Oberursels Friedhof ist auch für sich genommen ein schöner Ort. Hohe Bäume, große Gräber reicher Familien aus dem frühen 20. Jahrhundert und eine dezent vor dem Wildwuchs bewahrte kleinere Vegetation, inklusive Rhododendron, der Friedhöfe und alle anderen Orte aufwertet.

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Doch zudem findet sich hier eines der schönsten alten Gebäude der Stadt: die Kreuzkapelle.
Mit schwarzem Walmdach, auf dem mittig ein kleines Türmchen ruht, Mauerwerk aus grauem Stein, das um die Öffnungen und an den Ecken mit rotem Sandstein akzentuiert ist, und hohen rundbögigen Fenstern an den Seiten neben dem mehr angedeuteten trapezförmigen Chor scheint sie sich erst einmal nicht von anderen hiesigen Kirchen zu unterscheiden.

Vorne aber, wo bei diesen Kirchen der Turm wäre, wird alles anders. Sowohl an der Vorderseite als auch an den Seiten daneben sind oben runde Fenster, die jeweils von vier unregelmäßigen, aber mit einer kaum erkennbaren Bordüre versehenen roten Steinen gerahmt sind, und unten breite Rundbögen, deren vertikalen Teile andeutungsweise als Säulen gestaltet sind.

Heute ist nur noch vorne tatsächlich ein Tor, doch auch die zugemauerten Bögen genügen, um erahnen zu lassen, was für einen spektakulären offenen und transparenten Eingangsbereich diese kleine und ansonsten so unauffällige Kapelle einst gehabt haben könnte.
Als sei das der architektonischen Großartigkeit noch nicht genug, ragt an der rechten Seite aus der schmalen Fläche zwischen Ecke und Bogen in geringer Höhe eine Kanzel.

Die schmale zu ihr führende Tür hat einen spitzen Vorhangbogen und ihren Boden bildet ein großer achteckiger Stein mit neuem Metallgeländer, der nach unten abgeschrägt ist. Zusätzlich ruht er auf zwei weiter und zwei kürzer aus der Wand ragenden Steinbalken mit nach oben geschwungenen Vorderseiten. Diese Steine sind nur klein, aber für die Statik der Kanzel gewiß entscheidend, während ihre nur scheinbar einfachen kassettenartigen Muster, die tiefe Reliefs bilden, sie zu abstrakten Kunstwerken eigenen Rangs machen.

Gleich der Tür und dem Boden aus rotem Sandstein gefertigt, wirken sie wie das Kleinod, für das die gesamte Kapelle errichtet wurde. Daß ihr Schöpfer um ihre Bedeutung wußte, zeigen prominent vorne plazierte Steinmetzzeichen.
Fast selbstverständlich, daß ein Bauwerk wie die Kreuzkapelle ihre Entstehung dem glücklichen Zusammenspiel zweiter Epochen, der spätesten Renaissance des Jahres 1618 und des reifen Barock genau hundert Jahre später, verdankt.
Und als sei auch die Verbindung von großartiger Architektur und einem großartigen architektonischen Detail noch nicht genug, gesellt sich zur Kapelle ein Kunstwerk. Es steht quer zu ihr und etwas abseits ihrer rechten Seite, so daß man es fast für ein besonders großes der Gräber halten könnte.

Auf einem langen knapp zwei Meter hohen Sockel aus grauem Stein stehen drei Kreuze aus rotem Stein, an denen drei Figuren hängen. Es handelt sich um eine der recht seltenen vollständigen Darstellungen der Kreuzigung von Jesus und der mit ihm hingerichteten Dismas und Kosmas, die sogenannte Schächer, gewöhnliche Kriminelle also, waren.

Anders als bei einzelnen Kruzifixen, wo eine irgendwie geartete Figur an einem irgendwie gearteten Kreuz immer als Jesus verstanden werden wird, stand der Bildhauer hier vor der Aufgabe, die Unterschiede zwischen den drei Gekreuzigten deutlich herauszuarbeiten. Das geschieht dadurch, daß das mittlere Kreuz mit Jesus deutlich größer ist als die beiden seitlichen, nur Jesus mit Nägeln am Kreuz befestigt ist, die anderen aber mit Seilen, und Jesus insgesamt ruhiger und würdevoller hängt. Konventionelle Attribute wie die Dornenkrone aus Jesus‘ nach links geneigtem Kopf oder die ausgestreckten Mittel- und Zeigefinger seiner Hände, wären da kaum mehr nötig.

Unweigerlich sind es die seltener gesehen Kreuze der Schächer, die man eher betrachtet, wie auch ihre Schaffung für den Bildhauer gewiß die interessantere Herausforderung war. Da sind dann die geballten Fäuste und das lange Haar des Dismas links

und die schlaff hängenden Hände, der vorgesackte Oberkörper und die schief gekreuzten Füße des Kosmas rechts.

Dismas scheint noch zu kämpfen, Kosmas schon aufgegeben zu haben, was der biblischen Darstellung, daß der eine Jesus um Verzeihung bittet und der andere ihn verspottet, in etwa entspricht. Beide aber wirken lebendiger als der allzu serene Jesus.
Während die Jahreszahl 1802 unten am mittleren Kreuz noch ganz in barocker Manier geschrieben ist, weist sie in eine Zeit nach dem allgemein akzeptierten Ende dieses Stils. Tatsächlich sind die Skulpturen frei von unnatürlich exaltierten Verrenkungen und stattdessen von den ausgemergelten Körpern über die Lendenschürze bis zu den Seilen realistisch. Die Bewegung und Lebendigkeit, die bei aller Übertreibung auch zum Barock gehörte, scheint jedoch in den Schächern weiterzubestehen, während sie dem Jesus völlig fehlt. Wie die Kapelle über die typischen katholischen wie protestantischen Dorfkirchen hinausgeht, geht auch die dreifache Kreuzigung von Oberursel über die typischen Kruzifixe, die in katholischen Orten an Straßen und Feldwegen stehen, hinaus, aber ganz ohne die Hilfe von Jesus.
Nach dem frühen 17., 18. und 19. Jahrhundert wollte auch das 20. einen Beitrag zum Ensemble des Oberurseler Friedhofs leisten und erreichtet also im Jahre 1906 ein Tor am stadtseitigen Eingang. Mit irgendwie schweren, biederen Jugendstilformen, die nur in den Schmiedearbeiten zu südlich-österreichischer Eleganz finden, und grauem Mauerwerk mit rotsandsteinernen Details, die die Formen der Kapelle bloß beleidigen, reicht es aber leider nicht an die Größe der vergangenen Zeiten heran.

Anderswo auf dem Friedhof wurde im Jahre 1939 eine große Trauerhalle errichtet, zu deren skandinavischtümelnden Formen mit schwarzen Holzmustern, falschem Fachwerk und schrägen steinernen Strebepfeilern lobend bloß gesagt werden könnte, daß sie dank der Bäume in keiner Sichtbeziehung zur Kapelle stehen.

Ein schöner Ort bleibt Oberursels Friedhof dennoch.