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Metamorphosen und Ausstrahlungen einer Schule

Nicht immer verraten Gebäude alles, nicht immer ist die Anschauung genug, sie wirklich zu verstehen. In der Żeromskiego (Żeromski-Straße) in Trzcianka beispielsweise:

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Gleich auf den ersten Blick ein Schulgebäude aus den Zwanzigern, zur Bauzeit und lange danach eines der modernsten Gebäude der Stadt. Drei Geschosse, die großen Fenster durch Backsteinflächen zu horizontalen Bändern zusammengefaßt. Über den beiden Eingängen dünne halbrunde Vordächer, die beidseits auf massiven, aber stark abgerundeten Backsteinwänden mit horizontaler Struktur ruhen.

Das könnte alles sein. Ein nicht herausragendes, aber makelloses Beispiel dafür, wie fortschrittliche Architekturmoden in die östliche Provinz unweit der damaligen Grenze zu Polen drangen. Auch der leidige deutsche Backsteinexpressionismus ist hier schon überwunden, es gibt keine monumentalen Elemente. So weit reicht die Anschauung. Einziger kleiner Punkt der Irritation könnte das leicht überstehende backsteinerne Gesims unterhalb des Flachdachs sein. Etwas an ihm ist zu ornamental und für ein solches Gebäude betont es das Dach zu sehr.

Nicht Aufklärung, die nie nötig schien, sondern einen ganz neuen Blick verschafft auf Polnisch, Englisch und Deutsch eine neue Informationstafel an der Seite des Gebäudes.

Die Schule, erfährt man, wurde ursprünglich 1895 in zweifelsohne historistischen Formen erbaut und bekam in den zwanziger Jahren ihre heutige Gestalt. Noch später, bereits zu polnischer Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, wurde das große Walmdach durch das heutige Flachdach ersetzt. Damit wurde vollendet, was in den Zwanzigern begonnen worden war, denn die Gebäudeformen verlangen ein Flachdach. Das Gesims ist die letzte Spur des Alten.

Insgesamt also ist das Gebäude kein Neubau, sondern ein alter mit auf die Höhe der Zeit gebrachter Fassade. Es spricht für Trzcianka, dieses Bedürfnis nach wenigstens äußerlicher Modernität verspürt zu haben. Ansonsten findet man in der Stadt wenige Gebäude, die so weit gehen. Das meiste andere, was in den Zwanzigern entstand, ein Viertelkreis von Häusern am Straßenanfang beim Bahnhof etwa, ist in dem Formen weit konservativer, immer hohe Dächer, Treppengiebel. Weiter draußen gibt es viele satteldächige Einfamilienhäuser, die aus der Nazizeit sein könnten. Einzig ein Wohngebäude am Anfang der Sikorskiego (Sikorski-Straße) nach den Gleisen faßt seine Fenster auf ähnliche Art mit Backstein horizontal zusammen.

Und dann ist da noch ein kleines Häuschen in der Dąbrowskiego (Dąbrowski-Straße).

Es sieht aus wie die anderen Häuschen dort: ein einziges niedriges Geschoß parallel zur Straße, vier Fenster, Eingang in der Mitte, Satteldach, ein eigentlich dörflicher Haustyp, der kaum ins 20. Jahrhundert paßt, was man umso mehr merkt, als dahinter die fünfgeschossigen Bauten eines Wohngebiets aufragen. Aber etwas ist an ihm anderes.

Im dreieckigen Giebelfeld an der linken Schmalseite sind um ein dreieckiges Fensterchen ganz oben und zwei quadratische seitlich dunkle Rahmen gemalt, was noch nicht ungewöhnlich ist, aber zudem gibt es bloße Backsteinflächen beidseits des größeren Fensters in der Mitte – bandartige Verbreiterungen. Außerdem ist der Eingang mit seiner kleinen Treppe nicht bloß wie bei anderen Häuschen deutlich zurückgesetzt, sondern hat geschwungen zu ihm hin schmaler werdende Seitenwände.

Das sind nur kleine Details, doch die genügen, das Häuschen in eine Verbindung zum Schuldgebäude in der Parallelstraße, das von seiner Schwelle fast zu sehen ist, zu setzen. Ein Maurer habe sich das Häuschen gebaut, heißt es, und es ist gut vorstellbar, daß er am Umbau der Schule beteiligt war und als aufgeschlossener Arbeiter ein wenig von den dort kennengelernten neuen Formen für sein eigenes Heim verwandte.

Es ist eine hübsche Geschichte der Ausstrahlung von Architektur an die unwahrscheinlichsten Orte. Hier muß wieder die Anschauung genügen, eine Informationstafel hat das Häuschen nicht und wird es wohl nie haben. So wie das Schulgebäude nicht ganz war, was es zuerst schien, war auch seine Wirkung auf Trzcianka weit größer, als es zuerst scheinen mochte. Es gibt noch vieles, was auch dieses großpolnische Provinzstädtchen verraten könnte.

Trzcianka an der Eisenbahn

Trzcianka ist ein weithin unbekanntes Städtchen südlich von Piła, das man ebensowenig kennen muß. Es liegt im nördlicheren Westen von Polen, in Wielkopolska (Großpolen), das seinen Namen wohl daher hat, daß es voller großer leerer Felder ist. Es liegt auch an einer Bahnlinie, auf der heute nur noch einige Regionalzüge fahren, obwohl sie einst zur Verbindung zwischen Berlin und Königsberg (heute Kaliningrad) gehörte. Dem Bahnhofsgebäude von Trzcianka würde man das nicht ansehen, denn Fernzüge hielten hier gewiß auch damals nie. Ein anderes Bauwerk hingegen zeugt von der alten Bedeutung der Strecke: die Unterführung beim Bahnübergang in der Sikorskiego (Sikorski-Straße), der Hauptstraße des Orts.

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Beidseits der Gleise stehen leicht schräg zur Straße die Eingangsbauten über den Treppen. Dünne Wände aus Stahlgerüsten, die teils mit Backstein ausgefüllt sind, abgeflachte Tonnendächer, beim rechtsgleisigen noch eine niedrigere Fortsetzung, die unregelmäßig spitz endet und ein unregelmäßiges Dach hat.

Am auffälligsten sind die Blechelemente an der Stelle der Fenster: jeweils zwei schmale nach außen zeigende Dreiecke in dem Türkisgrün des übrigen Gebäudes um ein vertikales Achteck in Ocker.

An einer Stelle über dem Boden im niedrigeren Teil ist sogar ein Muster aus unregelmäßigen ockerfarbenen Dreiecken.

Im ersten Moment ist völlig unklar, aus welcher Zeit diese Bahnunterführung stammen könnte. Sofort ist da die romantische Vorstellung eines sehr ungewöhnlichen Expressionismus der Zwanziger, eines provinziellen Art Déco, wie es ihn sonst höchstens in der Innenarchitektur gab. Wahrscheinlich ist das leider nicht. Die Unterführung und ihre Eingangsgebäude müssen vielmehr irgendwann um 1900, zur Hochzeit der Bahnlinie, entstanden sein. Daß sie an dieser Stelle und nicht etwa beim nahen Bahnhof ist, konnte nur nützlich sein, als starker Zugverkehr den oberirdischen Übergang oft versperrte. Die Blechornamentik hingegen muß weit neuer sein, eine exzentrische Lösung aus dem sozialistischen Polen der sechziger oder siebziger Jahre, die auch gut zu dem ebenfalls türkisgrünen und ebenfalls Dreieckelemente enthaltenden Metallzaun auf der anderen Straßenseite paßt.

Damals hatte die Unterführung schon viel von ihrer Nützlichkeit eingebüßt, heute ist sie abgesperrt. Sie steht, noch immer in relativ gutem Zustand, als Erinnerung an die Geschichte, die an Trzcianka aber schon immer bloß vorbeigebraust war.