Archiv der Kategorie: Wien

Zwei Belvedere

Es ist wahr, daß das BelvederePrinz Eugenio von Savoys Landsitz in Wien – von oben zu betrachten ist. Es ist wahr, daß es ein Fließen von Wasser, Garten und Architektur den Hang hinab zur Stadt ist. Das Obere Belvedere ist zu Garten, Hang und Stadt ausgerichtet.

Wie sein an den Seiten bloß zwei hohe Geschosse umfassender Baukörper nach jeweils nur vier Fenstern um ein weiteres Geschoß ansteigt und nach fünf weiteren Fenstern mit dem Mittelteil nach vorne tritt und noch etwas höher wird, wobei Geschoß- wie Fenstergrenzen unwichtig werden. Wie noch mehr die kupfernen Walmdächer hinter Brüstungen mit Skulpturen, die sie nicht verstecken und nicht verstecken sollen, Stufen nach oben und dann nach vorne bilden. Wie das Gebäude so gleichsam eine Pfeilform bekommt und seine Bewegung nach vorne durch das transparente Erdgeschoß des Mittelteils noch betont wird. Wie die vier achteckigen Türme in den Schmalseiten mit ihren hohen Kuppeldächern hinter den Brüstungen die Bewegung bremsen, das Gebäude festhalten, als nüchterne Eckpunkte seine Waghalsigkeit in vernünftige Bahnen leiten. All das ist wahr.

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Aber es ist zu ergänzen, daß das 1726 fertiggestellte Obere Belvedere der neuere Teil des Ensembles ist. Das ältere Untere Belvedere von 1716 hat einen deutlich anderen Charakter. Es ist so lang wie sein oberes Gegenstück, aber anders als dieses wirkt es auch lang. An den Seiten hat es nur ein hohes Geschoß und im langen ziegelgedeckten Mansarddach einige Fenster. Der Mittelteil ist leicht vorgesetzt, vor allem aber durch Brüstungen mit Skulpturen vor den Enden der Dächer und ein weiteres Geschoß mit weiterem, spitzerem Mansarddach hinter Brüstungen und Skulpturen betont. Die seitlich abschließenden Teile haben vor ihren spitzen Mansarddächern gar dreieckige Tempelgiebel, ein antikisierendes Motiv, das die seitlichen Türme des Oberen Belvedere eher zitierend und viel kleiner aufnehmen.

Es ist dies die Gartenseite des Unteren Belvedere, denn ausgerichtet ist es eigentlich zur Straße, zum Rennweg, zu dem es einen wegen dessen Verlauf unregelmäßigen Vorhof hat. Das Untere Belvedere ist damit ein recht typisches, recht mediokres Barockschlößchen, das in Wien nicht auffallen würde.

Auch sein Garten ist nicht weiter bemerkenswert: Skulpturen stehen auf Sockeln vor Wänden aus Hecken, die rechteckige Bereiche mit Senken umschließen. Wenn man von hier aus zum Oberen Belvedere hinaufblickt, sieht man vielleicht noch keine Bewegung nach unten, sieht es überhaupt kaum. Zwischen der unteren und der mittleren Ebene des Gartens ist eine deutliche Stufe, der Brunnen könnte auch, wie er es ursprünglich war, in einer abschließenden Wand sein und die seitlichen Treppen wie Rampen sind steil.

Die beiden oberen Ebenen des Gartens aber sind an den Seiten mit durchgehenden, sanft ansteigenden Wegen verbunden, in die die mittlere wie eingebettet ist, und der Brunnen hat viele Stufen, die man von beiden Ebenen gut betrachten kann. Hier gibt es keine Grenze, kein Hindernis mehr, hier beginnt alles zu fließen. Hier stehen die Skulpturen frei, wenn auch vielleicht in Wasserbecken, haben keine oder sehr niedrige Sockel und wollen von allen Seiten betrachtet werden.

Das gleicht gilt, bei aller Bedeutung seiner Bewegung zum Garten, zum Hang, zur Stadt hin, für das Obere Belvedere, das auch von Straßen nichts mehr weiß. Es ist kein Zufall, daß seine seitlichen Türme an mittelalterliche Burgen oder Renaissanceschlösser erinnern, denn wie solche steht es frei, losgelöst von der Stadt. Hier erst ist das Belvedere es selbst.

Das Belvedere ist ein Ensemble, aber es besteht nicht aus gleichwertigen Teilen. Das Untere Belvedere ist ein konventionelles Barockschloß mit dem Garten hinter sich, das Obere Belvedere aber hat den Garten, die namensgebende Aussicht und ganz Wien vor sich. Es verleibt sich auch den unteren Garten samt Gebäude ein. Das Obere Belvedere braucht das Untere nicht, aber dieses wäre ohne jenes völlig wertlos. Niemals wäre das Untere nach dem Oberen Belvedere errichtet worden, denn sein Fließen will einen ganz anderen Abschluß oder nein, noch lieber will es gar keinen Abschluß, es will als Flut immer weiter, alles wegspülen, um Platz für Neues zu schaffen. Da das unmöglich war, ist das Untere Belvedere als Abschluß so gut und enttäuschend wie jeder andere es wäre.

Alterlaa als Grundlage

Alterlaa ist etwas Besonderes. Eine ganze Wohnanlage aus hohen Terrassenhäusern, jede Terrasse üppig begrünt – wie oft gibt es das schon?

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Und das ist das Problem an Alterlaa. Es sollte nichts Besonderes sein, sondern das Normale. Terrassenhäuser wie diese, die die Vorteile des Einfamilienhauses mit den Vorteilen des Hochhauses verbinden, sollten gegenwärtig die Grundlage aller Architektur sein. Es sollte sie in tausendfachen Variationen geben, höher und niedriger, mit kleineren und größeren Terrassen, auf verschiedenste Arten an städtische und landschaftliche Bedingungen angepaßt, mehr oder weniger gelungen auch. Sie zu sehen sollte alltäglich sein, langweilig, banal. Keiner sollte darüber nachdenken müssen, wieso sie so sind wie sie sind, da sie eben normal sind und funktionieren. Daß es nicht so ist, daß Alterlaa etwas Besonderes ist, zeigt die Stagnation in der Architektur, die irgendwann zwischen 1975 und 1980 begann.

In den fünfzig Jahren davor hatte es starke Strömungen gegeben, denen es mehr um Funktion als um Form ging. Ihre Grundlage waren mehr oder weniger hohe, mehr oder weniger lange freistehende Wohngebäude.

Es gab sie in tausendfachen Variationen, höher und niedriger, mit allen möglichen mal mehr, mal weniger schlichten Fassadengestaltungen, oft, aber nicht immer mit Flachdach, auf verschiedenste Arten an städtische und geographische Bedingungen angepaßt, mehr oder weniger gelungen auch. Sie zu sehen war und ist alltäglich, langweilig, banal. Keiner denkt darüber nach, wieso sie so sind wie sie sind, da sie eben normal sind und funktionieren. Das war aber nicht immer so. Bis Mitte der zwanziger Jahre gab es diese Art von Gebäude praktisch nicht. Normal war bis dahin und nach lange danach die Blockrandbebauung. Daß sie heute nichts Besonderes mehr sind, war nicht selbstverständlich, sondern ein Sieg des Fortschritts.

Auch Alterlaa muß siegen und aufhören, etwas Besonderes zu sein.

Die Verfälschung von Schönbrunn

Man kann Schönbrunn von außen sehen – kostenlos – oder man kann Schönbrunn von innen sehen – wenn man gewillt ist, in einer Schlange anzustehen, mindestens 14,20 Euro zu zahlen, in Räumen mit dem Charme eines Provinzflughafens in einer zweiten Schlange anzustehen und sich mit unzähligen anderen Besuchern durch die Säle treiben zu lassen. Ob sich das lohnt, muß jeder selbst entscheiden. Was man auf jeden Fall nicht sehen wird, ist  – Schönbrunn.

Denn das Einzige, was dieses Monstrum von einem Schloß interessant machen könnte, ist, wie es das Außen und das Innen verbindet und das ist bei seiner heutigen Präsentation nicht mehr erlebbar.

Aus Schütz, Manfred/Frenzel, Reiner: Paläster und Schlösser in Europa, Leipzig 1970 (Bilder zum Vergrößern anklicken)

Heute sieht man Schönbrunn entweder von außen als die Seite des Vorhofs oder die Seite des Parks, die durch eine lange Wegstrecke voneinander getrennt sind, oder von innen als eine Abfolge künstlich beleuchteter und mit Holzjalousien abgeschlossener Säle. Doch beides ist nicht, was Schönbrunn sein will. Es ist kein Hindernis zwischen Vorhof und Park, sondern eine Verbindung. Es ist kein museal abgeschotteter Innenraum, sondern nach außen geöffnet.

Man kann ersteres erahnen, wenn man in der Mitte der Hofseite vor der heute verglasten Einfahrt steht und durch das Schloß über die Weite des Parks, über den Neptunbrunnen und den Hang bis zur Gloriette schaut. Diese Einfahrt und der Erdgeschoßbereich, den man als Halteplatz für Kutschen mit einem Busbahnhof vergleichen kann, sind der architekturgewollte Weg vom Vorhof in den Park.

Man kann zweiteres erahnen, wenn man an einer der beiden Seiten auf den Balkonen vorm zweiten Geschoß steht und durch die Jalousien in die Säle und durch sie hindurch zur anderen Seite schaut. Die hohen Fenstertüren weit geöffnet zu den Balkonen und ihren in Vorhof und Park herabführenden Freitreppen, das Außen ins Innere hineinholend, so sind diese Säle gedacht.

Erahnen also kann man Schönbrunn, erleben aber nie. Nie wird man zu Fuß oder in einer Kutsche vorm Vorhof durch den dunklen Bauch des Schlosses kommen und sehen, wie sich vor einem der Park öffnet. Nie wird man vom Saal auf den Balkon treten und statt der Deckenmalereien den Himmel über sich sehen. So, wie Schönbrunn heute präsentiert wird, wird es verfälscht. Ein Ganzes wird zerrissen, in sinnlose Teile zerlegt. Mag sein, daß das schwer zu ändern wäre. Sogar wenn das kapitalistische Bedürfnis, daran Geld zu verdienen, wegfiele, wäre den vielen Tausenden von Besuchern ein Wechseln zwischen Saal und Balkon kaum zu ermöglichen. Der Weg durchs Erdgeschoß dafür wäre leichter zu öffnen.

Nun ist es nichts Schlechtes, im Gegenteil sogar, ein altes Gebäude auf neue Arten zu erschließen, es in einen neuen Kontext zu setzen. Zur Verfälschung wird es erst dadurch, daß es so nichts dazugewinnt, sondern verliert. Denn die heutige Präsentation weitet dem Besucher den Blick auf Schönbrunn nicht, sondern verengt ihn. Sein Innen wird durch sie zu weltabgewandtem k.u.k.-Kitsch, sein Außen zur leeren Fassade. Verloren geht dabei die mögliche Erkenntnis, daß dieses Schloß in funktionaler Hinsicht gar nicht so anders ist als manches, was der Besucher aus dem Alltag kennt. Viele konnten schon transparente Räume, von denen man in Gärten tritt, oder Busbahnhöfe unter Gebäuden erleben, wenige dachten dabei an Schönbrunn. Es wäre zu zeigen, wie viel von dem, was einst dem allerreichsten Adel vorbehalten war, heute Allgemeingut ist, doch das Gegenteil geschieht. Denn einiges des Alten und Fremden an Schönbrunn ist das Ergebnis einer Verfälschung.

Erkundungen auf Friedhöfen: Das Grab des Rabbis Samuel Aron Frommer

Manchmal wird von lebendiger Geschichte geredet. Das stimmt natürlich nie. Geschichte ist tot und alles, was Geschichte nacherlebbar machen will, ist eine, vielleicht gutgemeinte, Lüge. Aber manchmal steht man der Geschichte doch unvermittelter gegenüber als sonst. So am Grab des Rabbis Samuel Aron Frommer auf dem alten jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs.

FrommerGrab

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Es ist ein großes Grab, aber nicht auffällig groß. Eine freistehende Gruft mit leicht orientalisierenden Pilastern und Tempeldach. Oben zu drei Seiten in hebräischer Schrift der Name und die chassidischen Ehrentitel des Rabbis. Innen ein schmaler Raum und an seinem Ende ein großer, aber schlichter weißer Stein mit hebräischer Inschrift.

FrommerGrabstein

Nirgends ein lateinisches Wort. Das ist auf dem Wiener Zentralfriedhof, wo meist zweisprachige oder deutsche Inschriften sind, nicht häufig, aber auch nicht einmalig. So könnte man also weitergehen, sicher, daß das Grab einem nichts sagen kann, weil man kein Hebräisch kann. Das wäre aber ein Fehler. Stattdessen trete man ein.

Auf den Sockel des Grabsteins wurde etwas geschrieben, Kritzeleien, meint man, Schändungen gar, Zeichen der Verwahrlosung. Und auch zwischen den Zeilen oben etwas, ein Herz mit Datum. Dann das plötzliche Erkennen: das Schwarze auf dem weißen Stein ist kein Dreck, es ist sind Buchstaben. Der Grabstein des Rabbis Samuel Aron Frommer ist über und über mit Worten bedeckt. Und nicht irgendwelche Worte:

„Lieber Rabi bitt beim lieben Gott für mein Weibi u. für mich Dora, Sigi, Pepi, Franzi / Er soll uns nicht verlassen / Poldy u. Leon 7/VIII 1938“

„Lass bald Frieden für uns Juden kommen […]“

FrommerFrieden

„Hilf mir, daß ich nach Palästina kann […]“

FrommerPalästina

„Lieber guter Rabbi, heute ist es 18 Monate das Feitil [?] im K.-Z. ist. Hilf uns doch endlich, heiliger Rabbi! 22.9.39“

FrommerKZ

Alle, alle diese Inschriften sind Fürbitten an den toten Rabbi Frommer, flehende, immer verzweifelter werdende Wünsche. Sie erzählen mitten auf dem Friedhof so direkt und eindrucksvoll vom vergangenen jüdischen Leben wie kaum etwas anderes, was man im öffentlichen Raum finden kann.

Auch hier lebt die Geschichte nicht, aber sie ist unvermittelt, ungefiltert, vor einem. Die Worte eines der wenigen verbliebenen Zeitzeugen können faszinierend sein, aber er spricht sie als die Person, die er heute ist, nicht als die Person, die er vor 75 Jahren war. Die Worte eines zeitgenössischen Berichts können faszinierend sein, aber sie sind bloß wie beliebige andere Worte auf Papier gedruckt. Das einzig Vergleichbare wäre es, einen handschriftlichen Brief aus der Zeit in der Hand zu halten und wer hat dazu schon Gelegenheit? Hier aber kann man lesen, was Wiener Juden in eigenen Worten und in eigener Handschrift niederschrieben.

Rabbi Frommer starb laut dem Grabstein am 23. Sivan 5691, also am 8. Juni 1931, und das erste noch zu lesende Datum auf dem Stein ist 1936. Auch aus den Fünfzigern sind einige Inschriften und vereinzelte aus noch späterer Zeit. Wie man daran sieht, ist das Beten am Grab von herausragenden Rabbis, den Zaddiks, eine übliche Praxis der ostjüdischen Chassidim. Unkontrovers allerdings ist es nicht und mußte auch erst einmal mit allerlei theologischen Spitzfindigkeiten vom Anbeten der Toten unterschieden werden, denn das wäre streng verboten. Joseph Roth beschrieb 1927 in „Juden auf Wanderschaft“ den chassidischen Kult um einzelne Rabbis so:

„Sehr deutlich ist die Trennung zwischen sogenannten aufgeklärten Juden und den Kabbalagläubigen, den Anhängern der einzelnen Wunderrabbis, von denen jeder seine bestimmte Chassidimgruppe hatte. Die aufgeklärten Juden sind nicht etwa ungläubige Juden. Sie verwerfen nur jeden Mystizismus und ihr fester Glaube an die Wunder, die in der Bibel erzählt werden, kann nicht erschüttert werden durch die Ungläubigkeit, mit der sie den Wundern der gegenwärtigen Rabbis gegenüberstehn. Für die Chassidim ist der Wunderrabbi der Mittler zwischen Mensch und Gott. Die „aufgeklärten“ Juden bedürfen keines Mittlers. Ja, sie betrachten es als Sünde, an eine irdische Macht zu glauben, die imstande wäre, Gottes Ratschlüssen vorzugreifen, und sie sind selbst ihre eigenen Fürsprecher. Dennoch können sich viele Juden, auch, wenn sie keine Chassidim sind, der wunderbaren Atmosphäre, die um einen Rabbi weht, nicht entziehen und ungläubige Juden und selbst christliche Bauern begeben sich in schwierigen Lagen zum Rabbi, um Trost und Hilfe zu finden.“

Wie das Grab des Rabbis Frommer zeigt, nahm die übliche Praxis in der Zeit der größten Bedrängnis der Juden stark zu. Nach dem Anschluß Österreichs an Deutschland, nach der Einführung judenfeindlicher Gesetze und den ersten Pogromen, stieg verständlicherweise das Bedürfnis, den Rabbi um Hilfe zu bitten. Die allermeisten Inschriften sind aus den Jahren 1938 und 1939. Außer den deutschen Inschriften sind auch jiddische in hebräischen Buchstaben und ukrainische in kyrillischen Buchstaben zu lesen, eine von diesen gar vom „9/VI 43“.

Es waren offenkundig einfache Leute, die hier in einfachen, manchmal ungelenken Worten ihre Bitten aufschrieben und dadurch tiefe Einblicke in ihre Lebenssituation und ihre Welt gaben, genau die Leute, die in den Geschichtsbüchern kaum vorkommen. Sie schrieben es nicht, damit es gelesen werde, sie schrieben es für ihren „heiligen Rabbi“. Für sie war Frommers Grab ein Wallfahrtsort, den zu besuchen ihnen wohl leider so wenig brachte wie allgemein der Besuch von Wallfahrtsorten. Heute ist es ein Denkmal, zufällig, ungeplant, bloß weil diese Worte dort die Zeit überdauert haben. Es ist damit einer der faszinierendsten jüdischen Orte in Wien.

Informationen finden sich darüber wenigstens im Internet keine. Ein unkommentiertes Bild bei Flickr, eine Erwähnung in einem jiddischsprachigen Forum, der Hinweis, daß Samuel Arons Sohn Simon im Jahre 1907 in der türkisch-israelitischen Gemeinde Wiens heiratete, das ist alles. Wer Frommer war, woher er stammte, das läßt sich nicht mehr herausfinden. Dem steht die Verehrung gegenüber, die er laut der Inschriften bei seinen Anhängern genoß.

Man kann also nur spekulieren: Er war Oberhaupt einer chassidischen Dynastie, einer derjenigen, die Roth Wunderrabbis nennt. Er stammte aus dem Osten, aus Galizien, der Ukraine oder Litauen, war aber seit vor 1907 in Wien, vermutlich in der jüdisch geprägten Leopoldstadt. Während manche chassidische Dynastien die Vernichtung durch die Deutschen überstanden und in den USA oder Israel weiterbestehen, am bekanntesten wohl die Chabad, bleibt von der des Rabbis Samuel Aron Frommer offenbar nur dieses Grab. So erzählt es indirekt auch von der Vernichtung. Doch was das heißt, Vernichtung, wird man niemals lebendig nachempfinden können.

Goldenberg und die Anarchie

Im 15. Bezirk sitzt das Hauptquartier der Wiener Anarchisten, eine zweimal in der Woche kurz geöffnete Buchhandlung, also beachtet man es kaum, wenn man an einer Wand in der Kranzgasse den dümmlich-coolen Spruch „Bildet Banden!“ mit A als Anarchistenlogo sieht.

AnarchistenGoldenberg

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Doch dahinter, in weniger geübten Buchstaben und hellerer Farbe, steht noch etwas weit Interessanteres: Goldenberg.

Goldenberg, das war – ist! möchte man hoffen – eine Jugendgang, die Mitte 2015 durch die kostenlosen Boulevardzeitungen der Stadt geisterte, als einige ihrer Anführer zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Schon der Name faszinierte – sollte es sich tatsächlich um eine jüdische Gang handeln? Dann die Tatsache, daß die Mitglieder sich allesamt den Nachnamen Goldenberg zulegten, der Gründer etwa nannte sich Max Goldenberg. Schließlich das Bild von der Verhandlung, auf dem neben einigen vage südländischen Typen auch ein Schwarzer zu sehen war. Das nun war wirklich außergewöhnlich, da die meisten Gangs eben entlang ethnischer Linien organisiert sind. Zur Erklärung braucht man übrigens nicht einmal von Kulturen und ähnlich Kompliziertem zu reden, es genügt schon, sich der praktischen Vorteile einer gemeinsamen, für Außenstehende unverständlichen Umgangssprache bewußt zu sein. Goldenberg war anders. Offenkundig hatte Max Goldenberg da etwas Herausragendes geschaffen.

In den Boulevardzeitungen gab es zu diesen faszinierenden Umständen erwartungsgemäß nichts, sie erschöpften sich in der moralistischen Verurteilung des Verbrechens, die sie nur, wenn es um mittelalte weiße Bordellbesitzer geht, manchmal ablegen. In einem späteren ausführlicheren Artikel in einer obskuren Zeitschrift (im Internet nur noch eine Ankündigung verfügbar) erfuhr man dann wenigstens, daß die Bande ihr Entstehen dem Charisma Max Goldenbergs verdankte und sich einer aus Kampfsportfilmen zusammengeklaubten individualistischen Selbstoptimierungsideologie verpflichtet fühlte, dem alten „Wenn man nur an sich glaubt, kann man alles erreichen“. Im Kern stammte die Bande aus Favoriten, dem migrantischen 10. Bezirk, aber sie hatte Anhänger in der gesamten Stadt. Im Kern war sie, wie Max selbst, tschetschenisch, aber sie hatte Anhänger verschiedenster Nationalitäten. Religion spielte offenbar keine besondere Rolle.

"Wir sind wenige, aber wir sind überall" - tschetschenische Aufschrift im Wertheimsteinpark. Man beachte die unsicheren kyrillischen Buchstaben und die in ihrer Mischung aus kyrillischen und lateinischen Zeichen kaum mehr verständliche tschetschenische Bezeichnung für Tschetschenien.

„Wir sind wenige, aber wir sind überall“ – russischsprachige tschetschenische Aufschrift im Wertheimsteinpark. Man beachte die unsicheren kyrillischen Buchstaben und das erste Wort, die in ihrer Mischung aus kyrillischen und lateinischen Zeichen kaum mehr verständliche tschetschenische Bezeichnung für Tschetschenien.

Doch auch der ausführlichere Artikel kam über auf andere Art moralistisches Verständnis für das Verbrechen nicht hinaus und konnte so nicht zum Kern des Phänomens Goldenberg vordringen: der äußersten Seltenheit multiethnischer und noch dazu überkonfessioneller Gangs. Dazu bedürfte es einer amoralischen Bewunderung für das Verbrechen.

So betrachtet, stellt das Entstehen einer Bande wie Goldenberg sogar einen Erfolg der Integrationspolitik der Wiener Stadtregierung da. Statt sich untereinander zu bekriegen, tun sich die Migranten zusammen, um gemeinsam Supermärkte, noch dazu im reichen 1. Bezirk, zu überfallen.

Auch der faszinierende Name paßt dazu. Man liest zu ihm verschiedene Erklärungen: er soll entweder von einem Berg im Kaukasus, vom amerikanischen Unternehmer Mark Zuckerberg oder vom amerikanischen Wrestler Goldberg stammen. Aber wie niemand es für nötig hielt, zu recherchieren, ob es so einen Berg gibt (eher nicht), wurde auch nirgends thematisiert, inwieweit es für die Gang wichtig war, daß gleich zwei ihrer möglichen Namenspaten Juden sind. Sicherlich aber ist das Ablegen der alten, fremdartig klingenden Namen zugunsten eines deutsch-jüdischen ein Akt der Integration, ja, Assimilation. Man könnte da an die afro-amerikanische Schauspielerin Whoopi Goldberg denken, die ihren Nachnamen wählte, weil ihre Mutter ihr sagte, daß ein jüdischerer Name helfe, in Hollywood Erfolg zu haben. Aber das sind Fragen, die nur echter Journalismus beantworten könnte und so bleiben sie denn unbeantwortet.

Anti-Goldenberg-Aufschrift in Favoriten

Anti-Goldenberg-Aufschrift in Favoriten

Die Anarchisten nun können von einer an Goldenberg heranreichenden Organisationskraft im migrantischen Proletariat nur träumen – und genauso auch die anderen linken Grüppchen, von den weniger idiotischen bis zur offen islamistischen Linkswende. Das Nebeneinander der beiden Schriftzüge – dem Namen der wirklichen Bande und der hippen Forderung, Banden zu bilden, der nie nachgekommen wird, von der ihr Schreiber nicht einmal zu erklären wüßte, was er denn verfickt noch mal damit meint – dieses Nebeneinander offenbart ein weiteres Mal die Lächerlichkeit des Anarchismus.

Sollte es in unseren Breiten einmal dazu kommen, daß der Staat zerfällt, daß es Anarchie gibt, daß die Menschen Banden bilden müssen, um zu überleben, daß es also wird wie in, sagen wir, Libyen, dann werden die Anarchisten gewiß nicht darauf vorbereitet sein, Goldenberg aber vielleicht eher. Fraglich ist bloß, ob dann noch für den sympathisch multiethnischen Charakter der Gang Platz wäre oder ob er sich, genauso eigentlich wie der hiesige Anarchismus, als Nebeneffekt der gemütlichen Wiener Sozialstaatlichkeit herausstellen würde.

U-Bahnhof Donaustadtbrücke

Der ungeneigte Leser dieses Blogs könnte mir vorwerfen, daß ich immer alles aus den Sechzigern, Siebzigern möge, während ich alles von heute schlechtmache, daß ich mithin bloß auf andere Art von der „Patina des Alters“ (Georg Piltz) geblendet sei. Mindestens in der Hinsicht, daß ich mir ein Gebäude aus diesen Jahrzehnten eher und wohlwollender ansehe, ist das auch wahr. Meine Entschuldigung könnte sein, daß solche Gebäude sonst zu wenig Betrachtung finden, daß ich hinsehe, wo andere wegsehen. Doch damit der Leser geneigter werde, sei hier einmal ein Gebäude aus jüngerer Zeit in positivsten Tönen beschrieben.

Erbaut wurde der Wiener U-Bahnhof Donaustadtbrücke im Jahre 2010. Architektonisch ist er so tadellos wie unscheinbar, viel roher Beton, viel grauer Stein in den beiden Eingangsbereichen, große Glasfläche um die Bahnsteige, allerdings mit horizontalen Streifen, wohl mehr den Vögeln zuliebe denn zum Sonnenschutz. Diese Ästhetik teilt er sich mit den anderen Stationen der östlichen Erweiterung der lila Linie U2. Wirklich erwähnenswert jedoch wird er durch seine städtebauliche Anordnung und seine Umgebung.

u-bahnhofdonaustadtbrueckeautobahn

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Der Bahnhof befindet sich genau am Ende der namensgebenden Brücke, die Bahnsteige spannen sich über die tieferliegende Donauuferautobahn. Durch den einen Ausgang gelangt man direkt zur Neuen Donau, wo bald ein Steg zur Donauinsel führt. Er dient also ausschließlich dem, vor allem sommerlichen, Freizeitbetrieb, was aber auch schon der sichtbarste Nutzen ist.

Beim anderen Ausgang mußte der Nutzen erst geschaffen werden, da es keine ältere Bebauung oder sonst irgendetwas gibt. So führt eine unter deb aufgestützten Gleisen hängende Brücke in ein großes Park&Ride-Parkhaus. Und an der Seite ist auf leicht ansteigender Fläche ein tropfenförmiger Wendekreis mit mehreren Bushaltestellen angeordnet, von wo Busse ins Suburbia der Donaustadt oder auch zum Ölhafen abfahren. Erst durch das Parkhaus und vor allem die Bushaltestellen bekommt die U-Bahnstation für das Wiener Verkehrsnetz einen ganzjährigen Nutzen.

u-bahnhofdonaustadtbrueckebushaltestellen

Die Gestaltung des Wendekreises ist auch naheliegend und funktional, aber zugleich sieht man hier sehr schön, was die heutige Architektur von der der Sechziger und Siebziger lernen könnte. In dieser Zeit wäre an diesem Ort vielleicht eine Busstation entstanden. Nun müßte man so weit gar nicht gehen, es müßte dort kein zweites Schottentor sein, ja, es müßten nicht einmal Vordächer, die die Haltestellen mit der U-Bahnstation verbinden, errichtet werden. Aber was spräche dagegen, auf der leeren vertikalen Wandfläche neben dem Beginn der Bahnsteige eine große Uhr anzubringen? Oder auf der horizontalen Fläche unter dem Bahnsteig einen digitalen Abfahrtsanzeiger? Das sind Kleinigkeiten, die nützlich wären und dem Ort einen wiedererkennbaren Charakter geben würden.

Stattdessen ragt oben aus der vertikalen Fläche eine Leuchtröhre, ein Kunstwerk, von dem positiv höchstens zu sagen ist, daß es unmöglich als solches zu erkennen ist. Irgendwie bezieht es sich auch auf ein entsprechendes an der U-Bahnstation Donaumarina am anderen Ende der Brücke und macht sich so noch lächerlicher. An den flußseitigen Bahnsteigenden nämlich steht man wie auf Balkonen und blickt die Länge der Brücke entlang am übertrieben hohen Pfeiler mit den Stahlseilen vorbei zur Schwesterstation. Der Bezug zwischen den Stationen auf den beiden Seiten der Donau ist durch eine kleine Raffinesse der Architektur also bereits gegeben.

Der U-Bahnhof Donaustadtbrücke zeigt deutlich, daß es in der Architektur seit spätestens 1980 keinen Fortschritt mehr gibt, sondern nur noch eine Abfolge verschiedener Moden. Die gegenwärtige Architektur mag, wie in diesem Falle, nicht schlecht sein, aber sie schafft es nicht, in größeren zusammenhängenden Räumen zu denken. Die Bushaltestellen, die mit dem U-Bahnhof eine Einheit bilden müßten, werden nur als dessen Anhängsel begriffen. Und statt nützlicher und nicht einmal teurer Kleinigkeiten wie Uhren oder Anzeigetafeln gibt es nichtige und vermutlich nicht billige Kunst. Ist es da ein Wunder, daß ich mich lieber mit der Architektur der Sechziger, Siebziger beschäftige? Für eine zukünftige Architektur ist aus ihr jedenfalls mehr zu lernen.

Nepomuk in Stadlau

Österreich ist noch immer ein katholisches Land und pflegt deshalb auch einiges katholisches Brauchtum. So gibt es in manchen Stationen der Wiener U-Bahn Figuren der heiligen Barbara, der Schutzpatronin des Tunnelbaus. Sie sind immer klein und mehr oder weniger kitschig und stehen immer mehr oder weniger versteckt in verglasten Nischen, hier etwa am U3-Bahnsteig am Westbahnhof.

barbarau3westbahnhof

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Jedes Wort über derlei harmlose Folklore ist eines zu viel.

Anders ist es mit einer Darstellung des Johannes von Nepomuk am U- und S-Bahnhof Stadlau. Er gilt, da er von der Prager Karlsbrücke geworfen zum Märtyrer wurde, auch als Brückenheiliger und paßt damit gut an die U2, die nach der Innenstadt fast ausschließlich auf einer aufgestützten Trasse verläuft.

brueckejohannesvonnepomukstadlau

Auf dem bloßen Beton der großen dreieckigen Stützen beim Bahnhofseingang der rote Metallumriß einer menschlichen Gestalt und das Wort „Nepomuk“ aus grünen Metallbuchstaben – das ist der Stadlauer Johannes von Nepomuk. Und das genügt.

johannesvonnepomukstadlau

In dem Umriß sieht man das Birett auf seinem Kopf, die Palmzweige links, das Kruzifix rechts, das lange Gewand und irgendwie sogar die barock verrenkte Haltung, in der er steht. Wer einmal eine barocke Nepomukskulptur gesehen hat – und es ist schwer, das in Österreich nicht getan zu haben – füllt sich den Umriß auf dem Beton mit dieser. Das Bild des allgegenwärtigen Heiligen ist so stark, daß es nurmehr angedeutet werden muß.

Diese Gestaltung ist auch die einzig angemessene für eine zeitgenössische Heiligendarstellung, denn eine solche ist immer nur eine leere Hülle, der der Kern fehlt: der Glaube. Österreich mag katholisch sein, aber gläubig ist es nicht. Den Glauben an die wundertätige und brückenbeschützende Kraft von Heiligenstatuen, diesen volkstümlichen und von einer starken Kirche durchgesetzten Glauben, der ganz Österreich und halb Europa mit unzähligen Johannes von Nepomuks bedeckte, diesen aus Armut und Verzweiflung erwachsenden Glauben, den gibt es hier nicht mehr. Wie John Dolan in „Dead Catholics“, seinem schönen Text über amerikanischen Katholizismus und Punk, schrieb:

„Anyone born in the developed world after 1945 who actually believes in some supernatural spook is mentally ill. You didn’t have to believe in God to believe in the Church. Unlike God, the Church actually existed“ (Jeder, der nach 1945 in einem Industrieland geboren wurde und wirklich an irgendein übernatürliches Zeug glaubt, ist geisteskrank. Man mußte nicht an Gott glauben, um an die Kirche zu glauben. Anders als Gott existierte die Kirche nämlich wirklich.)

Das Fortbestehen der Kirche kann ein Problem sein, wenn es auch in einem Land wie Österreich gegenwärtig kein sehr großes ist. Ihre Bräuche und ihre Kunst aber sind durch den Wegfall des Glaubens zu Folklore geworden. Und wenn die sich so subtil und beziehungsreich ausdrückt wie im Werk des Bildhauers Werner Feiersinger in Stadlau, ist das auch halb so schlimm.

Schönbrunn

Alles an Schönbrunn ist zu groß. Das Schloß selbst ist zu groß, der Ehrenhof ist zu groß, der Park und all seine Wege sind zu groß, das Große Parterre zwischen Schloß und Neptunsbrunnen ist zu groß, die streng geometrischen Beete darauf sind zu groß, der Neptunsbrunnen ist zu groß, der Hang, der dahinter ansteigt, ist zu groß und steil, die Gloriette, die diesen Hang abschließt, ist zu groß. Alles an Schönbrunn ist zu groß. Man spürt das bei jedem Schritt, den man um die Gebäude und durch den Park tut.

Um zu erfahren, wieso alles hier zu groß ist, muß man auf die, selbstverständlich zu große, Treppenanlage vor der Parkseite des Schlosses treten und genau aus ihrer Mitte über den Park schauen.

PanoramaSchönbrunn

(Bild zum Vergrößern anklicken)

Man ist hier tatsächlich in der Mitte von allem. Alles, was man um sich sieht, ist dazu bestimmt, von genau hier gesehen zu werden. Vor einem der breite Korridor, der mit den riesigen Beeten und steinigen Wegen des Großen Parterres beginnt, hinter dem Neptunsbrunnen als Wiese ansteigt und oben mit der Gloriette endet. Schräg zwei weitere breite Parkachsen. Am Ende der linken von ihnen steht ein Brunnen mit riesigem Obelisk, am Ende der rechten, kaum zu erkennen, der zierliche Rundbau in der Mitte des Tiergartens. Direkt nach links und rechts führen gerade Achsen ins Vage und Ferne der umliegenden Stadt.

Die Menschen auf all diesen weiten und zu großen Wegen wirken wie Ameisen, ob es nun wimmelnd viele oder verlorene einzelne sind. So will ein Kaiser und König die Welt sehen, ganz klar. Er im Mittelpunkt und alle anderen wie Ameisen. Was man in Schönbrunn sieht, ist denn zweifelsohne eine Ordnung; bloß ist es keine menschliche Ordnung. Nichts hier hat menschliches Maß, nichts hier will dem Menschen etwas Gutes. Schönbrunn ist der architektonische Ausdruck der Monarchie, nichts anderes.

Selbstverständlich kann es reizvoll sein, sich in dieser fremden, unmenschlichen Ordnung zu verlieren, selbstverständlich kann man eine masochistische Freude daran empfinden, als Ameise durch diese Welt zu wandeln, vielleicht gerade abends, wenn das Gewimmel geringer und die Schatten länger werden. Etwas annähernd Menschliches, etwas, das zu einem zu sprechen sucht, findet man schließlich auch noch: es sind die Statuen um das Große, viel zu große Parterre. Zwar stehen sie auf hohen Sockeln, aber man kann immer Abstände finden, von denen man ihnen gleichsam von Angesicht zu Angesicht gegenüber steht. Und sie wollen auch gesehen werden, sie sind das Einzige in Schönbrunn, was etwas anderes will als den Menschen zur Ameise zu machen. Entsprechend skeptisch schauen sie auch, wenn sie sie denn beachten, zum Klotz des Schlosses oder zur Gloriette. Von dort schauen zu ihnen und den anderen Ameisen drohende Adler hinab, ein normaler von der Gloriette und ein zweiköpfiger vom Schloß, so daß man wohl sagen kann, Schönbrunn liege im Banne eines Dreifachadlers.

Monarchistische, absolutistische Architektur also ist Schönbrunn, nicht aber deshalb auch typische Barockarchitektur. Wie völlig anders schon barocke Schloßarchitektur sein kann, zeigt in Wien das Belvedere. Oberflächlich betrachtet haben Schönbrunn und Belvedere gar manches gemein. Beide haben einen unteren und einen oberen Teil, zwischen denen der Hang ansteigt. Doch wo Schönbrunn jedes menschliche Maß fehlt, ist das Belvedere bestimmt davon. Wo sich Schönbrunn nur aus einer einzigen Perspektive erfassen läßt, ist das Belvedere von den verschiedensten Punkten immer als Ganzes zu überblicken. Wo Schönbrunn einen streng hierarchischen Raum bildet, ist das Belvedere ein Fließen.

Eine besondere Ironie ist es, daß die Gloriette in Schönbrunn mit ihren römisch stilisierten Haufen Kriegsbeute auf der Brüstung einzig der, nun, Glorifizierung der militärischen Macht Österreichs dient, während das Belvedere, errichtet vom größten Militärführer, den Österreich je hatte, Prinz Eugen von Savoyen, kaum martialische Motive hat. Gewiß war die Menschlichkeit des Belvedere eine Lüge, es war eben ein künstliches Paradies für einen, der der Kriege genug gesehen hatte, um sich auch noch zu Hause zu sehr mit ihnen umgegeben zu wollen. Aber sogar erlogene Menschlichkeit kann als Beispiel für das, was sein sollte, gelten, während Unmenschlichkeit immer Unmenschlichkeit bleibt.

In Schönbrunn empfiehlt es sich daher, abseits der großen Wege zu gehen, wenn schon Ameise, dann wenigstens nicht sofort im Blick dieser feindlichen Ordnung. Oder man setze oder lege sich, wie es ohnehin alle Touristen und Einheimischen klug genug sind zu tun, auf die Wiesen vor der Gloriette und schaue über diese schlechte Ordnung ins wenig bessere Chaos der umliegenden Großstadt hinaus. Oder man gehe in den Zoo, aber das ist ein anderes Thema.

Johannes von Nepomuk mit Blumen

An der Ecke Heiligenstädter Straße/Sickenberggasse im 19. Bezirk wird die hübsche, gleichsam ländliche Tradition gepflegt, dem dort stehenden Johannes von Nepomuk jeweils saisontypische Blumen oder Pflanzen in den Arm zu legen. Meist sind es künstliche, teilweise aber sogar echte Pflanzen.

JohannesVonNepomukLila

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Die Skulptur scheint für diesen Schmuck wie gemacht, da ihr rechter Arm eine Lücke hat, die Forsythien oder anderes gut hält. Statt die Hand in etwas gespreizter Geste, die an Überraschung denken läßt, auf die Brust zu stützen, scheint dieser Johannes von Nepomuk sich nun leicht vorzubeugen und im Begriff zu sein, sowohl die Blumen in seinem rechten Arm als auch die Palmwedel und das Kruzifix in seinem linken Arm jemandem geben, schenken zu wollen.

JohannesVonNepomukForsythien

Bloß bleibt unklar, an wen er sich richten könnte. Zwar ist es, als seien die Gebäude der Umgebung um die Skulptur von 1709 oder 1710 herumgebaut. Sogar das Haus, vor dem sie steht, hat für sie eine ausgesparte Ecke.

JohannesVonNepomukHeiligenstädterStraße

Doch leider bringt das wenig, da sie genau schräg zur sehr nahen Straßenecke ausgerichtet ist. Man müßte auf der vielbefahrenen Heiligstädter Straße stehen, um sie von vorne zu sehen. So bleibt von diesem blumengeschmückten Heiligen bloß ein vager Eindruck von Freundlichkeit.

Gemeindebau am Mildeplatz

Wenn man an Wiener Gemeindebau denkt, fallen einem wohl zuerst die großen und berühmten Anlagen der Zwanziger ein, vor allem der Karl-Marx-Hof, während einem mindestens im selben Moment die schlichte Großzügigkeit der besten Lösungen aus den Sechzigern, etwa die Johann Böhm-Wohnhausanlage, und die großen unübertroffenen Meisterwerke der Siebziger einfallen sollten, vor allem der Heinz Nittel-Hof. Doch typischer für das Stadtbild Wiens sind die unzähligen kleinen Gemeindebauten, die in den Fünfzigern und Sechzigern entstanden.

GemeindebauMildeplatzGesamt

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Ein hübsches Beispiel steht an der Ecke Seitenberggasse/Mildeplatz im 16. Bezirk. In der Seitenberggasse schließt das Gebäude an ein niedrigeres vorstädtisches Mietshaus aus dem späten 19. Jahrhundert an.

GemeindebauMildeplatzSeitenberggasse

Fünf Geschosse, ein leicht überstehendes Dach, das gerne flach wäre, ockerfarbener Putz, regelmäßige größere und kleinere Fenster, bei den Badezimmern nur horizontale Schlitze. Das alles wäre fast unsichtbar schlicht, wenn nicht die Ecke zum Mildeplatz geschickt betont wäre. Direkt nach den letzten Fenstern wird der Putz weiß und der entstehende horizontale Streifen dient dem Wiener Wappen und der Aufschrift, die aus rotem Metall aufgesetzt sind, als Hintergrund. Mit ihnen präsentiert sich das Gebäude stolz als Gemeindebau: „Wohnhaus der Gemeinde Wien errichtet in den Jahren 1958 – 1959“.

GemeindebauMildeplatzAufschrift

Zum Mildeplatz hin sind die Obergeschosse der Ecke erst ganz leicht vorgesetzt und haben dann Balkone mit gewellten Geländern. Nach diesen folgt wieder der ockerfarbene Putz.

GemeindebauMildeplatz

Ganz rechts, wo das Gebäude an ein größeres Mietshaus anschließt, ist der Durchgang in den Hof. Daß er einen dünnen Rahmen aus hellem Stein hat, sieht man vielleicht nicht, aber das Mosaik um ihn sicher.

GemeindebauMildeplatzKunst

Es besteht aus unregelmäßig angeordneten bunten Flächen, die auf seinem großen fast quadratischen Teil links des Durchgangs groß und fast quadratisch sind, und auf seinem schmalen vertikalen Teil rechts schmal und vertikal. Gleichsam fortgesetzt ist diese künstlerische Gestaltung durch die linke Innenwand des Durchgangs, wo unregelmäßig verteilt kleine horizontale und vertikale Fensterschlitze sind. Hinten ihnen ist der Coloniaraum, wie der Müllraum sehr österreichisch und sehr fünfziger Jahre heißt.

GemeindebauMildeplatzColoniaraum

All das ist völlig typisch, obwohl die architektonischen und künstlerischen Lösungen variieren. Zu jedem Gemeindebau gehören neben der roten Aufschrift unbedingt auch Fahnenstangen, damit am 1. Mai, am Nationalfeiertag am 26. Oktober und vielleicht noch am 12. Februar, dem Jahrestag des Bürgerkriegs 1934, österreichische und Wiener Flaggen gehisst werden können, eine Steintafel mit den Namen des Bürgermeisters, einiger Stadträte und schließlich des Architekten

GemeindebauMildeplatzSchild

und eine rote SPÖ-Infotafel.

GemeindebauMildeplatzInfotafel

Um das Problem all dieser kleinen über die Stadt verstreuten Gemeindebauten zu erkennen, muß man bloß in den Hof gehen. Er ist nur ganz klein, etwas Gras, eine Birke, ein paar Hecken, ein paar Blumen. Dicht daneben die Mauern zur Hinterhoflandschaft der alten Gebäude ringsum.

GemeindebauMildeplatzHof

An der überkommenen Stadtstruktur ändern solche Gemeindebauten also rein gar nichts. Sie sind eben Blockrandbebauung und auch ihre Höfe sind oft klein. Sie wollen nichts Neues schaffen, sie können es auch nicht. Sie sind Ausdruck der Unmöglichkeit von Städtebau im Kapitalismus. Und so groß die Macht der Sozialdemokratie in Wien war und teils noch ist, am Privateigentum an Grund und Boden konnte sie nicht rühren. Die Allgegenwart von Gemeindebauten wohin man auch geht ist daher kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. Sie sind Symbole einer sozialdemokratischen Macht, die nicht besteht.