Archiv für den Monat November 2022

Die Geschichte von Würzberg

Wenn Würzberg etwas von seiner Geschichte verrät, dann nur, daß es keine sehr lange hat, obwohl, oder weil, es im Odenwald an der einstigen Grenze zwischen seiner protestantischen, Erbacher Mitte und seinem katholischen Osten, die heute die zwischen den Bundesländern Hessen und Bayern ist, liegt. Entlang der einzigen Straße auf dem fünfhundert Meter hohen Bergrücken erhielt sich kein markantes Bauernhaus, dafür gibt es trostlose Beispiele westdeutscher und mehr noch jüngerer großdeutscher Vorortshäuser, und die Kirche ist ein dräuender neoromanischer Klotz, der, falls er nicht auf den dreißiger Jahren ist, zumindest so aussieht.

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Immerhin gibt es einen hohen rot-weißen Funkmast, der mit weiten Stahlseilen am Boden befestigt ist.

Architektonischer Höhepunkt sind einige Scheunen, die vollständig, also die Dachgiebel ebenso wie die Wände, mit gewellten schwarzen Eternitplatten verkleidet sind, in denen nur manchmal ebenfalls gewellte gelbliche Plexiglasplatten als Fenster dienen. Das ist immerhin eine konsequente, ja, radikale Anwendung der neuesten Baustoffe.

An der Wand einer unverkleideten Scheune, dort, wo der rote Steinsockel an den hohen hölzernen Aufbau, der rechts weit schräg übersteht, anschließt, hängt schließlich eine längliche Anschlagtafel, die so viel aus der jüngeren Geschichte des geschichtslosen Dorfs erzählt, daß man ihm alles andere gern verzeiht.

Schon, wie diese dunkle, von unzähligen bunten Fetzen übersäte Holzfläche an der Scheunenwand hängt, gleicht einem abstrakten Kunstwerk. Künstler war hier der Zufall oder die Entscheidung der zuständigen Verwaltung, die Zettel in vielen, vielen Lagen übereinander anzuheften.

Von den neueren, bunteren, blieben nur Reste, aber viele der unteren, oft in Schreibmaschinenschrift geschriebenen, kann man lesen oder erahnen.

Es geht um Wahlen, Jagden, pfingstliche Sperrstunden, Müllabholung im Müllabfuhrzweckverband Odenwald, Polio-Schlu[ckimpfung], die Daten reichen von 1971 bis 1991. Die Anschlagtafel ist wie ein Steinbruch der jüngeren örtlichen Geschichte, die anderswo zumeist unsichtbar bleibt.

Was Würzberg an alten Gebäuden fehlt, das macht es durch dieses zufällige Kunstwerk wett. Es mag keine lange Geschichte haben, aber es erzählt sie umso ausführlicher.

Iserlohn im Weltall

Über Anime weiß ich ebensowenig wie über Iserlohn. Jenes ist irgendwie Zeichentrick aus Japan, dieses liegt irgendwo in Westdeutschland – mehr hätte ich bis vor einiger Zeit nicht zu sagen gewußt. Doch seit es sich ergab, daß ich mir alle 110 Folgen der Animeserie mit dem englisch übersetzten Titel „Legend of the Galactic Heroes“ (oder, wie es im Vorspann noch größer als der japanische Originaltitel in zweifelhaftem Deutsch heißt: „Heldensagen vom Kosmosinsel“) ansah, kann ich Anime und Iserlohn nur noch zusammen denken, denn einer der wichtigsten Orte dort ist eine Raumstation namens Festung Iserlohn.

Der deutsche Name ist kein Zufall, da eine der beiden Weltraummächte der Serie, das Galaktische Reich, ein Feudalstaat voller deutscher Titel und Namen ist, dem die englischsprachige, aber multiethnische demokratische Allianz Freier Planeten gegenübersteht. Was in dieser Zusammenfassung etwas lächerlich klingen mag, ist die vielleicht beste und realistischste Meditation über Krieg und Politik, die je im Fernsehen zu sehen war. Das Großartige an ihr sind nicht die großen Schlachten, sondern die vordergründig langweiligen Szenen, in denen unzählige Charaktere in Gesprächen das Geschehen kommentieren, oft in einem Café oder einer Bar. So entsteht ein Mosaik verschiedener Sichtweisen, in dem auch die Helden immer hinterfragt werden und klare Grenzen zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch sich bald als illusorisch herausstellen.

Ein Raumschiff im Landeanflug auf die Festung Iserlohn

Das mehr oder weniger schlechte Deutsch wirkt bald ganz natürlich, denn das Galaktische Reich ist keine ins Weltall versetzte Version irgendeines konkreten deutschen Feudalstaats, sondern etwas völlig Eigenes. Genausowenig sind seine Paläste und Fachwerkhäuser einfach wie ihre realen Vorbilder. All die Photos, die japanische Touristen seit den sechziger Jahren in den idyllischsten westdeutschen Städtchen und anderswo in Europa gemacht haben, sie kamen im Anime zurück, aber verändert. Daß die europäische Architektur im Anime, ähnlich wie die Japanmoden des Barock, wenig mit ihren wirklichen Vorbildern gemein hat, verringert ihren Wert nicht, sondern vergrößert ihn. Ein Zerrspiegel zeigt neue Aspekte der Wirklichkeit.

Für die Qualität der Serie ist all das im übrigen belanglos, sie würde auch in japanischem, aztekischem oder irgendeinem anderen Dekor funktionieren, ihr Realismus geht über solche Dinge hinaus. Aber solange ich die wirkliche Stadt dieses Namens nicht kennenlerne, wird Iserlohn für mich im Weltall liegen.

Geiß-Nidda und seine Kirche

Trotz seinem Namen liegt Geiß-Nidda nicht direkt an der Nidda, sondern denkbar versteckt in den Hügeln ihres Tals. Es klammert sich an den recht steilen Hang, ist aber auch noch weit vom Wald auf der Kuppe entfernt. Kommt man von unten, sieht man deutlich nebeneinander das alte Dorf und die neuen Einfamilienhausgegenden, die über einen Nachbarhang gewachsen sind.

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Kommt man von oben, sieht man vor allem den Kirchturm, mit dem man schließlich fast auf einer Höhe ist.

Er ist quadratisch mit spitzer Haube und hat in der Mitte zweier Geschosse rundbögige Doppelfenster. Auch das schlichte Portal des Turms hat einen Rundbogen, eindeutig also Romanik. Die übrige Kirche hat Spitzbögen und ist gotisch.

Während das aber in den hohen, mit jeweils unterschiedlichem Maßwerk geschmückten Fenstern das Chors eindeutig ist, hat der ältere Teil am Turm nur oben Fenster und davor niedrigere Teile mit abfallenden Pultfächern und eigenen Fenstern, was eine noch recht romanische Bauweise, bloß eben mit spitzen Bögen, ist.

Im nördlichen der niedrigeren Teile ist das eigentliche Portal der Kirche, das an den Seiten dreifach, mit angedeuteten Kapitellen sogar fünffach nach innen versetzte Säulen und oben vierfach ineinandergesetzte Spitzbögen in einem dreieckigen Giebel hat. Über der Tür und zwischen den Bögen ist aus demselben roten Sandstein ein weit vorragendes Relief, hängende Skulpturen eher, das in ganz einfachen, naiven Formen eine Kreuzigungsszene zeigt, aber unter einem mehrfach spitzen Baldachin.

Für eine Dorfkirche ist das äußerst aufwendig und ungewöhnlich, aber vielleicht sahen alle romanisch-gotischen Dorfkirchen der Wetterau so aus; es gibt bloß nur noch wenige unveränderte. Vielleicht war es gerade Geiß-Niddas Lage abseits von allem, die die Kirche vor Zerstörung bewahrte, und andererseits die damit verbundene Armut, die große Umbauten, um sie neueren Moden anzupassen, verhinderte. Heute ist das ein Glück für den Ort.

Neben dem Portal ist rechts auch noch eine schmale vorgesetzte Stütze, die in der Skulptur eines bärtigen und lockigen Kopfs endet. Mehr noch als die Kreuzigungsszene zeugt dies von der dörflichen Bildhauerkunst einer Zeit, die ansonsten relativ wenige Spuren hinterließ.

Die Kirche steht inmitten des Dorfs, immer sichtbar zwischen den verschachtelten Häusern am Hang, aber sie ist gar nicht so leicht zu erreichen, als wolle der Ort sie eifersüchtig schützen, wie er es schon seit Jahrhunderten gewohnt ist. Zu ihrem Plateau führt dann aber durchaus eine breite, von den Seiten im Schwung schmaler werdende Treppenanlage und das eiserne Tor hat Maßwerkformen, was hier auch paßt. Gräber sind ringsum keine mehr, die Kirche steht wirklich allein als Juwel des Orts.

Von der aus dem Tal hinaufführenden Straße Zum Sportfeld sieht man vor dem Kirchturm immer links die „Friedenslinde 1871“, die inzwischen höher als die Häuser ist, und rechts vor höher stehenden Häusern einen einfachen Bau mit großen Toren und schmalem quadratischem Holzturm.

Es war wohl ein Feuerwehrhaus, wie es wiederum in der Mitte des 19. Jahrhunderts ganz typisch war, aber selten so unverändert erhalten blieb.

Weniger sympathisch wird Geiß-Niddas Festhalten am Alten und Fortführen von Traditionen, wenn unter der Linde, die aus Anlaß einer Vergrößerung Deutschlands gepflanzt worden war, an einer geschwungenen Steinbank an eine andere erinnert wird: „Eingerichtet nach der Wiedervereinigung 1990 und eingeweiht am 28. April 1991“.

Aber in Geiß-Nidda ist eben alles etwas klarer und konsequenter als in weniger abgelegenen Orten.

Wäschewaschen an der Grenze

Während das spanische Badajoz die wenigen Kilometer zwischen der letzten Brücke und der Grenze, wo schon allerlei Einkaufszentren, der Universitätscampus und Fast-Food-Restaurants sind, langsam mit Wohnbebauung füllt, ist auf der portugiesischen Seite nicht viel. Da die nächste Stadt, Elvas, erst in mittlerer Entfernung auf den ersten Hügeln hinter der Ebene folgt, sind direkt an der Grenze nur die für die Kontrollen und die Zollabfertigung nötigen Anlagen, die schon lange nicht mehr gebraucht werden. Außer zwei Tankstellen und einem Imbiß, der mit einem riesigen tassenförmigen Schild für sich wirbt, ist hier nichts mehr für die auf der Autobahn hindurchkommenden Autos.

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Die übrigen Bauten dieses Orts, der nach dem kleinen Grenzfluß Caia heißt, sind aus verschiedenen Zeiten, aber alle weiß verputzt, manche stehen leer, manche verfallen, manche sind eher improvisiert hergerichtet.

Es gibt etwas, was mit halbrundem chorartigen Anbau und offenem Glockenturm wie eine kleine Kirche aussieht, aber eher nie eine war.

Es gibt eine über Rampen erschlossene Fußgängerbrücke. Es gibt etwas, was vielleicht eine weitere Tankstelle war und einen auf weiten Bögen ruhenden gewölbten Vorbau mit ziegelgedecktem Satteldach hat.

Es gibt an den beiden Schmalseiten einer Reihenhauszeile vertikale Streifen mit Wandbildern auf quadratischen Kacheln, deren Motive an einigen Stellen leicht über die Fläche hinausragen. In Richtung Portugal ist auf und vor zwei gelben Kreiformen, die unten aus stilisierten Getreidefeldern erwachsen, ein Paar in Tracht zu sehen, das mit einer weiten Bewegung nach links, zur Straße hin, grüßt oder aber in die braunen Wellen eines stilisierten gepflügten Feldes aussät.

In Richtung Spanien sind auf einer gelben Kreisform eine von hinten gezeigte Frau in weitem Rock und ein ihr zugewandter Mann mit langer Mütze, die mit erhobenen Händen tanzen, während von links die Sonne hereinscheint, zu sehen.

All das ist direkt an der Autobahn und könnte auch von da gesehen oder wenigstens flüchtigen Blicks erhascht werden. Dahinter jedoch ist eine kleine Siedlung mit zweigeschossigen weißen Gebäuden mit Walmdächern, die völlig aus dem frühen 20. Jahrhundert stammen könnten, wenn nicht vor den Balkonen an den Schmalseiten und vor dem Treppenhaus in der Mitte der Vorderseite durchbrochene Betonwände mit ineinandergesetzten +- und x-Mustern wären. Zwischen ihnen sind Gärten, die früher vielleicht weniger privat als heute, da in vielen angekettete Hunde wachen, waren.

An zwei Stellen gibt es neben an Stahlpfosten befestigten Wäscheleinen auffällige offene Rundbauten.

Die dünnen weißen Betondächer ruhen außen auf runden Stahlstützen und rückwärtig verläuft auf etwa einem Viertel des Kreises eine nicht ganz bis zum Dach reichende weiße Betonwand. In der Mitte ist eine dickere Walzenform mit Wasserhähnen, um die bis zur Höhe von etwa einem Meter ein rundes, sechsfach unterteiltes weißes Betonbecken ist. In jedes dieser kleineren Becken ragen vom Rand nach innen abgeschrägte glatte Steinflächen mit Wellenstruktur, neben denen kleine vertiefte Ablagen sind.

War die Funktion dieser Bauten zuerst ganz unklar, so erklärt sie sich durch die Waschbretter und Seifenablagen von selbst: es sind offene Waschküchen. Ihr Anblick ist auf zweifache Art fremdartig: moderne Formen verbinden sich mit einer primitiven Funktion wie dem manuellen Wäschewaschen und das geschieht im Freien. Ersteres erzählt von der Armut und Rückständigkeit Portugals vor noch nicht allzulanger Zeit, letzteres erzählt vom warmen portugiesischen Klima. Beides zusammen erklärt, wieso man ein solches Gebäude in einem nördlicheren Land nie finden könnte. Vielleicht braucht es einen randständigen, abgelegenen Ort wie diese mehr oder weniger namenslose Grenzsiedlung, um es auch in Portugal noch in einem so makellosen Zustand zu finden.

Türme gegen Piraten

Die auffälligsten, und oft einzigen, alten Bauten inmitten der neuen Tourismusarchitektur der westlichen Costa del Sol sind steinerne Türme, die in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen mehr oder weniger nah am Ufer stehen, oft so, daß sie die nächste Bucht überblicken.

Torremuelle in Benalmádena (Bilder zum Vergrößern anklicken)

Zwangsläufig sind es diese Türme, die den Orten ihre Namen gaben: vom großen Torremolinos über Torrequebrada, Torremuelle, Torreblanca, Torrenueva etc., die einst bestenfalls aus einzelnen Häusern bestanden. Nichts an diese Türmen deutet auf ihre einstige Funktion hin und man kann sie ohne rudimentäre Kenntnisse der örtlichen Geschichte auch nicht herausfinden: sie dienten der Abwehr arabischer und berberischer Piraten von der nahen südlichen Küste des Mittelmeers, deren Raubzüge eine ständige Bedrohung darstellen, oder jedenfalls der Warnung vor ihnen. Bedroht war dabei für die meisten Bewohner der armen Fischerdörfer weniger ihr spärliches Eigentum als ihre Freiheit, denn auch in den ärmsten Gegenden lebten Menschen, die sich gut auf den nordafrikanischen Sklavenmärkten verkaufen ließen.

Man kann diese Türme als verstreute Einzelteile größerer Festungsbauten begreifen. Die typischsten sind rund, aus rohem grauem Stein, monolithisch abweisend, ohne Dekorationen und fast ohne Öffnungen. Auch die Eingänge befinden sich hoch über dem Boden, so daß sie nur mit Leitern zu erreichen sind.

Torrequebrada in Benalmádena

Sie gleichen, obwohl erst nach der vollständigen spanischen Eroberung Andalusiens im 16. Jahrhundert entstanden, den Wehrtürmen nördlicherer mittelalterlicher Burgen, wie es sie hier nie gab.

In El Faro de Mijas mit Schmetterlingssteinen

Eine Ausnahme ist der Turm von Torremolinos, da er bei gleicher Konstruktion einen rechteckigen Grundriß hat und schon lange nicht isoliert am Rande, sondern mitten zwischen den Häusern des einstigen Fischerdorfs, die sich den steilen felsigen Hang hinaufziehen, steht.

Er gleicht dem Bergfried einer mittelalterlichen Burg.

Eine andere Ausnahme ist der Turm in den Dünen am Beginn von Marbella, bei dem auf einen Sockel mit schrägen Seiten die kleiner werdenden Quader des eigentlichen  Turms folgen und vor allem roten Backstein an den Ecken und in schmalen Streifen zwischen dem normalen grauen Stein hat.

Diese Konstruktionsweise ist genau die der arabischen Burgen, der Alcazabas, die es in allen Städten der Gegend gibt. Er zeigt, daß die Befestigung der Küste schon in der Zeit des muslimischen Emirats von Granada begonnen hatte, vermutlich sogar gegen die gleichen Feinde, muslimische Staaten an der nordafrikanischen Küste.

Wenn, wie bei dem Turm am südwestlichen Ende von La Cala de Mijas, oben hinter der Brüstung noch ein rundes Wachhäuschen mit steinernem Kuppeldach und zum Meer zeigenden Schießscharten steht, verweist das bereits auf einen zweiten, weit selteneren Turmtyp.

Torrenueva in Mijas

Schon ihre Lage hebt diese Türme, die etwa in La Cala de Mijas und Marbesa zu finden sind, hervor, indem sie es nicht tut, denn wo andere erhöht stehen, stehen sie auf ebener Erde nur Meter vom Strand.

Vorne, zum Meer hin, sind sie halbrund mit sich leicht verjüngenden Mauern, hinten sind sie umso eckiger mit zwei seitlichen schräg ansteigenden Teilen um die zurückgesetzte Mitte, in der unten ein tiefer Gang zum Eingang führt, und oben haben sie weitere Aufbauten.

Nicht nur ist diese Form viel aufwendiger, noch dazu hat der Turm statt roher Steine eine Verkleidung eingepaßter bearbeiteter Steine und oben eine runde Bordüre. Wo viele der anderen Türme etwa so schon im Mittelalter, ach, in der Eisenzeit hätten erbaut werden können, gehören diese Türme in die entwickelte Festungsarchitektur des 18. Jahrhunderts. Ganz wie jene zufällig abgestellten Burgtürmen gleichen, könnten sie verlorengegangene Teile einer Festung sein.

Nicht lange nach der Errichtung der Türme dieses zweiten Typs, ab dem frühen 19. Jahrhundert, wurde die technische Überlegenheit der europäischen Seemächte so überwältigend, daß die Piratenstaaten Nordafrikas, die schon lange nur noch formell zum osmanischen Reich gehört hatten, erst besiegt, dann erobert werden konnten. Aber die dafür nötigen Kriege führten englische, französische, amerikanische Flotten und die Sicherheit der spanischen Küste war ihnen nicht einmal ein Nebengedanke; es ging um die Sicherung des Seehandels. Frei von der Piratenbedrohung änderte sich für die westliche Costa del Sol denn auch wenig, etwas Industrie entwickelte sich nur in der großen Hafenstadt Málaga, das dank seiner auf die arabische Zeit zurückgehenden Festung ohnedies immer sicher gewesen war. Erst hundert, hundertdreißig Jahre später schuf der Tourismus die heutige Costa del Sol.

Er brachte eine gutartige Invasion, willkommen geheißen, massiv gefördert, aber größere Veränderungen bewirkend als Jahrhunderte arabischer und berberischer Piratenüberfälle und die Versuche zu deren Abwehr.

Torre de las Palomas östlich von Málaga mit Centre Pompidou

Mit den alten Türmen wußte die Touristenarchitektur nichts anzufangen, da es keine Stadtplanung gab, so daß es bereits als Leistung gelten muß, wenn, wie beim Sporthafen in Benalmádena, eine Straße auf einen zuführt oder, wie in Torremuelle, eine kleine Kopie in der Mitte eines Kreisverkehrs steht.

Aber die Türme stehen zwischen den Ferienanlagen und Hoteltürmen und erzählen denen, die zuhören wollen, von der Geschichte einer scheinbar geschichtslosen Landschaft.

Torre del Río Real östlich von Marbella

Das Einfache in Grevenbroich

Es gibt eine Art, es richtig zu machen, und die ist gar nicht schwer, wie folgendes Gebäude in Grevenbroich zeigt.

Es steht fast versteckt in der Steinmetzstraße, einer Stichstraße der Orkener Straße, wo sich niedrige vorstädtische Mietshäuser verschiedener Zeiten mischen, und ist vom Bahnhofsvorplatz durch das Gelände eines Handwerksbetriebs getrennt – eines Steinmetzs.

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Seine Wände sind aus weißem Backstein, es hat sechs Geschosse, der rechte Teil ist auf dem kleinen begrünten Grundstück weiter vorgesetzt als der linke, es gibt keine Verzierungen, aber das ist fast egal, denn vor jedem der Balkone und an mehreren Stellen um die Dachterrasse des zurückgesetzten obersten Geschosses sind auf niedrigen Betongeländern schmale Betonwannen, in denen die verschiedensten Pflanzen wachsen. Sind es bei den Balkonen Blumen und kleine Sträucher, so kommen auf der Dachterrasse auch hinter den Wannen ganze Bäume hinzu.

Zuerst sieht man das Gebäude daher kaum als solches, sondern als Grün, als bewaldeten Fels vielleicht, und das unterscheidet es so sehr von allen anderen in der Umgebung, daß der Kontrast wie ein Schock ist. Erst danach mag man Details bewundern, besonders wie die vorstehenden Balkone erst nach rechts ein kurzes Holzgeländer, dann eine lange Pflanzenwanne nach vorne, die bei einer querstehenden Backsteinwand endet, und schließlich im rechten Teil hinter dieser zurückgesetzt nach vorne ein weiteres Holzgeländer und nach links eine kürzere Pflanzenwanne beziehungsweise im linken Teil nach vorne die Pflanzenwanne und nach links das Holzgeländer haben.

Die Balkone sind so nicht Anhängsel der Wohnungen, sondern zentrale Räume, sogar fast zwei separierte Räume, die durch die Pflanzenwannen so sehr wie möglich zu Gärten werden, weshalb an den anderen Gebäudeseiten auch nur mehr oder weniger große Fenster sein müssen. Das ist die richtige Art zu bauen, das hebt dieses Gebäude so weit über die anderen, die sachliche oder mit einer riesigen blauen Halbsäule über dem Eingang postmodernistisch historisierende Fassaden haben mögen, hervor, daß es ebensogut ein Hochhaus sein könnte

Ein anderes Gebäude in der nahen Erckensstraße verrät mit demselben weißen Backstein und eckigen Pflanzenkübeln in den Balkonen die Handschrift desselben Architekten, gehört aber mit weiß wärmegedämmten Wandteilen, vertikalen Fenstern, nur drei Geschossen und halbunterirdischem Garagengeschoß so deutlich in die neunziger oder spätere Jahre, wie das andere in die siebziger Jahre.

Die reduzierten Pflanzenkübel genügen noch immer, es über die Gebäude seiner Umgebung hinauszuheben, aber weit unter seinem Vorgänger in der Steinmetzstraße zurückzulassen.

Daß die richtige Lösung in Grevenbroich also von einem individuellen Architekten abhängt, ist bedauerlich. Daß begrünte Balkone seltener werden, ist bezeichnend und entlarvt alles Gerede von Ökologie als Lüge. Wie einfach es ist, es richtig zu machen, zeigt das Grevenbroicher Beispiel dennoch. Alle Wege führen nach Alterlaa.

Żuławki: Häuser

Der Ort Żuławki trägt den Namen der Region Żuławy schon als Diminutiv im Namen und so gibt es dort auch vieles von dem, was sie ausmacht.

Etwa in der Mitte des langen und recht dicht bebauten Straßendorfs, an einer leichten Biegung der Straße, als solle die Leichtigkeit und Transparenz seines Vorbaus noch hervorgehoben werden, steht ein Vorlaubenhaus. Es gehört zum späteren Typ mit hölzernem Erdgeschoß und hohem Satteldach parallel zur Straße, dem genau in der Mitte ein Querteil mit offenem Erdgeschoß, Obergeschoß aus Fachwerk und weiterem Satteldach vorgesetzt ist. Das Fachwerk ist recht einfach, zu rechteckigen Feldern kommen bloß einige in X-Formen.

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Aller Schmuck ist hier auf die Stützen konzentriert, die Säulen mit eckigen Basen und deutlich abgesetzten, entfernt dorische Kapitellen, sind. Die dazwischen eingefügten Holzblenden bilden hier so etwas wie kompliziert geformte Bögen, aus deren Mitte zwiebelförmige Elemente herabhängen, und der Teil über den Balken, wo üblicherweise das Fachwerk mit einem schmalen Streifen beginnt, hat ein hölzernes Blumenmuster.

Die übrigen Häuser in Żuławki sind aus Holz und Backstein, dazwischen nur relativ wenige neuere, so daß es sich gut als Freilichtmuseum eines żuławischen Dorfs vor hundert Jahren eignen würde.

Das für die Żuławy so charakteristische Wasser scheint  in Żuławki  auf einen großen Weiher mit parkartig gestalteten Ufern beschränkt zu sein.

Tatsächlich jedoch verläuft direkt parallel zur Straße, direkt hinter der Mauer des katholischen Friedhofs, die Szkarpawa, der letzte und wichtigste der von der Wisła (Weichsel) nach Osten führenden und in das Zalew Wiślany (Frische Haff) mündenden Flüsse. Eigentümliche Hügel im Süden des Orts sind wohl Reste eines Damms, der im Zuge der Neuregulierung der Wisła unnötig geworden war, und am nördlichen Ende führt die querende Landstraße auf einer breiten Ziehbrücke über den Fluß. Die erst einmal versteckte Nähe zum Wasser half gewiß auch, Glocken oder Grabsteine vom dann gut erreichbaren Danzig anzuliefern.

Fürstenwerder lautete der deutsche Name, auch darin waren die Żuławy, der Werder, enthalten und es ist gut, daß der Fürst heute verschwunden ist. Überraschenderweise gibt es in Żuławki aber deutliche Beispiele neuen, wenn auch nicht fürstlichen, sondern neobürgerlichen Reichtums.

In der Nähe des Vorlaubenhauses steht ein größeres Haus mit hölzernem Erdgeschoß und Giebelflächen aus Backsteinfachwerk, das vor kurzem vollständig renoviert wurde. Es sieht jetzt aus wie neu, aber sogar die gußeisernen Stufen der kleinen Terrasse vor dem Eingang sind erhalten.

Über der Tür steht „1843/2020“, wobei das erste Jahr für irgendeinen Teil des Hauses zutreffen mag, keinesfalls jedoch für seine heutige Gestalt, die aus dem späteren 19. Jahrhundert ist.

Ganz am Ende des Orts, fast schon versteckt, steht ein zweites Vorlaubenhaus, an dem vor allem ungewöhnlich ist, daß der Querteil deutlich links der Mitte vorgesetzt ist.

Es ist perfekt renoviert und noch dazu hängt an einer Wand ein Schild mit der Adresse Fürstenwerder 6. Eine Informationstafel behauptet eine Erbauung im 18. Jahrhundert, aber über dem Eingang steht 1825. Hier wohnten, wie die großen backsteinernen Scheunen und Ställe dahinter bezeugen, schon früher reiche Leute und wie die großen Autos daneben bezeugen heute wieder.

Die historistischen Schnörkel des Einfahrttors passen erschreckend gut zum vielleicht neueren Zaun mit dem Briefkasten, auf dem „Letters“ steht. Wären die dem Geschmack der wilhelminischen Zeit entsprechenden Holzgiebel noch interessant, wenn man ihnen ihr Alter ansähe, so werden sie durch die makellose Renovierung, wie das gesamte Haus, bloß unsympathisch und die germanophilen Gimmicks machen es noch schlimmer.

All das ist schon nicht mehr der plakative geschmacklose Reichtum der ersten Jahre des restaurierten polnischen Kapitalismus, sondern ein dezenterer, distinguierterer, der sich mit alten Häusern schmückt, einer, der aus Deutschland vertraut, aber in Polen glücklicherweise noch selten ist. Bloß die Privatbesitz- und Videoüberwachungsschilder sind noch zu groß. So scheint dieses Vorlaubenhaus ganz anders als das andere kaum zu Żuławki zu gehören, sondern in einer Blase des Reichtums zu existieren. Aber auch das gehört zu den Żuławy.

Kúpele Sliač: Hotel Palace

Wenn man das Hotel Palace von weiter oben im wohlgestalteten Kurpark von Sliač sieht, ist es bereits ein unverkennbar fortschrittlicher Bau seiner Zeit, der ersten tschechoslowakischen Republik in den frühen dreißiger Jahren: weiß und schnörkellos, durchgehenden Balkone mit horizontalen Stahlgeländern, zu denen sich große Fenstertüren öffnen und die durch oben abgerundete Querwände unterteilt sind, fast flache Kupferdächer. In der Mitte ist ein quergesetzter viergeschossiger Trakt, in dem links der Eingang mit seinem weit vorragenden und auf zwei runden Stützen ruhenden Vordach ist, und nach rechts verläuft ein längerer dreigeschossiger Bettentrakt.

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Das ist eine Hoteltypologie, die seitdem grundsätzlich unverändert blieb, aber zugleich durch den Innenhof, von dem man nichts ahnen würde, zeigt, wie sie sich aus den Hotels des 19. Jahrhunderts entwickelte. In Sliač ist dies erst der Anfang einer weit größeren Anlage, die das 19. Jahrhundert weit hinter sich läßt.

Links fügt sich an den Eingang ein zweigeschossiger Trakt, in dem unten Kolonnaden mit runden Stützen und oben eine Terrasse mit entsprechenden Geländern und Querwänden sind. Die Kolonnaden verlaufen nach links noch lange weiter, bald ohne Zimmer im Obergeschoß, und an ihrem Ende ragt rückwärtig ein weiterer viergeschossiger Trakt, in dem ebenfalls keine Zimmer sind, auf. Vor ihnen ist eine Allee, die dann in den Platz vor dem Kurhaus mündet und so das Rückgrat der Sliačer Badanlagen bildet.

In der Mitte öffnen sich die Kolonnaden nach innen und unter einem von den runden Stützen getragenen Dach, das durch große weiße Betonstreben in mehrere Quadrate unterteilt ist, in denen in kleineren Quadratrahmen lichtspendende Glasbausteine sind, führt eine breite Treppe hinab, während an ihren Seite Wege auf eine Terrassenebene und zu weiteren Kolonnaden auf der anderen Seite des Gebäudes führen.

Hier erst wird die enorme Hanglage des Hotel Palace offenbar. Die Treppe verläuft über drei Terrassenstufen mit abgerundeten Stahlgeländern, die zwei Geschossen entsprechen.

In ihrer Achse, bevor der offene Park beginnt, steht ein kleiner rechteckiger Pavillon mit zu beiden Seiten wie kleine Flügel weit abstehendem Flachdach.

An dieser Hangseite sind die von den schmucklosen weißen runden Stützen gebildeten Kolonnaden nunmehr also zwei Geschosse hoch und über ihnen sind auf der Terrassenebene weitere eingeschossige Kolonnaden, die von dort aus gesehen ebenerdig sind.

Nach links, wo die Bettentrakte des Hotel Palace sind, erstrecken sich zweigeschossige Zimmer, die im Erdgeschoß wiederum durch die abgerundeten Wände getrennt sind.

In der Verlängerung des Eingangstrakts folgt ein viergeschossiger Bettentrakt, der dann eine Ecke bildet, parallel zum oberen als lange gleichförmige Abfolge unterteilter Balkone, die sich zum Hang öffnen, verläuft und nach einer weiteren Ecke den Innenhof abschließt.

Rechts sind zuerst das Kino, zu dem ein bis vor die Kolonnaden ragender Balkon mit unten massiver weißer und oben stählerner Brüstung gehört, und vor ihm unter hohen Kastanien eine große Freilufttanzfläche aus hellem glattem Stein.

Sie ist schon wie die äußere Einleitung des anschließenden Quertrakts, in dem auf vier Geschossen die Säle von Restaurants und anderen Gemeinschafseinrichtungen sind. An seiner linken Seite setzen sich in den unteren beiden Geschossen noch die Kolonnaden fort und oben verläuft die Terrassenebene und vor dem vierten Geschoß ein weiterer, schmalerer Balkon.

Nach vorne jedoch, zum Tal hin, sind die unteren beiden Geschosse fast völlig verglast und in den beiden oberen Geschossen hinter der Terrassenebene sind die breiten zurückgesetzten Glasflächen wie gerahmt von einem schmalen Dachstreifen und weißen Wandflächen, in die auf halber Höhe von links der freischwebende Abschluß des Balkons und von recht, wo außerdem vertikale Fensterschlitze sind, eine ähnliche Terrasse der halb im Hang verschwindenden rechten Seite hineinragen.

In der Ecke zwischen Kino und Saaltrakt ragt der oben abschließende, dort viergeschossige Trakt auf, der nun aber wie ein Hochhaus wirkt, und seine Ecken sind durch große, sowohl vorgesetzte als auch vertiefte Balkone hinter eckigen Stützen völlig transparent. Auf dem höchsten Teil seines Dachs stehen große, schmale, ins Vertikale gezogene graue Buchstaben, die nach vorne „Kúpele Sliač“  (Bad Sliač) und zu den Seiten zusätzlich „Sliač“ besagen.

Das gehört schon nicht mehr nur zum Hotel Palace, sondern richtet sich mit den Fensterfronten des Saaltrakts und über sie hinweg an die Besucher, die den Weg in die Kuranlagen von Sliač hinaufkommen. Zwischen dem großen, teils in Dachterrassen ansteigenden Gebäude des rechts gelegenen Platzes des Kurhauses und dem Namen auf diesem Trakt des Hotel Palace empfängt Kúpele Sliač seine Besucher als Ort äußerster Modernität und es ist genau das. Hier ist in den dreißiger Jahren schon alles realisiert, wonach die fortschrittliche Architektur strebte.

Jedes Einzelteil ist beeindruckend und gleichsam vorbildlich, das heißt Vorbild für spätere Lösungen, und wäre es auch, wenn es alleine stände. Die Bettentrakte, die zwar durch den Innenhof der konservativste Teil der Anlage sind, aber deutlich machen, daß sie ebensogut, besser in Zeilenbauweise freistehen könnten.

Das Hochhaus mit dem Schriftzug, tschechoslowakischer Großstadttraum. Das Kino, das die modernistische, aber durch die dann eher zwecklosen Kolonnaden auch klassische Zierde jeder Kleinstadt wäre. Der Saal, dessen repräsentative, aber nicht monumentale Fensterfront auch bei manchem sozialistischen Kulturhaus der sechziger Jahre nicht anders aussieht. Die zweigeschossigen Zimmer, Höhepunkt des Luxus und sowohl minimalistische Reihenhäuser wie aus den fortschrittlichsten deutschen Siedlungen der zwanziger Jahre als auch Maisonettewohnungen wie aus den Entwürfen von Le Corbusier. Aber entscheidend ist, daß all das in einem einzigen enormen Gebäudekomplex untergebracht ist und in die Landschaft eingefügt wurde, um mit den anderen Gebäuden einen ganz neuartigen Ort entstehen zu lassen.

Nicht nur mit architektonischen, sondern auch mit städtebaulichen Begriffen muß das Hotel Palace fassen. Es ist letztlich eine bürgerliche Großwohneinheit. In der einen Hälfte das Wohnen, in der anderen die Gemeinschaftseinrichtungen wie Restaurants, Säle, Kinos, dazwischen unter den Kolonnaden auch Geschäfte, um die Treppe, die Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens, Agora, Forum, ist, Cafés und ringsherum eine Parklandschaft mit Blicken über das weite Tal des Hron.

Ganz selbstverständlich, daß der Sozialismus viel damit anzufangen wußte. Schon während des SNP (Slowakischen Nationalaufstands) 1944 diente das Hotel Palace, wie mehrere Gedenktafeln besagen, als Militärkrankenhaus, später wurde es volkseigen. Vom sozialistischen Erbe lebt es noch heute ganz, die Leuchtschilder aller Einrichtungen, aber auch die Logos der Läden stammen als dieser Zeit, als es zuletzt renoviert wurde, ohne daß irgendwelche Um- oder Anbauten nötig gewesen wären.

„Schmuck“

Heute wie 1931: das Hotel Palace ist eine erstaunliche Anlage, die über typische Kurarchitektur weit hinausgeht.