Nowy Staw die Metropole der südlichen Żuławy zu nennen, ist vielleicht übertrieben, aber es ist neben dem nördlicher an der Autobahn gelegenen Nowy Dwór zumindest die einzige Stadt dieser ländlichen Region und wirkt im Gegensatz zu diesem auch wenigstens kleinstädtisch. Das verdankt es vor allem seinen Türmen, die es schon weither über die flache Landschaft sehen lassen.
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Es sind Kirchtürme, Wassertürme und eine Fabrik, aber das ist von Weitem noch nicht genau zu erkennen. Nach Stunden in den Dörfern und Alleen, zwischen den Kanälen und Feldern der Żuławy würde schon weniger genügen, um Nowy Staw als Stadt auszuweisen.
Aus der Frühzeit der Stadt blieb die riesige backsteingotische Kościół Świętego Mateusza Apostoła (Matthäuskirche) übrig, die deshalb auch schräg und gleichsam verbindungslos zum gesamten späteren Straßennetz steht. Schon ihr Langhaus ist groß, doch vorne sind beidseits von einem eher kleinen Treppengiebel die Ansätze zu zwei noch weit größeren Türmen. Beide haben oben in den Mauern viele Reihen geschlossener Spitzbögen und unten schwarze karoförmige Linienmuster im roten Stein.
Der linke, höhere Turm hat zudem mächtige vielfach abgestufte Strebepfeiler. Wäre er fertiggestellt worden, hätte er eine enorme Höhe erreicht, doch dieser Turmbau zu Nowy Staw blieb Ansatz und beide Türme enden in recht unscheinbaren Holzkonstruktionen, die auch von der spätmittelalterlichen Baustelle übriggeblieben sein könnten.
Da sie nicht in die Höhe wachsen konnte, gab sich die Kirche an der linken, zur Ecke des Platzes geöffneten Seite zumindest ein Portal mit Treppengiebel und setzte auch auf die untere Stufe der Strebepfeiler des Turms giebel- oder zinnenartige Blenden.
Der Platz ist ungewöhnlich lang und schmal, was auf einen Ursprung in einer Straße hindeutet, doch man merkt das nicht sogleich, da in seiner Mitte eine zweite Kirche steht und ihn in zwei Hälften teilt. Sie, einst evangelisch gegenüber der älteren katholischen Kirche, ist ein neogotischer Backsteinbau, deren falsche Gotik allerdings nichts mit der echten nebenan zu tun hat.
Vorne steht ein hoher und schlanker achteckiger Turm aus hellem Backstein, dahinter ist angeschlossen durch einen flachen Verbindungstrakt ein Saal mit hohen, aber schmalen spitzbögigen Fenstern und Satteldach, auf dessen Giebelseiten an den Ecken und oben Kreuze und unklar blumenartige Tongebilde stehen.
Statt in dieser englisch angehauchten Neogotik könnte der Bau auch in beliebigen anderen Formen geschmückt sein, da er nichts grundsätzlich Gotisches hat. Wie er gänzlich frei mitten auf dem Platz steht, ihn zustellt, zeugt von einer beinahe kolonialen Dreistigkeit.
Die Stadt um diese zwei Kirchen ist nicht groß. Am Platz haben die Häuser selten mehr als zwei Geschosse, in der einen neben der alten Kirche auf den Platz führenden und in den beiden an seinem anderen Ende wieder wegführenden Straßen sind sogar oft nur eingeschossige und teils winzige Häuser.
Links neben dem Platz verlaufen zwei Parallelstraßen und in der äußeren stehen auf der einen Seite einige Villen, unter anderem eine in für die Region erstaunlich reinem Jugendstil, und auf der anderen bereits Bauernhöfe, hinter denen unmittelbar die offene żuławische Landschaft beginnt. Rechts abseits des Platzes in die Stadtstruktur durch Ausfallstraßen und den früheren Bahnhof weniger klar, hier stehen auch zwei backsteinerne Wassertürmen, die vorgeben, zu gotischen Stadtmauern zu gehören.
Ein weiterer stadtprägender Bau steht noch vor der zum Platz führenden Straße, wo an einem Bogen des Flüßchens Święta ein kleiner Park und jenseits von ihm Fabrikanlagen sind. Es ist ein Industriebau, eine Mälzerei, aber sein hoher backsteinerner Körper ist, obwohl unverkennbar ein eckiger Klotz, mit großen Spitzbögen gestaltet, als sei er ebenfalls eine gotische Kirche. Der mittige Schornstein ist kaum höher als das Gebäude selbst und hat eine große geschwungene Dunsthaube aus Eisen, die in diesem Kontext wie die Fratze eines gotischen Wasserspeiers wirkt. Neogotisch ist auch die Mauer um das Gelände gestaltet und angesichts all der spitzbögigen Tore und Nischen würde wirklich nicht erstaunen, wenn sich hinter ihr ein Friedhof und keine Fabrik befände.
In der sozialistischen Zeit wurde hinter einem Tor mit neuem rechteckig gemustertem Gitter ein verglaster Vorraum zugefügt, jetzt steht das Areal lange leer, wie das aus der Frühzeit des restaurierten Kapitalismus stammende Blechschild einer „Elbrewery Company Ltd“ zeigt.
Eigene Dominanten fügte der Sozialismus dem Panorama von Nowy Staw nicht hinzu und auch das, was er am Platz baute, ist zumeist unauffällig. Eine Ausnahme ist das Kaufhaus Sokół direkt in der bei der alten Kirche liegenden Ecke des Platzes. Von einer niedrigen Terrasse umgeben, hat es im Erdgeschoß Schaufenster und im Obergeschoß vorgesetzte vertikale Streben mit silberner Metallverkleidung, die es monolithisch wirken und in der Sonne glänzen lassen.
Es ist nur ein konventioneller Bau, Teil der Blockrandbebauung, wie er es auch in einem bürgerlichen Staat wäre, aber für eine so kleine Stadt wie Nowy Staw ist er viel und dank seiner Lage ist er unübersehbares Symbol des Neuen zwischen den beiden Kirchen.
Wertvoller für die Stadt sind jedoch die unauffälligeren Veränderungen rechts des Platzes. Die Hinterhöfe wurden hier weigehend durch querstehende dreigeschossige Gebäude und große Grünflächen ersetzt. Zum Einsatz kam ein ungewöhnlicher Gebäudetyp, der abwechselnd drei Geschosse mit Flachdach und zwei Geschosse mit Satteldach hat.
Falls das irgendwie historistisch gemeint gewesen sein sollte, wird es sogleich durch die wabenartig vorgesetzten Balkone mit Seitenwänden, Decken und Geländern halb aus Gittern und halb aus Beton, die gänzlich modern wirken, ausgeglichen.
Diese Gebäude leiten vom Platz zu frei in den Grünflächen stehenden fünfgeschossigen Würfelhäusern über, so daß viel von der besten neuen Wohnbebauung direkt neben dem alten Stadtzentrum ist.
Hier könnte der Ansatz zu einer wahrhaftigen Metropole der südlichen Żuławy sein, der Turmbau zu Nowy Staw, den die alte Kirche begann, könnte in einiger Entfernung von einem Wohnhochhaus vollendet werden. Dazu kam es nie, der Sozialismus ging vorbei, der neue Kapitalismus fügte Nowy Staw wenig hinzu, aber eine hübsche kleine Stadt ist es allemal.
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