Es ist wahr, daß das Belvedere – Prinz Eugenio von Savoys Landsitz in Wien – von oben zu betrachten ist. Es ist wahr, daß es ein Fließen von Wasser, Garten und Architektur den Hang hinab zur Stadt ist. Das Obere Belvedere ist zu Garten, Hang und Stadt ausgerichtet.
Wie sein an den Seiten bloß zwei hohe Geschosse umfassender Baukörper nach jeweils nur vier Fenstern um ein weiteres Geschoß ansteigt und nach fünf weiteren Fenstern mit dem Mittelteil nach vorne tritt und noch etwas höher wird, wobei Geschoß- wie Fenstergrenzen unwichtig werden. Wie noch mehr die kupfernen Walmdächer hinter Brüstungen mit Skulpturen, die sie nicht verstecken und nicht verstecken sollen, Stufen nach oben und dann nach vorne bilden. Wie das Gebäude so gleichsam eine Pfeilform bekommt und seine Bewegung nach vorne durch das transparente Erdgeschoß des Mittelteils noch betont wird. Wie die vier achteckigen Türme in den Schmalseiten mit ihren hohen Kuppeldächern hinter den Brüstungen die Bewegung bremsen, das Gebäude festhalten, als nüchterne Eckpunkte seine Waghalsigkeit in vernünftige Bahnen leiten. All das ist wahr.
Aber es ist zu ergänzen, daß das 1726 fertiggestellte Obere Belvedere der neuere Teil des Ensembles ist. Das ältere Untere Belvedere von 1716 hat einen deutlich anderen Charakter. Es ist so lang wie sein oberes Gegenstück, aber anders als dieses wirkt es auch lang. An den Seiten hat es nur ein hohes Geschoß und im langen ziegelgedeckten Mansarddach einige Fenster. Der Mittelteil ist leicht vorgesetzt, vor allem aber durch Brüstungen mit Skulpturen vor den Enden der Dächer und ein weiteres Geschoß mit weiterem, spitzerem Mansarddach hinter Brüstungen und Skulpturen betont. Die seitlich abschließenden Teile haben vor ihren spitzen Mansarddächern gar dreieckige Tempelgiebel, ein antikisierendes Motiv, das die seitlichen Türme des Oberen Belvedere eher zitierend und viel kleiner aufnehmen.
Es ist dies die Gartenseite des Unteren Belvedere, denn ausgerichtet ist es eigentlich zur Straße, zum Rennweg, zu dem es einen wegen dessen Verlauf unregelmäßigen Vorhof hat. Das Untere Belvedere ist damit ein recht typisches, recht mediokres Barockschlößchen, das in Wien nicht auffallen würde.
Auch sein Garten ist nicht weiter bemerkenswert: Skulpturen stehen auf Sockeln vor Wänden aus Hecken, die rechteckige Bereiche mit Senken umschließen. Wenn man von hier aus zum Oberen Belvedere hinaufblickt, sieht man vielleicht noch keine Bewegung nach unten, sieht es überhaupt kaum. Zwischen der unteren und der mittleren Ebene des Gartens ist eine deutliche Stufe, der Brunnen könnte auch, wie er es ursprünglich war, in einer abschließenden Wand sein und die seitlichen Treppen wie Rampen sind steil.
Die beiden oberen Ebenen des Gartens aber sind an den Seiten mit durchgehenden, sanft ansteigenden Wegen verbunden, in die die mittlere wie eingebettet ist, und der Brunnen hat viele Stufen, die man von beiden Ebenen gut betrachten kann. Hier gibt es keine Grenze, kein Hindernis mehr, hier beginnt alles zu fließen. Hier stehen die Skulpturen frei, wenn auch vielleicht in Wasserbecken, haben keine oder sehr niedrige Sockel und wollen von allen Seiten betrachtet werden.
Das gleicht gilt, bei aller Bedeutung seiner Bewegung zum Garten, zum Hang, zur Stadt hin, für das Obere Belvedere, das auch von Straßen nichts mehr weiß. Es ist kein Zufall, daß seine seitlichen Türme an mittelalterliche Burgen oder Renaissanceschlösser erinnern, denn wie solche steht es frei, losgelöst von der Stadt. Hier erst ist das Belvedere es selbst.
Das Belvedere ist ein Ensemble, aber es besteht nicht aus gleichwertigen Teilen. Das Untere Belvedere ist ein konventionelles Barockschloß mit dem Garten hinter sich, das Obere Belvedere aber hat den Garten, die namensgebende Aussicht und ganz Wien vor sich. Es verleibt sich auch den unteren Garten samt Gebäude ein. Das Obere Belvedere braucht das Untere nicht, aber dieses wäre ohne jenes völlig wertlos. Niemals wäre das Untere nach dem Oberen Belvedere errichtet worden, denn sein Fließen will einen ganz anderen Abschluß oder nein, noch lieber will es gar keinen Abschluß, es will als Flut immer weiter, alles wegspülen, um Platz für Neues zu schaffen. Da das unmöglich war, ist das Untere Belvedere als Abschluß so gut und enttäuschend wie jeder andere es wäre.