Archiv für den Monat Mai 2021

Lisewo

Direkt gegenüber von Lisewo, am anderen Ufer der Wisła (Weichsel), liegt Tczew. Hoch ragen seine Kirchtürme und Wohnhochhäuser auf und noch davor führt die doppelte Eisenbahnbrücke in diese Stadt der Brücken und der Eisenbahn.

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In Lisewo dagegen ist alles klein und hinter dem Deich an der Wisła fast versteckt. Auch die Nähe zu Tczew ist nur eine theoretische, da der Fluß hier nur mit dem Zug zu überqueren ist (jedenfalls gegenwärtig und legal). Während Tczew erhöht liegt, gehört Lisewo ganz zur flachen Landschaft der Żuławy. Ein einziges Haus ist mit seinem backsteinernen Sockel an den Deich gebaut und lugt mit seinen beiden hölzernen Obergeschossen hinüber zur Stadt, schon von den Straßen des Dorfs sieht man sie nicht.

Was man heute schwerlich noch erahnen würde, ist, daß auch Lisewo einmal ein Bahnknotenpunkt war, nämlich für das dichte Schmalspurbahnnetz der Żuławy. Spuren davon sind bestenfalls eine Halle und große unbebaute Flächen an der schräg von Bahnhof und Deich wegführenden Hauptstraße.

Erst nach einem ganzen Stück sind dort vermischte dörfliche Häuser aus dem späten 19. Jahrhundert.

In den Nebenstraßen gibt es außerdem eingeschossige Arbeiterreihenhäuschen mit Satteldach, preußischer Backstein. Zwischen zwei wieder zur Bahnstrecke abzweigenden Erschließungsstraßen sind auf der einen Seite kürzere und auf der anderen längere zweigeschossige Wohngebäude aus der sozialistischen Zeit, zwischen deren Schuppen und Garagen noch ein Fußweg verläuft.

Fast alle Straßennamen im Ort haben noch Bezüge zu seiner Befreiung durch die sowjetische Armee Anfang 1945: 10 Marca (Straße des 10. März), Braterska (Brüderliche Straße), Wyzwolenia (Straße der Befreiung), Niepodległości (Straße der Unabhängigkeit), Robotnicza (Arbeiterstraße). Nur am Rande ist die unvermeidliche Jana Pawła II (Johannes-Paul-II-Straße).

Erst kurz vorm Ende des Dorfs ist an den hohen und dichten Bäumen der alte Kern zu erkennen, der fast nur aus zwei großen Höfen mit repräsentativen Häusern und großen Scheunen besteht. Hier sind auch eine ebenfalls aus der sozialistischen Zeit stammende Schule und auf der anderen Seite am Rande der Felder einige Hallen, Silos und Stallanlagen, die wohl zu einem PGR (Państwowe Gospodarstwo Rolne, etwa einem Volkseigenen Gut der DDR entsprechend) gehörten.

Ganz zuletzt steht die Kirche. Sie ist ein kleiner gotischer Backsteinbau inmitten des Friedhofs und besteht im Kern nur aus einem Saal mit halbwegs regelmäßigen spitzbögigen Fenstern und Strebepfeilern unter einem Satteldach.

Doch zur Straße hin steht vor ihr ein Turm aus einem eingeschossigen quadratischen Backsteinsockel, schräg nach oben zueinander verlaufenden dunklen Holzwänden und einem ebenfalls hölzernen achteckigen Teil mit spitzem Dach, der auf schrägen Balken leicht übersteht. Der Turm ist immer noch nicht sehr hoch, weit niedriger als die umstehenden Bäume, doch er sieht vor allem nicht wie typischer Kirchturm aus, sondern eher wie eine Windmühle, von denen es in den niedrig liegenden und künstlich entwässerten Żuławy viele gab. Offensichtlich waren seine Erbauer von diesen profanen Bauten inspiriert, als im 17. Jahrhundert anstand, der alten Kirche einen neuen Turm zu geben.

Das Ungewöhnlichste und Schönste an Lisewos Kirche jedoch ist der Giebel an ihrer heute schwer zu sehenden Rückseite. Rechts und links wurden die Grundmauern nach oben durch freistehende Spitzbögen, also rahmenartige Wände, in denen der Bogen oben offen und unten durch die schräge Linie der vertikal strukturierten Dachseite gefüllt ist, ergänzt. In der Mitte ist ein weiterer, höherer Spitzbogen, der nur ganz oben offen ist, während ihn darunter zwei schmale Spitzbögen ausfüllen. Was so entsteht, ist eine Art Treppengiebel, der dekorativ gemeint ist, aber ganz aus Elementen besteht, die auch funktional sein könnten.

Er ist wie die Skizze, das Versprechen, einer weit größeren Kirche, worin er den oben aus den Betonpfeilern etwa montenegrinischer Einfamilienhäuser hervorstehenden Stahlbündeln, die zeigen, daß noch weitere Geschosse aufgesetzt werden könnten, gleicht. Zudem ist er wie ein Spiel mit der gotischen Bautechnik und legt sie, mehr als größere Kirchen, wo solche Bögen in Giebeln meist ausgefüllt sind, offen. Die Kirche ist am gotischsten dort, wo sie kaum noch eine Gebäudefunktion erfüllt. So hat sie Parallelen zum Tempelhaus in Hildesheim oder zur Kathedrale in Montpellier, von deren Existenz ihre Erbauer nur ahnen konnten.

Das ist die Art, wie das kleine żuławische Dorf Lisewo mit der Welt verbunden ist, auch nachdem ihm die Schmalspurbahnen fehlen. Tczew am anderen Ufer, Eisenbahnstadt mit Wohnhochhäusern und Kirchtürmen, hat kein so zierlich-schönes Kirchlein, das halb Windmühle und halb spielerische Gotik ist.

Ein Kaufhaus und seine Stadt

Auffällig, groß und stadtprägend sind die Kaufhäuser von Vroom & Dreesmann (V&D) in vielen niederländischen Städten, doch selten so sehr wie in Haarlem. Bis zu acht Geschosse hoch und den ganzen Anfang eines Straßenblocks einnehmend ragt das 1934 eröffnete Gebäude aus dem engen Stadtzentrum auf. Was es seiner Umgebung zeigt, hängt dabei stark von der Seite und dem Standpunkt ab.

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Aus der Ferne, die große Straße Gedempte Oude Gracht entlang, die im Bogen auf das Kaufhaus zu und an ihm vorbei führt, oder vom Grote Markt (Großen Markt) vorm Rathaus entlang der gewundenen engen Koningstraat (Königstraße), sieht man den Turm in seiner Ecke.

Er hat wie das gesamte Gebäude eine Fassade aus horizontalen hellen Backsteinstreifen und noch helleren Sandsteinstreifen, ist quadratisch und endet in einer hohen weißen Leuchtröhre und einer Antenne. Mit seiner Position an der Ecke ist er stark auf diese Fernwirkung ausgerichtet, da er kaum höher als das übrige Gebäude und Nahem nicht wichtig ist.

Die längste Fassade des Kaufhauses zur Gedempte Oude Gracht, die man vom Markt kommend als Erstes sieht, ist horizontal gegliedert. Im hohen Erdgeschoß sind Schaufenster, darüber ein Vordach mit einem hohen Rand aus grauem Beton, der an den Seiten abgerundet ist. In den folgenden vier Geschossen sind Fenster, die aus einem durchsichtigen unteren Teil und einem breiteren oberen Teil mit rechteckigen und gedeckt bunten Bleiglasmustern bestehen. Durch Streifen wie auf der übrigen Fassade im oberen Teil und zusätzlichem Sandstein im unteren Teil sind diese Fenster dennoch zu Bändern zusammengefaßt und laufen links im rechten Winkel und rechts geschwungen um die Ecke. Das abschließende fünfte Geschoß ist niedriger und hat ornamentale weiße Steinelemente zwischen den Fenstern.

Zur trotz des Namens kleinen Grote Houtstraat (Großen Holzstraße), heute Fußgängerzone und schon traditionell Einkaufsstraße, ist die Fassade ähnlich, aber keine nahtlose Fortsetzung und überhaupt kann man sie in dieser Enge kaum sehen.

An der rechten Ecke muß das Kaufhaus einem verbliebenen alten dreigeschossigen Backsteinhaus und dessen winzigem Hof Platz lassen. Das Vordach schließt abgerundet an eine gleich der Fassade gestaltete Brandmauer des alten Hauses an und dahinter ragt der Turm auf, an den wiederum die Fensterbänder geschwungen anschließen. Die rechte Seite beginnt daher mit dem Turm, aber auch mit einer Lücke, wo das Haus als bizarrer Fremdkörper geradezu im neuen Kaufhaus eingezwängt ist. Die Weigerung der Besitzer der dort noch immer befindlichen Drogisterij (Drogerie oder eher Apotheke) Van der Pigge, es zu verkaufen, war 1929 gewiß ein großes Ärgernis für V&D, doch immerhin wird so der ganz neue Maßstab des neuen Gebäudes noch deutlicher.

Die Fassade der rechten Seite gleicht den anderen, doch in der Mitte ist der Eingang durch eine vier Geschosse hohe und dreifach vertikal geteilte Bleiglasfläche betont. Das Vordach, die Fassadenstreifen und ein oben das Vordach wieder aufnehmender Betonstreifen sind neben ihr als abgerundete Wülste hervorgehoben, so daß eine äußerst monumentale Wirkung entsteht. Daran ändert auch nichts, daß die folgenden beiden Geschosse in Terrassenstufen ansteigen. Vor dem Kaufhaus öffnet sich hier der Botermarkt (Buttermarkt), der zweite Platz der Stadt, aber es scheint sich kaum dafür zu interessieren; der monumentale Eingang ist halb vom Eckhaus zur weiterführenden Gierstraat (Geierstraße) verdeckt. Die Monumentalität betont bloß noch die Größe und Fremdheit dieses Baus.

Insgesamt ist Haarlems V&D-Kaufhaus merkwürdig unentschlossen. Die Fenster, sein wohl charakteristischstes Merkmal, sind beinahe historisierend niederländisch, fügen sich aber überraschend gut in eine gar nicht historistische, horizontale Kaufhausfassade ein. Der Turm ist Werbeträger und für die niederländische Architektur der dreißiger Jahre typisches Ersatzhochhaus. Die Terrassenstufen verraten den Einfluß der wenige Jahre zuvor in Deutschland entstandenen Schocken-Kaufhäuser und, wie diese, wiederum von New York. Der Eingang aber gibt dem Gebäude eine brutale Monumentalität, die nicht einmal auf die konkrete städtische Umgebung ausgerichtet ist, und paßt zu nichts des Vorgenannten. So groß sind die Unterschiede zwischen den Seiten, daß man von einem janusköpfigen Gebäude sprechen kann.

Aber vielleicht gehört das Kaufhaus mit all dem auch einfach in lokale Haarlemer Traditionen. Es gibt ein ganzes Landschaftsbildgenre sogenannter Haerlempjes, auf denen man aus der Stadt am Wasser eine enorme gotische Kirche ragen sieht, und heute, obwohl der Haarlemmermeer (Haarlemer See) lange verschwunden ist, sieht es vom Ufer der durch die Stadt führenden Spaarne nicht völlig anders aus.

Diese St. Bavokerk (Bavokirche) ist nicht weniger ein Fremdkörper in der Stadt als das Kaufhaus und auch sie hat eher zufällig das Glück, zur einen Seite den Grote Markt zu haben, dessen Weite ihre Größe und Masse mildert.

Die nutzlose und dem Gebäude letztlich fremde Monumentalität des Eingangs wiederum kennt Haarlem von seiner Nieuwe Kerk (Neuen Kirche) oder aber vom Eingang des Hofje van Teyler (Teyler-Höfchens).

Die Nieuwe Kerk ist, wie auch entsprechende Kirchen in anderen niederländischen Städten, Mittelpunkt einer planmäßig angelegten Stadterweiterung des 17. Jahrhunderts, deren kleine Backsteinhäuschen abwechselnd ein- und zweigeschossig sind. Aus der Ferne sieht man ihren Turm, der in typisch niederländischer Manier bauchige Hauben, wie sie bei südlichen Kirchtürmen aus Kupfer wären, als filigrane offene Holzkonstruktionen bildet und den anderen Haarlemer Kirchtürmen ähnelt.

Von Nahem ist sie ein erstaunlich einfacher rechteckiger Bau, der frei in der südlichen Hälfte ihres Platzes steht. Nur hohe rundbögige Fenster, schmale Strebepfeiler, die sich von unten nach oben leicht geschwungen verjüngen, was besonders beidseits der Ecken unerwartet elegant wirkt, und ein gestuftes Gesims unterhalb der überstehenden Ränder der beiden parallelen Walmdächer.

Schon der mittig vor die Westseite gestellte Turm könnte ebensogut frei stehen, da ihn nichts zwangsläufig mit dem Gebäude verbindet.

Doch hinzu kommt noch ein riesiges Portal vor der Ostseite, das geradewegs in der Achse der schmalen Kerkstraat (Kirchenstraße) steht. Es ist im eigentlichen eine rechteckige Wand mit überstehendem Gesims, der Aufschrift ANNO MDCXLIX um ein Rankenornament und großem rundbögigen Fenster.

Es ragt weit höher als die Wände der Kirche auf und ist von der Seite klar als rein potemkinsche Fassadenarchitektur zu erkennen.

Es ist das schlechteste der Barockarchitektur. Ähnlich wie beim V&D-Kaufhaus verbindet sich bei der Nieuwe Kerk ein grundsätzlich fortschrittliches Gebäude mit einem monumentalen Eingang.

Das Hofje van Teyler ist ein spezifisch niederländischer Stadtraum: eine von einem reichen Bürger gestiftete Wohnanlage für alte Frauen aus kleinen Reihenhäuschen um einen großen begrünten Hof. Während andere solcher Hofjes, ob in Haarlem oder anderswo, jedoch oft fast versteckt sind, hat das Teylershofje ein ganz bizarr monumentales Eingangsgebäude. Viel höher als die normalen Stadthäuser am Ufer der Spaarne aufragend sind rechts und links Teile mit je drei hohen rechteckigen Glasflächen, vor dem niedrigen Walmdach Geländer und in der Mitte über einem hohen Säulenportal ein Tempelgiebel mit Teylers Namen und Wappen, Füllhörnern und der Jahreszahl MDCCLXXXV.

Zwar mögen in diesem Eingangsbau nutzbare Räume sein, doch sein Ziel ist die Monumentalität – er ist ein Mausoleum für den Stifter. Das eigentliche Hofje ist trotz den teilweise runden reich geschmückten Fenstergauben in den Dächern der eingeschossigen Häuser an den Breitseiten und den Sonnenuhren in den Giebeln an den Schmalseiten nicht weiter ungewöhnlich und wirkt wirkt beinahe nur wie Anhängsel zum Eingangsbau. Er ist das Schlechteste des Klassizismus. Ähnlich wie beim V&D-Kaufhaus ist hinter dem monumentalen Eingang des Hofje van Teyler ein funktionaler und großzügiger Raum.

So sind es keine besonders guten Traditionen, in denen das Kaufhaus steht, doch in ihm, wie in den anderen genannten Bauten, ist genug Fortschrittliches, an das Haarlem anknüpfen kann.

Petterweil

Petterweil ist etwas Besonderes. Es ist vielleicht nicht besonders schön – weder die alte evangelische noch die neue katholische Kirche würde man, trotz manchen hübschen Details, groß beachten und weder die neuen Teile, die nur aus Einfamilienhäusern bestehen, noch die umgebauten alten Fachwerkhäuser des Ortskerns sind so interessant wie in anderen Dörfern der Wetterau – aber dafür ist es noch ein Dorf, das als Dorf statt nur als Vorort im Frankfurter Speckgürtel funktionieren kann. Es hat nicht nur Bäcker, Bankfiliale, Apfelweinkneipe etc., sondern auch mitten im Ort einen kleinen Nahkauf-Supermarkt, so daß man hier leben könnte, ohne auf ein Auto angewiesen zu sein.

Nun mag die Vorstellung, sein Leben auf Petterweil beschränkt zu führen, wie eingangs ausgeführt, erst einmal nicht sehr reizvoll erscheinen, doch daß die Möglichkeit dazu besteht, ist bereits ein Wert an sich. Petterweil erlaubt etwas, was in den meisten anderen Dörfern schlechthin unmöglich ist.

Petterweil liegt auch wirklich fernab von allem, an keinem der Bach- und Flußtäler und noch nicht beim nahen Taunus, weshalb seine Beifügung zur ohnehin vagen Gemeinde Karben in den Siebzigern keineswegs zwangsläufig war. Es würde gut passen, wenn es wie einige wenige hessische Orte, etwa Niederdorfelden, seine Selbständigkeit bewahrt hätte. Einen gewissen trotzigen Stolz Petterweils auf seine Sonderstellung kann man noch darin erkennen, daß es dem Besucher detailliert aus seiner Geschichte erzählt und sogar spurlos verschwundene Bauwerke wie das untere Tor mit grünen Informationstafeln versehen sind.

Und noch etwas hat Petterweil, was andere Dörfer nicht haben oder jedenfalls nicht gerne zeigen: eine demokratische Tradition aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als demokratisch gleichbedeutend mit revolutionär war. Sie ist verbunden mit der Person des Pfarrers Heinrich Christian Flick, nach dem heute eine Straße und das evangelische Gemeindezentrum heißen.

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Sein Grab, dessen roter Sandstein und zinnenartiger Abschluß mit den weißen Wänden, dem Glas und dem schwarzen Sattelbach des Gemeindezentrumsanbaus kontrastieren, läßt bloß die tragische, aber für die Zeit normale Geschichte des Tods seiner jungen Frau in der Folge der Geburt ihrer Tochter erahnen, doch eine der grünen Tafeln erzählt mehr. Flick war demnach: „Am 26. April 1790 in Petterweil geboren, seit 1812 hier Pfarrer, wegen Beteiligung an der Freiheitsbewegung 1835 verhaftet, 1839 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, später begnadigt, aber aus dem Pfarramt entlassen. Mitglied des Gemeinderats, gründete in diesem Haus eine Armen- und Krankenstiftung. Er starb am 19. März 1869 in Petterweil.“

Neben dieser lokalen Persönlichkeit gehört in die demokratisch-revolutionäre Tradition Petterweils auch der auf nationaler Ebene bedeutsame Politiker Robert Blum, einer der wichtigsten Vertreter der Linken im Frankfurter Parlament von 1848. Wo er am Rande des Orts im Sommer jenes Jahres eine Rede hielt und wo heute noch immer eine parkartige Wiese mit Spielplatz ist, setzte Petterweil ihm ein obeliskförmiges Denkmal aus grauem Stein.

Auf der einen Seite ist in roten Buchstaben eine nüchterne Darstellung von Fakten: „Hier sprach zum Volke Robert Blum, Mitglied der deutschen Nationalversammlung, am 9. Juli 1848. Geb. zu Köln am 10. Nov. 1807, standrechtlich erschossen zu Wien am 9. Nov. 1848.“

Auf der anderen sind Blums letzte Worte: „Ich sterbe für die deutsche Freiheit, für die ich gekämpft. Möge das Vaterland meiner eingedenk sein!“

Was für radikaler Akt die Errichtung dieses Denkmals im Jahre 1849, ein Jahr nach Blums Rede und ein halbes nach seiner Hinrichtung, war, kann man sich kaum noch vorstellen, und selbstverständlich geschah es auf Betreiben Flicks, der durch die Veränderungen nach der Revolution auch kurzzeitig seine Pfarrstelle wiederbekommen hatte. Nach nur wenigen Jahren mußte das Denkmal entfernt werden, doch die fortschrittlichen Kräfte Petterweils verbargen es, bis es 1895, als Blums wie Flicks Leiche kalt und die politischen Kämpfe andere waren, wieder aufgestellt werden konnte. In keinem Nachbarort gibt es etwas auch nur annähernd Vergleichbares.

Petterweil mag nicht besonders schön sein, aber es ist etwas Besonderes und das ist letztlich noch mehr wert. Die Wetterau würde anders aussehen, wenn es mehr Petterweils gegeben hätte.

Eine russische Katze in Koleč

In der Mitte von Koleč ist eine Katze. Ihre Beine und Brust sind weiß zu ihrem schwarzmeliertem Kopf, Bauch, Rücken und Schwanz und sie steht nach links gerichtet vor einem blauen Kreis und vielleicht auf einer braunen Oberfläche, aber das ist ungewiß, denn sie ist ein Wandbild auf bröckelndem grauen Putz. Es ist eine alte Katze.

Ihr Bild ist in Koleč auch nicht einfach nur Dekoration, sondern Teil einer Werbeaufschrift, ein Logo. Der leicht jugendstiligen Schrift nach zu urteilen muß die Reklame aus der österreichischen Zeit vor dem ersten Weltkrieg oder der Frühzeit der ersten tschechoslowakischen Republik der Zwischenkriegszeit stammen. Doch schon, welchem Produkt sie gilt, ist wiederum erst einmal ungewiß, da direkt links der Katze, aber so, daß ihr halber Kopf zu erkennen blieb, ein Fenster in die Wand gebrochen wurde, das heute im bizarren Kontrast zum Putz neue weiße Plastikrahmen hat.

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Die vermutlich tschechische Inschrift links der Katze ist dadurch auf einige Wortanfänge („Ivai“, „Na“, „Bo“) reduziert und bloß unten ist „En gros“ zu lesen. Es bleibt rechts der Katze eine russische Inschrift, zwischen die auch ihr aus dem blauen Kreis herausragender Schwanz zeigt. Mit teils ungewöhnlichen Buchstaben (I statt И am Wortanfang) besagt sie: „Iван Фалин/& Синовя/Природные/Щётки“ (Ivan Falin/& Söhne/Natürliche/Bürsten). Das beantwortet immerhin die Frage, wofür die Katze wirbt, und jetzt kann man auch erkennen, daß es eine überdimensionierte Bürste ist, auf der sie steht. Das Eigentümliche jedoch ist, daß hier mitten in der mittelböhmischen Provinz nördlich von Prag überhaupt eine russische Werbeaufschrift ist, denn es nicht klar, an wen sie sich gerichtet haben sollte, und daß der Bürstenhersteller russischer Herkunft war, scheint als Erklärung nicht hinreichend.

Die Katze und ihr Wandbild können immerhin gut als Symbol für das Zentrum von Koleč, wo in mancherlei Hinsicht die Zeit stehengeblieben zu sein und Gegenwart wie Leben fern scheinen, dienen. Das gilt wohlgemerkt nicht für den gesamten Ort, der in einer schönen Hügellandschaft gelegen und nah an Prag ist, weshalb die Einfamilienhäuser im oberen Teil beliebt sind und am Rande neue gebaut werden. Auch im Zentrum gibt es selbstverständlich ein Amtsgebäude, einige Läden, eine Kneipe, einen Platz mit Bushaltestelle, Wanderkarte und Wegweisern.

Der ebenso selbstverständliche coop-Supermarkt befindet sich in einem neueren Gebäude, während Fenster und Türen des größeren und älteren Flachbaus direkt daneben, der eine Terrasse, einen Sockelstreifen mit länglichen orangeroten und Stützen mit kleinen türkisen Kacheln hat, schon lange zugemauert sind.

Sogar einen Bahnhof gibt es am Rande, doch auf der Strecke fährt nur an Sommerwochenenden zweimal täglich ein Zug, da es unweit zwei weitere Bahnstrecken gibt.

Panorama von Koleč, der Bahnhof ganz rechts oben

Doch vieles sieht in Koleč‘ Zentrum, wo die Durchgangsstraße ist, so verlassen aus, als würde es niemandem auffallen, wenn die russische Katze nachts ihren Platz an der Wand verließe, um durch das Dorf zu streifen. Sie würde dort jenes große Gebäude mit komplizierten Mansarddächern und offenbar einer Dachterrasse, von dem weder ganz klar ist, ob es nur dem Wohnen diente, noch, ob es leersteht, besuchen.

Oder das Haus, das mit einem rostenden Schild als „Agitační středisko“ (Agitationszentrum) ausgewiesen ist.

Zu Hause wäre sie im großen Vorhof des Schlosses, denn zu diesem zeigt die Wand mit der Reklame. Die hierher geöffnete dreiflügelige Barockanlage hat rechts einen renovierten Teil, während der längere Mittelteil mit kleinem Turm, vor dem eine große Linde steht, und der linke Teil, der eine Kapelle mit strahlenumkränztem Auge in einem Dreieck im dreieckigen Giebel ist, verlassen sind.

Im renovierten Teil wurde nach Jahren des Verfalls mit staatlicher und norwegischer Förderung ein Bienenmuseum eingerichtet. Aber wenn das öffnet, ist die Katze schon lange zurück auf der Wand, wie seit hundert Jahren, und irgendwann wird sie mit dem abfallenden Putz oder unter einer Wärmedämmung ganz verschwinden.

 

Nostalgische Architektur

Wenn man auf der Frankfurter Honsellbrücke, die über die vom Main abzweigende Beckeneinfahrt des Osthafens führt, durch die Stahlkonstruktion zum anderen Ufer schaut, sieht man gleich zwei Beispiele von nostalgischer Architektur, die von der Schwäche und Unsicherheit ihrer, der gegenwärtigen, Zeit zeugen.

Zum einen ist da am Hang in Sachsenhausen der Henninger-Turm oder richtiger gesagt: das Gebäude, das versucht so wie dieser auszusehen. Der Henninger-Turm war ein großes weißes Silo der namensgebenden Frankfurter Brauerei, auf dessen eckigen Körper noch mit einem kurzen Schaft einige runde Geschosse mit Fensterbändern, in denen unter anderem ein drehendes Restaurant war, aufgesetzt waren. Als er 1961 gebaut wurde, hätten sich die Stadtbildschützer empören müssen, daß so etwas vis-à-vis des Doms gebaut wurde, doch dank der dominanten Position in der Sachsenhäuser Skyline, dem beliebten Restaurant und einem alljährlichen Radrennen rund um den Henninger-Turm, wurde er zu einem volkstümlichen Gebäude, das für die Generation der in den fünfziger Jahren oder später Geborenen einfach „schon immer“ zu Frankfurt gehörte. Die beabsichtigte Werbewirkung für die Brauerei war erreicht.

In den Neunzigern wurde Henninger von einer anderen Brauerei übernommen, das Restaurant schloß, das Silo stand leer, auch das Radrennen wurde nicht mehr ausgetragen, der Turm hatte das Ende seiner Lebenszeit erreicht. Doch Frankfurt, das mit Gebäuden wie den Bankhochhäusern im Stadtzentrum einst als rücksichtslos kapitalistisch, amerikanisch gar, gegolten hatte, war in der Zwischenzeit mit wachsendem Wohlstand immer rückwärtsgewandter und sentimentaler geworden und wollte den Henninger-Turm, der als Industriebau mit Werbefunktion völlig in den rücksichtslosen Kapitalismus paßte, nicht sterben lassen. Er wurde durchaus abgerissen, aber durch ein teures Wohnhochhaus, das seine Proportionen mit viel Glas annähernd nachahmt, aber gerade die eine gewisse Leichtigkeit ergebende Aufstützung der runden Geschosse wegläßt, ersetzt. Der Henninger-Turm lebte, starb und steht nun als Zombie wieder da.

Seine Geschichte ist ein erschreckendes Beispiel dafür, was geschieht, wenn die Nostalgie die Stadtplanung übernimmt. Er ist damit auch ein Symbol für das gegenwärtige Bauen des deutschen Kapitalismus: medioker, schwach, unsicher. In den Fünfzigern baute der Kapitalismus das Industriegebäude, das er brauchte, und für die Menschen fiel wenigstens ein drehendes Restaurant dabei ab, der heutige Kapitalismus versteckt ein Wohnhochhaus in den vulgarisierten Formen dieses Industriegebäudes und für die Menschen, die sich keine der spekulativen Luxuswohnungen darin leisten können, fiel nichts dabei. Drehende Restaurants übrigens zeigen gut die Stagnation, ja, den Rückschritt, der Gegenwart, denn sie werden nicht mehr gebaut und vielerorts geschlossen, obwohl sie nie durch etwas Besseres ersetzt wurden.

Zum anderen ist da als zweites Beispiel nostalgischer Architektur die heutige, 2013 neu errichtete Honsellbrücke selbst. Sie ist ein funktionaler Bau, die Brückenfläche getragen von flachen Bögen aus genietetem grauen Stahl, entstanden wohl für den Hafen. Doch über die alten Bögen legen sich heute zwei neue aus glattem schwarzem Stahl und bei genauem Hinsehen sind sie es, die die Brückenfläche an dünnen Stahlträgern halten. Die gesamte alte Brücke ist nur noch ein Ornament innerhalb der neuen. Nichts ist trauriger als ein funktionales Element, das dekorativ wird. Wenn die neue Brücke wenigstens das Selbstbewußtsein hätte, zu zeigen, daß sie mit den Teilen der alten spielt, sie zitiert, aber nein, sie versteckt sich hinter ihr, weil sie sich selbst für zu schwach hält, ein jämmerliches Schauspiel. Wie beim Henninger-Turm ist das Bizarre, daß der alte Bau nicht einmal besonders wertvoll oder ungewöhnlich ist, doch während der immerhin ikonisch in Frankfurts Skyline stand, ist sie ein Dutzendbau, wie er ein paar Meter weiter fast identisch über das zweite Hafenbecken führt. Um an das Alte anzuknüpfen, hätte es völlig genügt, das ornamentale Geländer oder die Reliefs im Steingeländer der Auffahrt, die sich durch einen etwas brutalen schweren Jugendstil auszeichen, zu erhalten, denn die wurden der Brücke ja gerade beigefügt, weil ihre Bögen nichts Besonderes sind. Doch die Frankfurter nostalgische Architektur kann nicht einmal eine Brücke bauen, ohne den Vorgängerbau nachzuahmen und damit diesen und sich selbst zu erniedrigen.

„Niech żyje i zwycięża socjalizm !”

Korzybie, ein Ort irgendwo im weiten Nordwesten Polens, war einmal ein Eisenbahnknotenpunkt und dem verdankt es seine ganze Existenz. Die eine Straße heißt Dworcowa (Bahnhofstraße), die andere Kolejowa (Eisenbahnstraße). In zweiterer ist eine typische Eisenbahnsiedlung aus dem frühen 20. Jahrhundert, freistehende zweigeschossige Backsteingebäude mit Satteldach.

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In einer Querstraße zur Dworcowa kommen dazu Gebäude aus den Zwanzigern, die teils spitz vorgesetzte Treppenhäuser, wie sie in den Backsteinexpressionismus der Zeit passen, haben.

Aus der polnisch-sozialistischen Zeit gibt es eine Schule, eine Kirche am Ortsrand und eine Feuerwache, deren eckiger Turm oben zu allen Seiten in große trapezförmige Fensterflächen aufgelöst ist.

Heute lebt der Ort im Sommer für einen kleinen See im nahen Wald, während am Lewiatan-Supermarkt ein improvisierter und vermutlich illegaler Biergarten eingerichtet ist.

Ein Eisenbahnknotenpunkt ist Korzybie schon lange nicht mehr. Es muß sich vielmehr glücklich schätzen, daß wenigstens eine der drei kleinen Bahnlinien nicht stillgelegt ist und es Verbindungen nach Słupsk und Szczecinek gibt. Die vielen Gleise und mindestens zwei Bahnsteige sind heute bloß noch zu erahnen. Der leerstehende Bahnhof wurde im Sommer 2020 gerade renoviert, noch zeigten alte Emailleschilder Kassen und Warteraum an.

Einen weiteren Einblick in die Geschichte von Korzybie boten fünf rechteckige weiße Preßspantafeln mit Aufschriften in roten Großbuchstaben, die beim Lagerhaus rechts neben dem Bahnhof standen. Wie ein Puzzle zusammengefügt ergaben sie kommunistische Slogans. Der erste blieb unvollständig, da die dritte Tafel fehlte:

„Pozdrawiamy bratnie n/krajów socjalistycz“

Er lautete wohl „Pozdrawiamy bratnie narody krajów socjalistycznych” (Wir grüßen die Brüdervölker der sozialistischen Länder)

Drei andere Tafeln waren vollständig und ergaben auf der einen Seite:

„Pozdrawiamy partie komunistyczne i robotnicze walczące o postęp, pokój i socjalizm !” (Wir grüßen die für Fortschritt, Frieden und Sozialismus kämpfenden kommunistischen und Arbeiterparteien !)

Oder auf der anderen:

„Niech żyje i zwycięża socjalizm !” (Es lebe und siege der Sozialismus !)

Jeder dieser Sätze ist heute so wahr und schön wie damals, doch es fragt sich, wann dieses Damals war. Zuletzt schmückten sie den Bahnhof wohl in den siebziger Jahren, in der letzten Zeit des relativen Selbstbewußtseins des sozialistischen polnischen Staats. Kann Korzybie heute dank See und Kneipe auch wie eine müde hochsommerliche Idylle wirken, noch schöner wäre es, wenn diese Losungen am Bahnhofsgebäude noch immer zu Festtagen den zahlreicheren Zügen auf einen Seite und der Achse der Kolejowa durch die rote Eisenbahnsiedlung auf der anderen Seite zugewandt wären.

Johannes von Nepomuk und das menschliche Maß

Typische Skulpturen des Johannes von Nepomuk, wie Heiligenskulpturen allgemein, sind sich in der Größe immer recht ähnlich, immer etwas unterlebensgroß, was aber durch den Abstand schaffenden Sockel schwer einzuschätzen ist. Auch daher fallen zwei Nepomukdarstellungen in Znojmo, die von dieser Größennorm deutlich abweichen, auf.

Beim in der Mitte des zweigeschossigen barocken Häuschens mit der Adresse Veselá 10 hängenden Nepomuk erlaubt der verwendete weiße Stuck Freiheiten, die in Stein schon technisch schwierig wären.

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Der Heilige kniet hier bei zugleich nach links ausgestrecktem Bein auf Wolken und Engelsgesichtern unter einer Krone, aus der ein von zwei seitlichen Engeln aufgehaltener Vorhang hängt, während im Hintergrund weitere Wolken und ganz oben weitere Engelsgesichter und ein Kreuz sind. Sein Körper ist ganz nach rechts gebogen, wohin er auch die gefalteten Hände ausstreckt, doch sein Gesicht mit selig geschlossenen Augen ist ebenso deutlich nach links gewandt, wo ihm ein Engel sein Kruzifix präsentiert. In den unteren Ecken dieser auf die Hauswand gesetzten und sogar über die Fensterrahmen quellenden Szene sind ein Engel mit seinem Birett und einer mit seinem Palmzweig zu sehen.

Die Szene ist viel kleiner als gewöhnliche Nepomuks und damit intimer, eher wie etwas, daß in einen Innenraum paßt. Bei aller Popularität dieses Heiligen in der Zeit der Gegenreformation ist seine Darstellung an der Fassade eines Privathauses auch eher selten und sie hängt etwa zu hoch, um gut betrachtet zu werden. Die beiden Skulpturen halbnackter bärtiger Männer, die auf einem Sims unterhalb der Ansätze des geschwungenen Giebels die figürliche Dekoration des Hauses vervollständigen, schauen denn auch mit skeptisch verschränkten Armen zu ihm hinab.

Der in einer offenen Kapelle gegenüber dem Eingang der Jesuitenkirche stehende Johannes von Nepomuk ist eine ganz konventionelle Darstellung mit Kruzifix und Palmzweig, doch er ist riesig. Sogar der Sockel wirkt unter ihm klein, aber auch ohne ihn würde er drohend über dem Betrachter thronen.

Man meint unwillkürlich, einem Riesen, einem mißgebildeten Monstrum zu begegnen. Sind typische Nepomuks auf ihren Sockeln eben Heilige, von Gott erhobene Menschen und halb schon bloße Symbole, so ist dieser etwas schlichtweg Unheimliches, zu groß, um je Mensch gewesen zu sein, aber zu schwer, um in göttlichen Gefilden vorstellbar zu sein. Das Jesuitentum schuf hier eine Schreckensgestalt in den Zügen des beliebten Heiligen.

Es hat wohl psychologische Gründe, daß Heiligenskulpturen ihre etwa einheitliche Größe haben. Wenn sie, wie an an der Hauswand kleiner sind, schadet es ihnen nichts, doch ihre Vergrößerung schafft Ungeheuer. Daher ist es auch kein Zufall, daß der jesuitische Riesennepomuk, der schwerlich seine intendierte Wirkung haben konnte, eine Ausnahme ist.

Klein-Steinheim

Klein-Steinheim hat zwar kein Schloß, keine alte Kirche und keine Altstadt wie sein großer Schwesterort Groß-Steinheim, aber dafür hat es ein Hochhaus. Es steht direkt an der Bahnstrecke und der großen Straße, nahe deren Brücken über den Main und damit am nächsten an Hanau, zu dem beide Steinheime gehören. Nach seinem ehemals prominentesten Geschäft könnte man es das Matratzen Concord-Hochhaus nennen.

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Es ist ein makellos schlichtes Wohnhochhaus mit weißem Putz und breiten eingerückten Balkonen mit blaßroten Brüstungen. Der eine Teil ist zehn, der andere zwölf Geschosse hoch. Zur Bahnlinie hin ist vor dem Ende beider Teile jeweils ein Quertrakt vorgesetzt, der unten auf großen blauen V-Stützen ruht und das oberste Geschoß hinter einer großen Dachterrasse zurückgesetzt hat.

Zum Ort hin zeigen beide Teile ihre mittigen offenen Treppenhäuser, die markante schräge Linien in die regelmäßige Fassade schneiden.

Im Erdgeschoß sind unter den aufgestützten Trakten Geschäfte, darunter in der rechten Ecke bis vor kurzem Matratzen Concord, und auf der anderen Seite weitere in einem flachen Vorbau, der zur nächsten Straße zeigt. Obwohl an der großen Straße mehr Parkplätze sind, läßt sich nicht von einem Hinten und Vorne sprechen.

Während das Matratzen Concord-Hochhaus von der Bahn aus Stellvertreter seines Orts ist, wird vom Beginn der durch diesen und weiter nach Groß-Steinheim führenden Ludwigstraße der Kontrast zwischen seiner hohen weißen Form und den niedrigen orangeverklinkerten Häusern mit den roten Sandsteinfensterrahmen deutlich.

Mehr braucht man in einem westdeutschen Ort nicht zu erwarten, aber in Klein-Steinheim gibt es noch ein wenig mehr. Es ist dies ein dreigeschossiger Bau an der Ecke Ludwigstraße/Viktoriastraße, der nach dem Geschäft in seinem Erdgeschoß das Radio Schröder-Haus genannt werden könnte.

Über den durchgehenden Schaufenstern des Erdgeschosses und schwebend über dessen großer ausgesparten Ecke hat es zwei weißgestrichene Geschosse mit halbwegs regelmäßigen horizontalen Fenstern, die nur im dritten Geschoß zur größeren Straße hin von einem längeren und schmaleren Fenster und einem zurückgesetzten Balkon mit Betonbrüstung unterbrochen sind. Eine entsprechende Brüstung verläuft auch um das flache Dach des Gebäudes und um das Dach eines halbhohen Anbaus mit Tordurchfahrt und Glasbausteinen in der Seitenstraße.

In beiden Fällen, gleichsam natürlich, kommt zum Grau des Betons das Grün von Pflanzen, das wahre Dachgärten erahnen läßt. Unsichtbar von unten und nur auf Luftbildern zu erkennen ist auf dem Dach sogar ein Schwimmbecken.

Der Kontrast zwischen dem Radio Schröder-Haus, von dessen Dachterrassen Büsche und Bäume in die Straße quellen, und den vermischten Nachbarhäusern mit ihren Satteldächern ist nicht weniger groß als zuvor der zum Matratzen Concord-Hochhaus, das noch ganz in der Ferne zu sehen ist.

Während das Hochhaus ein vorsichtiger und letztlich ungenügender Ansatz einer neuen Stadt ist, baute sich die Familie Schröder über ihr Geschäft ein Haus, das perfekt in den eng und dicht bebauten Kern eines hessischen Dorfs paßt. Wenn die Grundstücke zu klein für ordentliche Gärten sind, verstanden ihr Architekt und sie, dann muß der Garten eben auf das Dach. Das ist eine im hohen Maße exklusive und individualistische Lösung, die der Stadt nichts gibt, aber es ist bezeichnend, daß sogar eine solche im Kapitalismus zumindest in Deutschland so selten vorkommt.

Auch ohne Schloß, Kirche und Altstadt hat Klein-Steinheim allemal genug, sich gegenüber Groß-Steinheim nicht klein fühlen zu müssen.