Wrocław ist vor allem eins: eine polnische Stadt. Die alte Stadt Breslau hatten die Deutschen gegen Ende des Kriegs durch deren verbrecherische und sinnlose Verteidigung gegen die sowjetische Armee selbst zerstört und ihre Bewohner vertrieben. Wie Paul Peikert, der damalige Pfarrer der St. Mauritiuskirche, in seinem Tagebuch schrieb: „Um der Verwüstung Einhalt zu tun, wäre es zu wünschen, und das ist auch das dringende Verlangen der ganzen Bevölkerung mit Ausnahme einiger weniger Parteigrößen, daß die Russen Breslau eroberten. Denn je länger die Belagerung, desto größer das Zerstörungswerk der eigenen Truppen.“ Als die sowjetische Armee Breslau endlich erobert hatte, war von der Stadt nicht mehr viel übrig. Nach dem Krieg wurde Wrocław „sprawiedliwością dziejową“, durch die Gerechtigkeit der Geschichte, polnisch und die wenigen verbliebenen Deutschen wurden entsprechend der Beschlüsse der Alliierten ausgesiedelt. An ihre Stelle traten Polen, unter anderem aus der heutigen westlichen Ukraine. Alles, was heute in Wrocław zu sehen ist, ist auf die eine oder andere Weise deren Werk.
Dem Touristen ist Wrocławs Zentrum vor allem der Rynek (Marktplatz), die Universität, der Bereich zum Dom hin und vielleicht noch einige Kaufhausbauten aus den Zwanzigern. All dies aber ist Ergebnis jahrzehntelanger polnischer Wiederaufbau- und Renovierungsarbeit, die so sehr wie die Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung halfen, Wrocław zur polnischen Stadt zu machen. Dieser Wiederaufbau nun war keineswegs eine simple Wiederherstellung des Vorkriegszustands, auch wenn sich das dem Touristen, der vielleicht dem Irrtum unterliegt, in Breslau zu sein, heute so darstellen mag. Der Rynek etwa, ein großer quadratischer Platz, in dessen Mitte ein kleineres Häuserquadrat mit dem gotischen Rathaus ist, ist stellenweise eher eine freie Interpretation des Alten.
Mittlerweile gibt es dort keine Autos und keinen Baum mehr (aus Drankowski, Tadeusz/Czerner, Olgierd: Wrocław z lotu ptaka, Wrocław/Warzawa/Kraków/Gdańsk 1977)
So wurden zwar alle der großen Bürgerhäuser mit ihren Renaissance- und Barockfassaden wiederhergestellt, aber nicht alle der in wilhelminischer Zeit entstandenen Kaufhäuser. Statt jenen wurden Nachempfindungen der früher dort befindlichen Häuser errichtet, so daß der Rynek heute eher älter anmuten mag, als er das in den Dreißigern getan hätte.
Doch die wirklichen qualitativen Veränderungen beginnt man zu verstehen, wenn man hinter die Westseite des Ryneks blickt. Wo früher ein Gewirr enger Hinterhöfe und verwinkelter Anbauten gewesen wäre, ist nun ein einziger großer und zu den angrenzenden Straßen offener Hof, der zwar vielleicht etwas zu sehr Parkplatz ist, aber doch auch Grün bietet, das es dort früher nie gegeben hätte.
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Abseits des Rynek, aber schon direkt an ihn angrenzend, sind die Veränderungen dann offensichtlich. Zu Anfang, etwa in der Straße Świdnicka, haben die Gebäude zwar noch Giebel, Steildächer, reduzierte Ornamentik, Formen, die man stalinistisch oder von den konservativeren Strömungen des westdeutschen Wiederaufbaus beeinflußt nennen kann, sind aber schon weit vom alten Straßenverlauf zurückgesetzt und öffnen sich zur anderen Seite in grünen Höfen.
Aus Drankowski, Tadeusz/Czerner, Olgierd: Wrocław z lotu ptaka, Wrocław/Warzawa/Kraków/Gdańsk 1977
Der weitaus größte Teil der neuen Bebauung aber, der insbesondere im Osten des Zentrums vorherrscht, hat keinerlei historische Formen mehr. Die Dächer sind flach, die Fassaden grau oder heute oft bunt mit sehr abwechslungsreichen Fenster- und Balkonanordnungen, die teils Maisonettewohnungen erahnen lassen.
Trotzdem sind auch diese Gebäude kein radikaler Bruch mit dem Alten, da das alte rechtwinklige Straßenraster weiterhin die Grundlage von allem bleibt.
Aus Drankowski, Tadeusz/Czerner, Olgierd: Wrocław z lotu ptaka, Wrocław/Warzawa/Kraków/Gdańsk 1977
Eher ist es ein behutsamer Versuch, die Stadt zu verbessern. Die Gebäude sind mit drei-, vier, selten fünf Geschossen weit niedriger als die Mietskasernen, die dort früher standen und haben noch dazu mehr Platz. Mal sind sie von der Straße durch Grünflächen getrennt, mal sind sie aufgestützt und erlauben Durchblicke in kleine, noch von Brandwänden erhaltener Mietskasernen beengte,
oder aber große, üppig begrünte Höfe.
An Straßenecken sind oft großzügige Rücksprünge
oder wiederum aufgestützte Bauteile, unter die sich dann etwa verglaste Kioskbauten schieben.
Eher selten nur stehen Gebäude innerhalb von Grünflächen als aufgereihte Punkthäuser völlig frei.
Endpunkt dieser behutsamen Bemühungen, der Stadt neue Qualitäten zu geben, ohne ihre grundlegende Struktur anzutasten, ist der Plac Nowy Targ (Neuer Markt).
Aus Czerner, Olgierd/Arcyzński, Stefan: Wrocław – krajobraz i architektura, Warszawa 1976
Hier ist die alte quadratische Platzform umgeben von fast ausschließlich neuen Gebäuden. An der Südseite zwei Verwaltungsgebäude, das eine historistisch, ohne zu sehr der typisch preußische Klotz zu sein, das andere ein klarer funktionaler Bau mit Fensterbändern und Kunststoffverkleidung.
An der Nordseite ein fünfgeschossiges Wohngebäude. An der West- und an der Ostseite, wo sie sich entlang der Straße fortsetzt, die markanteste Bebauung: an der Fassade filigrane Balkone und auf dem Dach schräge Aufbauten, die als eine stark abstrahierte Wiederaufnahme historischer Formen verstanden werden können.
Während es bei den zuvor beschriebenen Bereichen noch angemessen erscheint, an der alten Straßenstruktur festzuhalten, um angrenzend an den Rynek die Geschäftigkeit städtischen Lebens mit lebenswerten Wohngebäuden und Grün zu verbinden, muß man beim Plac Nowy Targ fragen, was durch die Beibehaltung der Platzform gewonnen wird. Hier schiene eher der Ort, wo in Bezugnahme zum Rynek, zur Hala Targowa (Markthalle), zu den Klosteranlagen am Ufer der Odra (Oder) und auch zu den heute allzu weitläufigen Stadträumen weiter im Osten ein neues, das Neue am polnischen und sozialistischen Wrocław ausdrückende Zentrum entstehen könnte. Hier wäre ein Ort für ein Hochhaus, hier wäre ein Ort für die ganze Brillanz fortschrittlicher Architektur, die in Wrocławs Vorstädten doch so oft zu erleben ist. Auch die Reste der Stadtmauer mit der Baszta Niedżwiedzia (Bärenbastion) hätten Besseres verdient, als im Grünbereich jenseits der östlichen Platzseite zwischen Punkthäusern zu stehen.
Was vorher behutsam war, wird hier bloß konservativ und die Ironie ist, daß der konservative Tourist, der nicht über „schöne“ Fassaden hinaussehen kann, das nicht einmal bemerken wird.
Wieviel ein behutsamer Eingriff bewirken kann, ist auch an der Universität zu erleben. Zwar ist die Flußseite dieses großartigen Baus, der den Barock in seiner ganzen Klarheit und Funktionsbetontheit zeigt, zweifelsohne die interessantere, aber das stadtseitige Portal ist überhaupt nur zu sehen, weil die Entscheidung getroffen wurde, die Mietskasernen an einer Ecke nicht wiederherzustellen (oder sogar die, sie abzureißen) und durch einen kleinen Park zu ersetzen.
Wie ein Symbol für die polnische und sozialistische Neuschöpfung Wrocławs steht die Ausstellungshalle in der Straße Wita Stwosza, das vielleicht schönste Gebäude in Wrocławs Zentrum, ein Kleinod eher. Sie ist nichts weiter als ein schlichter langgezogener Bau mit flachem Dach und straßenseitiger durchgängiger Verglasung.
Als Eingang aber dient das Portal des von den Deutschen zerstörten Pałac Hatzfeldów (Palais Hatzfeld) mit klassizistischer Säulenordnung und Gewölbe. So wie hier Fragmente des Alten benutzt wurden, um etwas Neues zu schaffen, nutzte Polen das alte Breslau, um Wrocław zu erschaffen.
Man kann nur hoffen, daß es selbst das nie vergißt.
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