Die Brünner Straße ist eine der riesigen Ausfallstraßen Wiens. Sie führt nach Norden, so ungefähr in Richtung des tschechischen Brno, das ihr den Namen gab, wie die Triester Straße im Süden in Richtung jener italienischen Stadt.
Fährt man sie stadteinwärts, sieht man gleich hinter McDonald’s bloß eine etwas abweisende Gebäudeseite: neun Geschosse, wobei immer zwei, oben drei, über die jeweils darunterliegenden leicht überstehen, kurze Fensterbänder, die als Erker leicht vorragen und so eine Wellenstruktur bilden, vertikal geriffelte weiße Aluminiumbleche als Verkleidung.
Das Gebäude steht mit einem kurzen Teil an der Straße, an den schräg ein längerer Mittelteil anschließt, von dem wiederum ein weiterer kurzer Teil schräg zur anderen Seite verläuft, so daß sich eine Art eckige S-Form ergibt.
Fährt man sie aber stadtauswärts, so sieht man etwas ganz anderes: auf einem niedrigen Sockelbereich acht Geschosse, die ab dem sechsten Geschoß in Terrassenstufen absteigen und gänzlich aus Balkonen bestehen.
Sah man hinten kahles Weiß, das man auch grau nennen könnte, so sieht man hier zumal im Sommer nur Grün, da auf jedem der Balkone in speziellen vorgesetzten Blumenwannen, regelrechten Beeten eigentlich, nicht nur Blumen, sondern meist Sträucher, ja, kleine Bäume wachsen. Das Grün setzt sich um das Gebäude in parkartigen Grünanlagen, deren auffälligstes Gestaltungselement grasbewachsene Hügel sind, fort.
Und das Gebäude selbst ist nur ein kleiner Teil der Wohnhausanlage Heinz Nittel-Hof, dem Stolz der Brünner Straße.
Etwas südlich steht ein ähnliches, aber noch einmal mehr abgeschrägtes Gebäude, während sich östlich von diesem ein drittes Gebäude als langes eckiges Mäander nach Osten erstreckt.
Bloß der von diesen drei Gebäuden umgrenzte Bereich könnte mit etwas Wohlwollen als Hof bezeichnet werden, aber im weiteren Verlauf wird die Offenheit, die schon ihm zu eigen ist, absolut und das Wort Hof so als Reverenz an eine fortschrittliche Wiener Tradition erkenntlich.
Die Gebäude sind durch den Gegensatz zwischen kahler Nordseite und grüner Südseite schon im wesentlichen beschrieben.
Die Balkone sind voneinander durch dreieckig vorragende Keile getrennt, die wie die Geländer aus weißem Beton sind. Die Eingänge sind dort, wo die einzelnen Teile der Gebäude gelenkartig aneinandergefügt sind. Dort sind auf dem Dach auch die Aufbauten mit den Aufzugsbetriebsräumen, die als massive Klötze wie unvermittelt über der Bewegtheit und filigranen Struktur der Fassaden aufragen. Dasselbe gilt für langgezogene Terrassen, die auf den langen Gebäudeteilen noch ein Geschoß höher aufgestützt sind und so fast zu schweben scheinen. Einziger Schmuck, unterhalb der Dachterrassen und bei den Balkonen, sind Geländer aus ineinandergesetzten Rechtecken, der aber sofort einen Zwecke bekommt, da verschiedenen Gebäuden verschiedene Farben zugeordnet sind.
Nach Norden, wo sich weitläufige Einfamilienhausgegenden ausdehnen, typisches Suburbia, gibt sich der Heinz Nittel-Hof also abweisend, dort ist auch nichts, woran ihm gelegen sein könnte. Von dort führen Zufahrtsstraßen zu den Tiefgaragen unter den Gebäuden.
Nach Süden aber ergießt sich die Wohnhausanlage als Kaskade von Grün und Weiß und schenkt sich ihrer Umgebung. An ihren Grünanlagen und Gebäuden vorbei, schnurgerade neben deren Wellen, verläuft die Marco-Polo-Promenade. Sie, eine Allee, ein Boulevard, schafft die Verbindung zu einigen älteren Wohnhausanlagen.
Diese stammen aus den frühen Sechzigern und bestehen zumeist aus viergeschossigen Gebäuden mit Satteldach, die recht schematisch aufgereiht sind.
Oberflächlich verbindet sie mit dem Heinz Nittel-Hof sehr wenig, aber es ist der Raum, das großzügige Grün, in das die Gebäude eingebettet sind, und die klare Trennung zwischen Fußgänger- und Autoverkehr, der zeigt, daß sie ein und demselben fortschrittlichen Geist entsprechen. Diese Wohnhausanlagen schließen ihrerseits an Blockrandbebauung aus den Zwanzigern an, darunter einige der Gemeindebauten dieser Zeit.
So kann man hier in Jedlersdorf, in der Peripherie Wiens, die Geschichte des Gemeindebaus als Geschichte des architektonischen Fortschritts erleben. Die Gebäude aus den Zwanzigern stehen noch vereinzelt, haben Verzierungen und sind konventionell um immerhin begrünte Höfe angeordnet, die sich aber stellenweise schon öffnen. Die Gebäude aus den Sechzigern sind schon zu größeren Wohnhausanlagen zusammengefügt, die Verzierungen und die Höfe sind verschwunden, aber die Struktur ist noch etwas starr und repetitiv. Der Heinz Nittel-Hof, errichtet von 1979 bis 1983, ist dann die Apotheose des Gemeindebaus.
Mit dem bisher Beschriebenen endet er auch noch nicht. Etwa in der Mitte der Marco-Polo-Promenade, dort, wo ein Durchgang durch das mäandernde Gebäude führt, ist ein kleines Denkmal für den Namensgeber Heinz Nittel, einen SPÖ-Funktionär und Vorsitzenden der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft, der 1981 von palästinensischen Terroristen ermordet wurde.
Es besteht aus drei Fahnenstangen und einer quadratischen auf der Spitze stehenden Steinplatte mit Inschrift. Sie ist schräg auf einem kleinen Sockel angebracht, worin man einen Bezug auf die schräg aufsteigenden Terrassen der Gebäude erkennen kann, während ihr Schwarz einen starken Kontrast zu deren Grün und Weiß bildet.
Im weiteren Verlauf der Promenade folgt, nachdem es bei den ersten beiden Gebäuden schon Kindergärten gab, eine Schule und den Abschluß, den Ausklang, bildet ein Mäander aus einem nur noch fünfgeschossigen Gebäude.
Wo es beginnt, ist ihm eine Kirche beigefügt, die sich dem architektonischen Programm der Wohnhausanlage aber so perfekt unterordnet und mit gläserner Dachschräge oben und plusförmigem Kreuz in einer Farbexplosion auf der Blechverkleidung von so dezenter Schönheit ist, daß nur der verhärmteste Atheist sich an ihr stören könnte. An der Ruthnergasse, wo das Gebäude endet, steht schließlich ein Einkaufszentrum genanntes Gebäude mit Läden und Supermarkt.
Ein zweites, größeres Einkaufszentrum ist, so unauffällig und leicht zu übersehen wie der gesamte Heinz Nittel-Hof, an der Brünner Straße am anderen Ende der Promenade. Es ist ein hufeisenförmiger Flachbau mit abgeschrägtem Dach, in dem alle Läden nach innen ausgerichtet sind. In seiner Mitte ein großer Baum und an der anderen Seite zwei Pavillons, mit denen es sich an die dreiflüglige Ladenzeile, die zur Versorgung der Wohnhausanlagen aus den Sechzigern diente, fügt. So wird die Vereinigung des Heinz Nittel-Hofs mit seinen Vorläufern vollkommen.
Architektur aber kann nie vollkommen sein, da sich immer noch etwas verbessern läßt, also sei das Wort auf den Heinz Nittel-Hof als solchen nicht verwandt. Was er aber ohne Zweifel ist, ist einer der einsamen Höhepunkte des Wiener Gemeindebaus und ein herausragendes Beispiel fortschrittlicher Architektur überhaupt. Nicht nur durch die beschriebene städtebauliche und architektonische Brillanz wird er dazu, sondern insbesondere dadurch, wie er die verschiedenen Räume strukturiert. Es gibt den öffentlichen, städtischen Raum der Grünanlagen und der Marco-Polo-Promenade, es gibt den privaten Raum der Wohnungen und Balkons und es gibt den halböffentlichen, nur den Hausbewohnern zugänglichen Raum der Dachterrassen. Durch diese erhebt sich der Heinz Nittel-Hof über fast alles Vergleichbare. Denn dort gibt es, so unfaßbarer wie berechtigter Luxus, eben nicht nur Terrassenflächen zum Sonnen, sondern auch Schwimmbecken (hier schön zu sehen). Genau so sollte Architektur Räume schaffen, genau so sollte sie dem Menschen dienen. Der Heinz Nittel-Hof ist die sozialistische Architektur, zu der den sozialistischen Staaten Kraft und Geld fehlte, er ist der notwendige Schritt hin zur Großwohneinheit, den der Sozialismus nie ging. Er ist ein Höhepunkt, ein Endpunkt aber auch, der Punkt, an dem anzuknüpfen wäre, sollte es wieder eine fortschrittliche Architektur geben.
Nach dem Heinz Nittel-Hof kam nichts mehr. 1983, als er fertig war, wurde vom selben Wien das Hundertwasserhaus gebaut. Hundertwassers vulgäre Kinderbucharchitektur war selbstverständlich zu teuer, sich je durchzusetzen, und auch den reduzierten Historismus und die bösartige Monumentalität der Neunziger hat die Architektur außerhalb von Berlin größtenteils abgelegt. Die neuesten Gebäude, etwa in der Vorgartenstraße, geben sich modisch-modern.
Der Raum aber, den sie schaffen, ist so konservativ an Straße, Hof, Platz ausgerichtet, als habe es den oben beschriebenen Fortschritt seit den Zwanzigern nie gegeben. Der Heinz Nittel-Hof wirkt heute so sehr aus einer anderen Zeit wie der Spruch „Gesunde Wohnungen – Glückliche Menschen“, der zur Regierungszeit von Bürgermeister Leopold Gratz verwendet wurde, aus einer vergangenen Zukunft nämlich.
Aber eine Ahnung einer Zukunft kann jeder erleben, wenn er mit der Straßenbahn zur Haltestelle Carabelligasse hinausfährt und den Heinz Nittel-Hof besucht. Jedem, der lernen möchte, was Architektur sein kann, und jedem, der ein wirkliches Wien abseits von Mozart-Klimt-Sisi erleben möchte, sei dieser Besuch an einem warmen Sommernachmittag empfohlen. Inmitten von spielenden Kindern in den Grünanlagen, Alten, Familien, Jugendlichen um die Bänke, Sonnenbadenden auf den Dachterrassen und unzähligen Menschen, die unsichtbar in der Privatheit ihrer Balkone sitzen, wird ihm die Marco-Polo-Promenade zur proletarischen Ringstraße und zum schönsten Ort der Stadt werden. Man muß nur schauen, nur hören, nur wirklich erleben. So viele Sprachen, so viele Menschen, so viel Leben ist hier um einen. An der Marco-Polo-Promenade steht die Plastik einer dicken Frau auf Zehenspitzen, die wie ein Sinnbild für das Aufstrebende, das Neue der Architektur und des Lebens um sie scheint.
Doch sie heißt „Katharina von Österreich“. Wie jede Idylle ist auch diese eine Illusion und sicher ist nicht alles hier so harmonisch und leicht wie es einem scheinen könnte, wenn man aus einem einzigen Gebäudeeingang alle nur denkbaren Menschentypen vom jungen Islamisten mit Glatze und Bart bis zur mittelalten Dragqueen mit blondgelocktem Haar kommen sieht. Aber ein Ort, wo man leichter als anderswo in eine Zukunft sehen kann, das ist der Heinz Nittel-Hof.