steht vor ihr ein Turm aus einem eingeschossigen quadratischen Backsteinsockel, schräg nach oben zueinander verlaufenden dunklen Holzwänden und einem ebenfalls hölzernen achteckigen Teil mit spitzem Dach, der auf schrägen Balken leicht übersteht. Der Turm ist immer noch nicht sehr hoch, weit niedriger als die umstehenden Bäume, doch er sieht vor allem nicht wie typischer Kirchturm aus, sondern eher wie eine Windmühle, von denen es in den niedrig liegenden und künstlich entwässerten Żuławy viele gab. Offensichtlich waren seine Erbauer von diesen profanen Bauten inspiriert, als im 17. Jahrhundert anstand, der alten Kirche einen neuen Turm zu geben.
Das Ungewöhnlichste und Schönste an Lisewos Kirche jedoch ist der Giebel an ihrer heute schwer zu sehenden Rückseite. Rechts und links wurden die Grundmauern nach oben durch freistehende Spitzbögen, also rahmenartige Wände, in denen der Bogen oben offen und unten durch die schräge Linie der vertikal strukturierten Dachseite gefüllt ist, ergänzt. In der Mitte ist ein weiterer, höherer Spitzbogen, der nur ganz oben offen ist, während ihn darunter zwei schmale Spitzbögen ausfüllen. Was so entsteht, ist eine Art Treppengiebel, der dekorativ gemeint ist, aber ganz aus Elementen besteht, die auch funktional sein könnten.
Er ist wie die Skizze, das Versprechen, einer weit größeren Kirche, worin er den oben aus den Betonpfeilern etwa montenegrinischer Einfamilienhäuser hervorstehenden Stahlbündeln, die zeigen, daß noch weitere Geschosse aufgesetzt werden könnten, gleicht. Zudem ist er wie ein Spiel mit der gotischen Bautechnik und legt sie, mehr als größere Kirchen, wo solche Bögen in Giebeln meist ausgefüllt sind, offen. Die Kirche ist am gotischsten dort, wo sie kaum noch eine Gebäudefunktion erfüllt. So hat sie Parallelen zum Tempelhaus in Hildesheim oder zur Kathedrale in Montpellier, von deren Existenz ihre Erbauer nur ahnen konnten.
Das ist die Art, wie das kleine żuławische Dorf Lisewo mit der Welt verbunden ist, auch nachdem ihm die Schmalspurbahnen fehlen. Tczew am anderen Ufer, Eisenbahnstadt mit Wohnhochhäusern und Kirchtürmen, hat kein so zierlich-schönes Kirchlein, das halb Windmühle und halb spielerische Gotik ist.