Das Denkmal für den argentinischen Nationalhelden José de San Martín auf dem gleichnamigen Platz im Süden von Tucumán wurde 1942 errichtet, könnte aber ebensogut fünfzig, hundert Jahre älter sein: es besteht aus der realistischen Bronzeplastik des Generals mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf einem sich aufbäumenden Pferd und einem hohen weißen Steinsockel, der nach oben geschwungen leicht schmaler wird, bevor die von einem Blumenrelief umgebene Fläche sich wieder leicht verbreitert.
San Martín ist dem Betrachter so fern und fremd wie es Reiterstandbilder historischer Figuren eben sind, was einen auffälligen Kontrast zum im selben Jahr errichteten, aber völlig andersartigen Yrigoyen-Denkmal darstellt. Interessant ist bestenfalls, daß die Ausrichtung des Denkmals nach Westen eines Bezug auf San Martins Überquerung der Anden zur Befreiung Chiles sein könnte. Aber unendlich bedeutender als das Denkmal selbst sind die unzähligen Metallplaketten verschiedenster Gruppen und Organisationen, die in auch in anderen südamerikanischen Staaten zu findender Manier den Sockel bedecken und ein Panorama der Tucumáner und argentinischen Gesellschaft um 1950 bilden. Sie sind der einzige Grund, näher an das Denkmal zu treten und demokratisieren seine sterile Monumentalität
So viele Plaketten sind auch auf der vorderen Sockelseite, daß die älteste über die Errichtung des Denkmals durch zwei örtliche Militäreinheiten kaum hervorgehoben ist. Wenn sie schreiben, daß sie „no actuaron bajo su Comando pero esculpen en piedra el compromiso de ser dignos de su obra“ (nicht unter seinem Kommando handelten, aber die Verpflichtung, seinem Werk würdig zu sein, in den Stein schlagen), läßt sich das vielleicht auch schon im Hinblick auf den ein Jahr später folgenden Militärputsch verstehen.
Die meisten sind dann aus dem Jahre 1950, dem hundertsten Jubiläum von San Martíns Tod. Gewerkschaften, Industrieverbände, Lehrervereinigungen, Religionsgemeinschaften, Sportvereine, ganz Tucumán bis hin zur Organisation der Apothekenbesitzer und den Angestellten des Stadtparks gedachte seiner und verewigte sich auf Plaketten in verschiedenen Größen, mit verschiedenen Ornamenten und verschiedenen Inschriften, die doch zwangsläufig Variationen des Immergleichen sind.
Zur Denkmalplastik hoch oben kommen siebzehn weitere Porträtreliefs: San Martín vor den Anden, San Martin zu Pferd in den Anden, San Martín und ein Kondor in den Anden, San Martin und sein Heer in den Anden, San Martín, sein Heer und allegorische antikisierende Figuren in den Anden, San Martíns Gesicht mit Koteletten und Uniformkragen in vielen Perspektiven, San Martins Gesicht neben einem muskulösen Landarbeiter über einem Feld, San Martín, San Martín, San Martín, so viel San Martin, daß es auch nicht überraschen würde, ihn neben der Lokomotive der Tucumáner Eisenbahner zu sehen.
Fast alle Porträts zeigen den jüngeren uniformierten San Martín basierend auf einem Gemälde aus den späten 1820er Jahren, nur die Gewerkschaft des Arbeiters der Nationaluniversität Tucumán entschied sich für den alten schnauzbärtigen San Martín basierend auf einer Daguerreotypie von 1848.
Ebenso interessant wie die mit Plaketten vertretenen Gruppen sind die, die fehlen. So ist es nur angemessen, die Vereinigung der spanischen Einwanderer, die „Sociedad Española de S.M. y B.“ (Spanische Gesellschaft für gegenseitige Hilfe und Wohlfahrt), zu finden, da San Martín, geboren 1778 als Sohn eines spanischen Beamten in der ehemaligen Jesuitenreduktion Yapeyú am Ufer des Uruguay, von seinem sechsten bis vierunddreißigsten Lebensjahr in Spanien, vor allem in Málaga, lebte. Die entsprechende kleinere französische Organisation jedoch fehlt, obwohl San Martín, nachdem er Südamerika Anfang 1824 nach zwölf sehr erfolgreichen Jahren wieder verlassen hatte, vor allem in Frankreich lebte und in Boulogne-sur-Mer starb. Ebenso fehlt die wichtigere italienische Organisation, während die ebenfalls wichtigere syrisch-libanesische vertreten ist.
Übereinander sind an der rechten Seite Plaketten des katholischen Klerus der Stadt (allerdings von 1978), einer Asociación Pan-Islamismo (Vereinigung Pan-Islamismus), obwohl San Martín als spanischer Offizier in Nordafrika gegen die dortigen muslimischen Piratenstaaten kämpfte, und der „residentes hindues“ (hinduistischen Einwohner), aber es gibt keine einer jüdischen Gemeinde.
Daß keine Freimaurerloge San Martín, der Freimaurer war und dessen kontinentaler Plan zur Befreiung Südamerikas in der Buenos Aireser Logia Lautaro (Lautaro-Loge), vielleicht basierend auf früheren britischen Ideen, ausgearbeitet wurde, ehren konnte, zeigt, daß die katholische Feindschaft gegen diese Organisationen 1950 kaum kleiner war als 1815. Auffällig, aber vielleicht nicht erstaunlich ist das Fehlen jedweder politischer Parteien, da etwa die 1950 herrschende Justizialistische Partei Peróns danach viele Jahre verboten war.
Von den späteren Plaketten ist die eigentümlichste eine von den peruanischen Studenten und Bewohnern in Tucumán, da sie an ausgerechnet den 133. Jahrestag der Befreiung Perus durch San Martín erinnert.
Zu San Martíns 200. Geburtstag 1978 gibt es nur wenige Plaketten, was mit der zu diesem Zeitpunkt herrschenden Militärdiktatur zu tun haben könnte. Zwei peruanische Schilder aus Papier hinter Plastik von 2021, die auch auf die Covid-Pandemie Bezug nehmen, werden schon bald so heruntergekommen sein, daß ihre Anwesenheit am Denkmal als vorübergehend zu ignorieren ist.
Sehr nah mögen auch all die Plaketten am Denkmalsockel San Martín dem Betrachter nicht bringen, jeder biographische Abriß erzählt mehr, aber näher als das Reiterstandbild immerhin doch. Und selbst wenn das Denkmal nichts über San Martin sagen würde, als Spiegel der offiziellen Tucumáner Gesellschaft kurz nach seiner Errichtung hat es immer noch mehr Wert als viele andere Denkmäler.