Archiv für den Monat Juni 2014

Heinz Nittel-Hof

Die Brünner Straße ist eine der riesigen Ausfallstraßen Wiens. Sie führt nach Norden, so ungefähr in Richtung des tschechischen Brno, das ihr den Namen gab, wie die Triester Straße im Süden in Richtung jener italienischen Stadt.

Fährt man sie stadteinwärts, sieht man gleich hinter McDonald’s bloß eine etwas abweisende Gebäudeseite: neun Geschosse, wobei immer zwei, oben drei, über die jeweils darunterliegenden leicht überstehen, kurze Fensterbänder, die als Erker leicht vorragen und so eine Wellenstruktur bilden, vertikal geriffelte weiße Aluminiumbleche als Verkleidung.

Heinz Nittel-HofMcDonald's

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Das Gebäude steht mit einem kurzen Teil an der Straße, an den schräg ein längerer Mittelteil anschließt, von dem wiederum ein weiterer kurzer Teil schräg zur anderen Seite verläuft, so daß sich eine Art eckige S-Form ergibt.

Fährt man sie aber stadtauswärts, so sieht man etwas ganz anderes: auf einem niedrigen Sockelbereich acht Geschosse, die ab dem sechsten Geschoß in Terrassenstufen absteigen und gänzlich aus Balkonen bestehen.

Heinz Nittel-Hof1

Sah man hinten kahles Weiß, das man auch grau nennen könnte, so sieht man hier zumal im Sommer nur Grün, da auf jedem der Balkone in speziellen vorgesetzten Blumenwannen, regelrechten Beeten eigentlich, nicht nur Blumen, sondern meist Sträucher, ja, kleine Bäume wachsen. Das Grün setzt sich um das Gebäude in parkartigen Grünanlagen, deren auffälligstes Gestaltungselement grasbewachsene Hügel sind, fort.

Und das Gebäude selbst ist nur ein kleiner Teil der Wohnhausanlage Heinz Nittel-Hof, dem Stolz der Brünner Straße.

Heinz Nittel-HofDurchgang

Etwas südlich steht ein ähnliches, aber noch einmal mehr abgeschrägtes Gebäude, während sich östlich von diesem ein drittes Gebäude als langes eckiges Mäander nach Osten erstreckt.

Heinz Nittel-HofPlan

Bloß der von diesen drei Gebäuden umgrenzte Bereich könnte mit etwas Wohlwollen als Hof bezeichnet werden, aber im weiteren Verlauf wird die Offenheit, die schon ihm zu eigen ist, absolut und das Wort Hof so als Reverenz an eine fortschrittliche Wiener Tradition erkenntlich.

Die Gebäude sind durch den Gegensatz zwischen kahler Nordseite und grüner Südseite schon im wesentlichen beschrieben.

Heinz Nittel-Hof2

Die Balkone sind voneinander durch dreieckig vorragende Keile getrennt, die wie die Geländer aus weißem Beton sind. Die Eingänge sind dort, wo die einzelnen Teile der Gebäude gelenkartig aneinandergefügt sind. Dort sind auf dem Dach auch die Aufbauten mit den Aufzugsbetriebsräumen, die als massive Klötze wie unvermittelt über der Bewegtheit und filigranen Struktur der Fassaden aufragen. Dasselbe gilt für langgezogene Terrassen, die auf den langen Gebäudeteilen noch ein Geschoß höher aufgestützt sind und so fast zu schweben scheinen. Einziger Schmuck, unterhalb der Dachterrassen und bei den Balkonen, sind Geländer aus ineinandergesetzten Rechtecken, der aber sofort einen Zwecke bekommt, da verschiedenen Gebäuden verschiedene Farben zugeordnet sind.

Heinz Nittel-HofBalkonbrüstung

Nach Norden, wo sich weitläufige Einfamilienhausgegenden ausdehnen, typisches Suburbia, gibt sich der Heinz Nittel-Hof also abweisend, dort ist auch nichts, woran ihm gelegen sein könnte. Von dort führen Zufahrtsstraßen zu den Tiefgaragen unter den Gebäuden.

Heinz Nittel-Hof3

Nach Süden aber ergießt sich die Wohnhausanlage als Kaskade von Grün und Weiß und schenkt sich ihrer Umgebung. An ihren Grünanlagen und Gebäuden vorbei, schnurgerade neben deren Wellen, verläuft die Marco-Polo-Promenade. Sie, eine Allee, ein Boulevard, schafft die Verbindung zu einigen älteren Wohnhausanlagen.

Heinz Nittel-HofWohnhausanlage

Diese stammen aus den frühen Sechzigern und bestehen zumeist aus viergeschossigen Gebäuden mit Satteldach, die recht schematisch aufgereiht sind.

WohnhausanlageBrünnerStraße

Oberflächlich verbindet sie mit dem Heinz Nittel-Hof sehr wenig, aber es ist der Raum, das großzügige Grün, in das die Gebäude eingebettet sind, und die klare Trennung zwischen Fußgänger- und Autoverkehr, der zeigt, daß sie ein und demselben fortschrittlichen Geist entsprechen. Diese Wohnhausanlagen schließen ihrerseits an Blockrandbebauung aus den Zwanzigern an, darunter einige der Gemeindebauten dieser Zeit.

BlickSkraupstraßeHeinz Nittel-Hof

So kann man hier in Jedlersdorf, in der Peripherie Wiens, die Geschichte des Gemeindebaus als Geschichte des architektonischen Fortschritts erleben. Die Gebäude aus den Zwanzigern stehen noch vereinzelt, haben Verzierungen und sind konventionell um immerhin begrünte Höfe angeordnet, die sich aber stellenweise schon öffnen. Die Gebäude aus den Sechzigern sind schon zu größeren Wohnhausanlagen zusammengefügt, die Verzierungen und die Höfe sind verschwunden, aber die Struktur ist noch etwas starr und repetitiv. Der Heinz Nittel-Hof, errichtet von 1979 bis 1983, ist dann die Apotheose des Gemeindebaus.

Mit dem bisher Beschriebenen endet er auch noch nicht. Etwa in der Mitte der Marco-Polo-Promenade, dort, wo ein Durchgang durch das mäandernde Gebäude führt, ist ein kleines Denkmal für den Namensgeber Heinz Nittel, einen SPÖ-Funktionär und Vorsitzenden der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft, der 1981 von palästinensischen Terroristen ermordet wurde.

HeinzNittelDenkmal

Es besteht aus drei Fahnenstangen und einer quadratischen auf der Spitze stehenden Steinplatte mit Inschrift. Sie ist schräg auf einem kleinen Sockel angebracht, worin man einen Bezug auf die schräg aufsteigenden Terrassen der Gebäude erkennen kann, während ihr Schwarz einen starken Kontrast zu deren Grün und Weiß bildet.

Im weiteren Verlauf der Promenade folgt, nachdem es bei den ersten beiden Gebäuden schon Kindergärten gab, eine Schule und den Abschluß, den Ausklang, bildet ein Mäander aus einem nur noch fünfgeschossigen Gebäude.

Heinz Nittel-HofKirche

Wo es beginnt, ist ihm eine Kirche beigefügt, die sich dem architektonischen Programm der Wohnhausanlage aber so perfekt unterordnet und mit gläserner Dachschräge oben und plusförmigem Kreuz in einer Farbexplosion auf der Blechverkleidung von so dezenter Schönheit ist, daß nur der verhärmteste Atheist sich an ihr stören könnte. An der Ruthnergasse, wo das Gebäude endet, steht schließlich ein Einkaufszentrum genanntes Gebäude mit Läden und Supermarkt.

Ein zweites, größeres Einkaufszentrum ist, so unauffällig und leicht zu übersehen wie der gesamte Heinz Nittel-Hof, an der Brünner Straße am anderen Ende der Promenade. Es ist ein hufeisenförmiger Flachbau mit abgeschrägtem Dach, in dem alle Läden nach innen ausgerichtet sind. In seiner Mitte ein großer Baum und an der anderen Seite zwei Pavillons, mit denen es sich an die dreiflüglige Ladenzeile, die zur Versorgung der Wohnhausanlagen aus den Sechzigern diente, fügt. So wird die Vereinigung des Heinz Nittel-Hofs mit seinen Vorläufern vollkommen.

Architektur aber kann nie vollkommen sein, da sich immer noch etwas verbessern läßt, also sei das Wort auf den Heinz Nittel-Hof als solchen nicht verwandt. Was er aber ohne Zweifel ist, ist einer der einsamen Höhepunkte des Wiener Gemeindebaus und ein herausragendes Beispiel fortschrittlicher Architektur überhaupt. Nicht nur durch die beschriebene städtebauliche und architektonische Brillanz wird er dazu, sondern insbesondere dadurch, wie er die verschiedenen Räume strukturiert. Es gibt den öffentlichen, städtischen Raum der Grünanlagen und der Marco-Polo-Promenade, es gibt den privaten Raum der Wohnungen und Balkons und es gibt den halböffentlichen, nur den Hausbewohnern zugänglichen Raum der Dachterrassen. Durch diese erhebt sich der Heinz Nittel-Hof über fast alles Vergleichbare. Denn dort gibt es, so unfaßbarer wie berechtigter Luxus, eben nicht nur Terrassenflächen zum Sonnen, sondern auch Schwimmbecken (hier schön zu sehen). Genau so sollte Architektur Räume schaffen, genau so sollte sie dem Menschen dienen. Der Heinz Nittel-Hof ist die sozialistische Architektur, zu der den sozialistischen Staaten Kraft und Geld fehlte, er ist der notwendige Schritt hin zur Großwohneinheit, den der Sozialismus nie ging. Er ist ein Höhepunkt, ein Endpunkt aber auch, der Punkt, an dem anzuknüpfen wäre, sollte es wieder eine fortschrittliche Architektur geben.

Nach dem Heinz Nittel-Hof kam nichts mehr. 1983, als er fertig war, wurde vom selben Wien das Hundertwasserhaus gebaut. Hundertwassers vulgäre Kinderbucharchitektur war selbstverständlich zu teuer, sich je durchzusetzen, und auch den reduzierten Historismus und die bösartige Monumentalität der Neunziger hat die Architektur außerhalb von Berlin größtenteils abgelegt. Die neuesten Gebäude, etwa in der Vorgartenstraße, geben sich modisch-modern.

Vorgartenstraße

Der Raum aber, den sie schaffen, ist so konservativ an Straße, Hof, Platz ausgerichtet, als habe es den oben beschriebenen Fortschritt seit den Zwanzigern nie gegeben. Der Heinz Nittel-Hof wirkt heute so sehr aus einer anderen Zeit wie der Spruch „Gesunde Wohnungen – Glückliche Menschen“, der zur Regierungszeit von Bürgermeister Leopold Gratz verwendet wurde, aus einer vergangenen Zukunft nämlich.

Heinz Nittel-HofGesundeWohnungen-GlücklicheMenschen

Aber eine Ahnung einer Zukunft kann jeder erleben, wenn er mit der Straßenbahn zur Haltestelle Carabelligasse hinausfährt und den Heinz Nittel-Hof besucht. Jedem, der lernen möchte, was Architektur sein kann, und jedem, der ein wirkliches Wien abseits von Mozart-Klimt-Sisi erleben möchte, sei dieser Besuch an einem warmen Sommernachmittag empfohlen. Inmitten von spielenden Kindern in den Grünanlagen, Alten, Familien, Jugendlichen um die Bänke, Sonnenbadenden auf den Dachterrassen und unzähligen Menschen, die unsichtbar in der Privatheit ihrer Balkone sitzen, wird ihm die Marco-Polo-Promenade zur proletarischen Ringstraße und zum schönsten Ort der Stadt werden. Man muß nur schauen, nur hören, nur wirklich erleben. So viele Sprachen, so viele Menschen, so viel Leben ist hier um einen. An der Marco-Polo-Promenade steht die Plastik einer dicken Frau auf Zehenspitzen, die wie ein Sinnbild für das Aufstrebende, das Neue der Architektur und des Lebens um sie scheint.

Heinz Nittel-Hof

Doch sie heißt „Katharina von Österreich“. Wie jede Idylle ist auch diese eine Illusion und sicher ist nicht alles hier so harmonisch und leicht wie es einem scheinen könnte, wenn man aus einem einzigen Gebäudeeingang alle nur denkbaren Menschentypen vom jungen Islamisten mit Glatze und Bart bis zur mittelalten Dragqueen mit blondgelocktem Haar kommen sieht. Aber ein Ort, wo man leichter als anderswo in eine Zukunft sehen kann, das ist der Heinz Nittel-Hof.

Die Villa Tugendhat als Schloß

Die Villa Tugendhat ist ein Schloß. Das wird in vielen Betrachtungen dieses äußerst berühmten Gebäudes in Brno vielleicht übersehen, aber es ist offenkundig. Sie ist ein Schloß nicht nur wegen ihrer Funktion als Wohnsitz einer äußerst reichen Familie, denn das hat sie, wie ebenfalls gerne übersehen wird, mit allen Villen gemeinsam, sondern vor allem wegen ihrer Lage und ihrer Formen.

Die Villen des 19. Jahrhunderts wollten alle Schlösser sein und stahlen dafür die Formen von Renaissance und Barock. Was sie aber nicht stehlen konnten, waren die wahrhaft exklusive Lage und die Ausnutzung landschaftlicher Gegebenheiten, die die Schlösser insbesondere des Barock weit mehr auszeichneten als ihre Formen. Sie versuchten es vielleicht, aber sie scheiterten. Die Besitzer dieser Villen, die kleineren und größeren Kapitalisten, waren, anders als der Adel, der von seinen Ländereien lebte, darauf angewiesen für ihre Geschäfte in der Nähe der Städte zu sein und dort gab es nur begrenztes Bauland. Letztlich entstanden so Villenviertel, in denen sich auf relativ kleinen Grundstücken jämmerliche Kopien von Schlössern reihten. Die Villa des 19. Jahrhunderts war eine Schwundform des Schlosses. Selbst dort, wo die allerreichsten Kapitalisten Villen bauen konnten, die in Lage und Ausnutzung der Landschaft den Schlössern der vorangegangenen Jahrhunderte gleichkamen, blieb das Problem, daß sie keine eigenständigen Formen hatten.

Die Villa Tugendhat war im Jahre 1930 die Lösung für dieses Problem, das selbstverständlich nur für die Kapitalistenklasse eines war. Sie war das Schloß neuen Typs. Ganz wie bei einem Schloß kann man auch die Schönheit und Bedeutung der Villa Tugendhat nur im Wissen um und in Abstraktion von ihrer gesellschaftlichen Funktion beurteilen.

Was zuerst auffällt, ist, wie sehr alles an der Villa Tugendhat auf Privatheit ausgerichtet ist. In der Černopolní, einer sonst von eher bescheidenen Villen geprägten Straße, könnte man sie fast übersehen. Ein Flachbau nur, rechts die große Garage, in der Mitte, weiter von der Straße zurückgesetzt, unter einem schmalen Flachdach ein Durchgang auf die Terrasse und der Eingang, zum dem sich von links eine milchige Glaswand schwingt, links dann, wieder etwas näher an der Straße, eine bloße weiße Wand, deren einzige Öffnung weit oben ein schmales Fensterband ist.

Aus Přeučil, František: Brno a okolí, Praha 1973

Aus Přeučil, František: Brno a okolí, Praha 1973

Erst vom Garten, am Hang unterhalb der Villa, in den es von den Nachbargrundstücken keinerlei Einblicke gibt, sieht man sie ganz. Drei Geschosse hat sie nun. Der Bauteil links, unter der Garage, ist weit zurückgesetzt, kaum sichtbar, so daß man schon baulich ausgedrückt sieht, daß er nur Wirtschaftsfunktionen und der Unterbringung des Personals dient. Die eigentliche Villa ragt bis weit in den Garten hinein. Im obersten Geschoß, neben dem schon von der Straße gesehenen Durchgang, zwei Zimmer, Schlafzimmer der Eheleute Tugendhat wohl, dann eine große quadratische Dachterrasse, zu der sich, man ahnt es, ohne es sehen zu können, von links und von rückwärtig weitere Zimmer öffnen, während in ihrer rechten, offenen Ecke Kletterpflanzen auf einem Stahlgestellt wachsen. Das Erdgeschoß ist fast öffnungslos, hier war sicher die Küche.

Das eigentlich Bemerkenswerte, das Herz der Villa ist aber das mittlere Geschoß, das unter dem weißen Streifen aus Decke und Terrassenbrüstung völlig transparent ist. Am Erdgeschoß vorbei führt eine große Freitreppe zu einer kleinen Terrasse links. Der Rest der vorderen und der rechten Seite besteht einzig aus großen Glasflächen. Dahinter sieht man das Innere der Villa. Es ist im eigentlichen nur ein riesiger Raum, der aber locker in mehrere Bereiche geteilt ist. Links eine etwa halbrunde mit dunklem Holz verkleidete Wand, vor der ein großer runder Tisch steht, der Eßbereich. Rechts eine gerade Wand, die mit einem ocker marmorierten Stein verkleidet ist. Zwischen diesen beiden Wänden mündet die Treppe, deren Schwung man von der Straße schon in der milchigen Glaswand angelegt sah. Die zweite Wand separiert den Wohnbereich in einen rückwärtigen, etwas dunkleren Teil, wo ein weiterer Tisch und ein Klavier stehen, und einen lichtdurchströmten vorderen Teil, wo einige stählerne Möbel, insbesondere eine Liege mit rotem Leder, die den Farben der beiden Wände eine weitere Nuance hinzufügt, stehen. Die rechte Fensterfront ist eine doppelte, da in ihr ein langgezogener Wintergarten mit flachem Wasserbecken und üppigen exotischen Pflanzen angeordnet ist. Durch schwere Vorhänge läßt sich die fließende Raumstruktur weiter in kleinere Einheiten aufteilen. Möglich wird diese enorme Offenheit dadurch, daß das Geschoß darüber von zierlichen, zuerst kaum sichtbaren stählernen Stützen in der Form eines abgerundeten Kreuzes, draußen matt golden, innen glänzend silbern, getragen wird.

So vollkommen ist die Transparenz dieses Raums, daß es übertrieben, nurmehr verschwenderisch erscheint, daß sich einige der großen Glasflächen noch dazu elektrisch in den Boden versenken lassen. Aber die Villa Tugendhat ist eben ein Schloß und Verschwendung gehört immer zu einem solchen.

Mit der Transparenz des Wohngeschosses öffnet sich die Villa Tugendhat der Stadt. Man hat von dort perfekte Blicke über das Zentrum von Brno, die Festung Špilberk liegt auf einem anderen Hügel fast direkt gegenüber. Doch es ist eine einseitige Öffnung, denn von der Stadt aus kann man die Villa nie sehen. Sie ist also kein Schloß mehr, das der Machtdemonstration dient, sondern ein Lustschloß, von dem aus die Stadt, die Landschaft, die ganze Welt zur Kulisse wird. Am engsten ist sie daher mit dem Schloß Belvedere in Wien verwandt, das zu seiner Stadt dasselbe einseitige Verhältnis hat.

Neben der Lage sind es paradoxerweise gerade die Formen, die die Villa Tugendhat zum Schloß machen. Ihre radikale Reduziertheit und ihr Verzicht auf jede historische oder sonstige Verzierung waren nicht zuletzt ein perfektes Mittel, sie von den Gebäuden, in denen das Volk lebte, zu unterscheiden. Das hatten die Villen des 19. Jahrhunderts nie gehabt, da auch die Mietskasernen des Volks ähnliche historistische Formen hatten. Echte Schlösser aber sahen immer völlig anders aus als die Hütten des Volks.

Im Unterschied zu den Schlössern der Vergangenheit wurde die Villa Tugendhat nicht in stabile gesellschaftliche Verhältnisse hineingebaut. Sie fand Nachahmer, aber Schlösser wurden die keine mehr, da sich auch die Welt wandelte und das ostentativ Neue allgegenwärtig wurde. Die Villa Tugendhat wurde vielleicht das letzte Schloß überhaupt. Sie war das zeitgemäße Schloß für eine Zeit, die keine Schlösser mehr haben sollte.

Indem die fortschrittliche Architektur hier für den Schloßbau verwendet wurde, verlor sie ihren fortschrittlichen Inhalt, der weniger in diesen oder jenen Formen bestand, als darin, günstigen und guten Wohnraum für alle zu schaffen. Die Villa Tugendhat löste wie gesagt ein Problem, das nur für die Kapitalistenklasse bestand: wie sich zeitgemäß schmucklose Architektur genauso luxuriös und teuer gestalten ließe wie die überkommene ornamentale Architektur. Es ist schwer, von der Qualität dieser Lösung nicht beeindruckt zu sein. Aber die besten Architekten arbeiteten damals an einer Architektur für eine neue Zeit, eine Zeit ohne Schlösser und Villen. Das Wichtigste und Fortschrittlichste an der Villa Tugendhat waren denn die Anregungen, die sie, etwa durch den freien Grundriß, dieser Architektur gab. In dem Maße, wie die wirklich fortschrittliche Architektur des Sozialismus und des in Reaktion auf diesen entstandenen Wohlfahrtsstaats die Welt zu verändern begann, wurde die Villa Tugendhat zu einem schönen, aber etwas bizarren Relikt.

Was mit dem Gebäude der Villa Tugendhat selbst geschah, war fast egal. In der sozialistischen Tschechoslowakei diente sie unter anderem als Tanzschule, wofür die Räume sich gut eigneten, heute ist sie, wie oben beschrieben, ein aufwendig renoviertes Denkmal, das für immer ein idealisiertes 1930 sein will. Sie kostet teuren Eintritt und über die Marmorböden darf man nur mit Pantoffeln gehen. Ganz wie in einem Schloß also.

Traumhäuser

Niemals will ich in einem Einfamilienhaus leben. Die Ablehnung dieser kleinbürgerlichen Wohnform ist eine meiner architektonischen Grundüberzeugungen. Aber wenn ich müßte, dann wollte ich als mein Einfamilienhaus etwas wie dieses:

BreitenseerStraßeMaroltingergasse

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Ein kleines vorstädtische Mietshaus an der Bushaltestelle, verloren an der Grenze von 14. und 16. Bezirk zwischen der großen Maroltingergasse, einem Hofer-Supermarkt und enormen Kasernenanlagen, die langsam verfallen. Es ist so ein Haus, wie man es in jeder im 19. Jahrhundert großgewordenen Stadt findet, es ist versinnbildlichte Vorstadt, Banlieue. Nicht zufällig findet man es im vielleicht besten Comic über Architektur und Starkult, „Dolores“ von Anne Baltus und François Schuiten und Benoît Peeters, wieder und so regengrau wie dort sollte der Himmel darüber immer sein.

Aus Baltus, Anne/Schuiten, François/Peeters, Benoît: Dolores, Tournai 1991

Aus Baltus, Anne/Schuiten, François/Peeters, Benoît: Dolores, Tournai 1991

Es ist ein Haus für das Aufgeben, für die Resignation, fürs Exil, ein Ort, vor dem niemals das Auto einer Schauspielerin eine Panne haben wird.

Ein Haus fürs Leben aber, ein Ferienhaus, eine Datsche wie ich sie für ein paar Sommertage mit Freunden durchaus nicht ungern hätte, sollte aussehen wie dieses in Eckartsberg bei Zittau:

HausEckartsberg

Dank an Paul Lamplugh für dieses und das folgende Bild

Ein ganz simpler kleiner Bau, perfekt in den Hang gesetzt, so daß er von unten zweigeschossig, von oben flach ist. Es besteht eigentlich nur aus der großen Terrasse um das zweite Geschoß, nur wie ergänzend kommen die gemusterte Glasbetonwand rechts vorm Erdgeschoß, die sich in der Terrassenbrüstung verändert fortsetzt, und der abgesetzte rotbatbacksteinerne Kamin links hinzu. Selbst an der Inneneinrichtung der ganz nach außen gerichteten Räume müßte nichts verändert werden.

EckartsbergInnen

Gemein ist beiden Häusern nur, daß sie so leicht zu übersehen sind. Die Datsche steht verlassen auf dem Gelände einer riesigen historistischen Villa, deren westdeutsche Hausherrin sie niemals wirklich sehen können wird und nur zu sagen wußte, sie habe der „Stasi“ gehört. Ob das stimmt, ist schwer zu sagen, aber wenn sie einst Tschekisten zur Sommerfrische gedient hätte, machte sie das nur noch schöner.

Doch wirkliche, realere Träume sind in Wohnungen besser aufgehoben.

Einkaufen in Bratislava: Obchodné Centrum Central

(siehe auch Obchodný Dom Prior und Tržnica)

Im restaurierten Kapitalismus setzte sich der Stolz auf die Versorgungsbauten, der den Sozialismus so geprägt hatte, in den Ländern Osteuropas ungebrochen fort. Er wurde allerdings zur kindischen Illusion, man habe nun all das, was die kapitalistischen Staaten des Westens schon lange hatten und sicherlich werde man auch bald deren Lebensstandard erreichen. Nicht mehr Teile städtischer Räume, wie das Kaufhaus Prior oder die Markthalle, waren diese neuen Versorgungsbauten, sondern nur noch ortlose Hüllen. Zuerst entstanden die Hypermarkets an den Randen der Städte, dann, nachdem sich wohlhabendere kleinbürgerliche Schichten, die sich einen lifestyle leisten konnten, herausgebildet hatte, innenstädtische Einkaufszentren.

Ein solches ist das Obchodné Centrum (Einkaufszentrum) Central in Bratislava, das Ende 2012 eröffnet wurde. Teil der Blockrandbebauung, die Fassade und die beiden darüber aufragenden Hochhäuschen in gerade modischen Formen – es könnte auch überall anders sein, nichts an ihm verrät Interesse an seiner Umgebung oder an irgendetwas anderem als eben daran, Kunden in sein Inneres zu locken. Auch dort ist alles, wie man es erwarten kann. Gegenüber des Haupteingangs erlaubt eine ovale Öffnung Einblicke in alle drei Verkaufsebenen und bis zum Glasdach, das sich über eine vierte Ebene spannt.

CentralOval

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Man findet hier alle der neusten Moden der Einkaufszentrumsarchitektur: um die Öffnung stehen Geländer aus zwei gekreuzten Reihen von Metallstreben und breiten Holzbrüstungen wie es sie auch im Einkaufszentrum MyZeil in Frankfurt am Main gibt und das Glasdach hat eine amorph gewellte Struktur wie sie zuerst beim Einkaufszentrum Złote tarasy im Zentrum Warschaus verwendet wurde.

Erst, wenn man sich auf die oberste Ebene, wo der Food Court ist, begibt, wird man überrascht:

CentralFoodCourt

jenseits des Glasdachs erstreckt sich ein ausgedehnter Dachgarten.

CentralDachgarten

Das ist selbstverständlich auch nicht mehr als Ausdruck einer Ökomode, aber es gibt dem Einkaufszentrum ein Potential. Der Dachgarten könnte ein öffentlicher Ort werden statt der schlechten Imitation eines solchen, die er momentan ist. Dafür müßte bloß zusätzlich zur Blickverbindung eine praktische zur umliegenden Wohnbebauung geschaffen werden. Platz genug für eine Treppen- und Rampenanlage, die eine wirkliche architektonische Aufgabe wäre, gäbe es, nebenan sind nur Sportplätze.

CentralBlickVomDachgarten

Das wird unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen nicht geschehen, aber daß es geschehen könnte, zeigt, daß auf das nach innen gerichtete Einkaufszentrum, die Mall, einer sozialistischen Architektur dienen könnte, ganz wie das Kaufhaus vor ihm.

Albertina oder Der Sieg des Kapitalismus über den Feudalismus

„Franz Josef I. der Stadt Wien 1869“, steht an der Terrassenebene, die vor einer Schmalseite des barocken Albrechtspalais‘ nach vorne ragt. Sie ist eine Umgestaltung alter Festungsanalgen, denen das Palais seine erhöhte Lage verdankt. Ihre Formen sind eher schlichte Neorenaissance. In seitlichen Nischen stehen schlechte steinerne Allegorien österreichischer Flüsse und in der Mitte ist der große Albrechtsbrunnen.

Albertina

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Nun wird man kaum so naiv sein, zu meinen, ein Herrscher mache seiner Hauptstadt uneigennützige Geschenke; vielmehr ist diese Terrasse eine Machtdemonstration des Feudalismus. Schon 1869 hat diese wohl nicht mehr funktioniert. Direkt gegenüber der Terrasse nahm schon 1869 der riesige Klotz der Oper den freien Raum, den dieser in die Stadt getriebene feudalistische Keil um sich bräuchte, ein.

BlickAlbertinaOper

Nach und nach wurden die umliegenden Gebäude durch neue ersetzt, riesige Büro- und Wohnpaläste wuchsen in die Höhe, weit höher als die Terrasse und auch höher als das Palais auf ihr. Der Keil blieb gänzlich wirkungslos, der Kapitalismus besiegte den Feudalismus.

Heute sieht man die Terrasse von nirgendwoher mehr richtig und auch von ihr aus sieht man nichts weiter. Steht man dort oben, fühlt man sich kaum mehr oben. Viel höher auch als Reiterstandbild eines Feldherren erhebt sich das Logo der Riunione Adriatica di Sicurità.

AlbertinaRiunioneAdriaticaDiSicurità

Und zweifelsohne trugen Triester Versicherungsgesellschaften im späten 19. Jahrhundert mehr zum Ruhm Österreichs bei als sein notorisch erfolgloses Heer.

Im Albrechtspalais ist heute das berühmte Museum Albertina, als dessen Eingang vor einiger Zeit ein langes freischwebendes Vordach schräg durch die Terrassenebene gesetzt wurde. Dekonstruktive Architektur wird dieser sogenannte Soravia Wing vielleicht genannt, doch die entscheidende Dekonstruktion der feudalistischen Architektur hatte der siegreiche Kapitalismus schon viel früher erledigt. Gegen die Rolltreppe immerhin, die unter ihm hinauf führt, hätte der Kaiser 1869 sicher nichts einzuwenden gehabt.

Letohrad

Letohrad ist ein Ort, der ganz von seinem Schloß bestimmt wird. Das soll aber nicht heißen, daß er etwa im Schatten eines erhöht gebauten Schlosses liege oder als Achse auf ein Schloß zuführe. Bloß, wenn man durch das Tal der Tichá Orlice nach Letohrad kommt, wird man zuerst das Schloß sehen. Etwas höher am Hang hinter einer großen Terrassenebene steht es, ein dreigeschossiger Barockbau mit mittigem Dachreiter, der durch dicke schräge Stützen bei den Ecken einen älteren Ursprung verrät.

Doch sobald man die nur geringe Steigung zum Platz hinaufgegangen ist, kann man das Schloß beinahe übersehen. Viel wichtiger für den langen rechteckigen Platz, um den zweigeschossige Häuser, teils mit Arkaden, stehen, ist die reichgeschmückte Pestsäule in seiner Mitte und die breite Fassade der barocken Kirche auf seiner linken Seite.

LetohradKircheKapelle

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Das Schloß steht ganz bescheiden neben der Kirche in einer Ecke des Platzes, es braucht sich nicht in den Vordergrund zu drängen, denn es weiß sehr gut, daß der ganze Ort, Platz, Häuser, Pestsäule, Kirche, nur wegen ihm existieren, nur für es da sind. Erst nach dem zweiten Weltkrieg auch bekam der Ort den schönen Namen Letohrad (léto heißt Sommer, hrad Burg, wobei der Diminituv letohrádek auch ein sinniger Name für ein Lustschloß ist), vorher hieß er nach einer alten Burg Kyšperk oder eher noch Geiersberg, da die Adelsfamilie, ob sie nun gerade Cavriani, Nimptsch oder Stubenberg hieß, deutsch war.

LetohradSchloßKirche

Das Schloß besteht aus dem genannten dreigeschossigen Teil, der quer zum Platz steht, einem niedrigen zweigeschossigen Eingangs- und Verbindungstrakt mit Arkaden und einem wiederum querstehenden höheren zweigeschossigen Trakt. Sobald man durch den, eher bescheidenen Eingang des Schlosses tritt, ist man in einer anderen Welt. Das streng rechtwinklig gegliederte Gartenviereck zwischen den drei Flügeln öffnet sich als großer Landschaftspark, der sich den Hang hinaufzieht.

LetohradSchloßhofPark

Vom Schloßgarten führt eine Brücke über eine der Dorfstraßen in den Park, sie ist wie ein Symbol für die absolute Trennung zwischen dem Leben des Volks und dem der Adelsfamilie. Im Park wechseln sich Gruppen alter Bäume mit Wiesen, die Blicke auf wohlplazierte Skulpturen freigeben. Auch eine künstliche Grotte und, ganz oben in der Ecke, eine Laube gibt es selbstverständlich.

Den schieren Kontrast zwischen dem Platz und der privaten Idylle des Parks zu erleben, hilft mehr als ganze Bücher, zu verstehen, was der Feudalismus war. Aber ganz begreifen wird man doch nie, daß ganze Generationen in Geiersberg lebten, ohne jemals den Park zu betreten. Zumindest versuchen sollte man es, um ein wenig zu ahnen, was es hieß, als die Adelsfamilie 1945 enteignet und ausgesiedelt und der Ort zu Letohrad wurde. Heute kann jeder durch das Tor des Schlosses treten und auch die Mauern um den Park haben viele Durchgänge. Heute dient das Schloß dem Ort statt andersherum.

Ein weiteres Gebäude sieht man vom Letohrader Marktplatz aus, hoch oben auf dem Hügel (zu erkennen auf einem Bild weiter oben), und man könnte es zuerst gut für eine Burg halten. Man kommt dorthin, wenn man am Park entlang hügelan geht. Dort beginnt eine Lindenallee, die noch etwas ansteigt und dann lange einen schmalen Grat, von dem es zu beiden Seiten tief hinabgeht, entlangführt.

LetohradKapelle

Bevor die Allee aber recht beginnen kann, wird sie von dem Gebäude unterbrochen, das mit einem massiven Sockel direkt in diesen Grat gesetzt ist und so weit breiter als dieser ist. Es hat einen fünfeckigen Grundriß, so daß man sich von Letohrad aus einer geraden Mauer, von außerhalb aber einer Mauerspitze nähert. Noch immer haben die schmucklosen Mauern, die Türmchen in den Ecken, etwas Wehrhaftes, etwas von einer Burg. Aber tatsächlich ist es eine barocke Kapelle, wie die zierlichen Hauben der Türmchen und die Kuppel in der Mitte und auch schon die ungewöhnliche fünfeckige Form verraten. Sie heißt Kaple sv. Jana Nepomuckého (Johannes-Nepomuk-Kapelle) und man kann nicht umhin, ihre fünf Ecken mit den fünf Sternen, die Johannes von Nepomuk traditionell in seinem Heiligenschein hat, in Verbindung zu setzen. Sie ist ein paradoxes Gebäude. Sie steht außerhalb des Orts, ist aber zugleich Teil von ihm. Sie stört die Lindenallee, ist aber zugleich Teil von ihr. Sie ist wehrhaft, abweisend, aber zugleich durch ihre öffentliche Funktion, einladend. Vielleicht paßt sie gerade dadurch gut nach Letohrad.

Einkaufen in Bratislava: Tržnica

(siehe auch Obchodný Dom Prior und Obchodné Centrum Central)

Eine Art von Versorgungsbauten wurde in den sozialistischen Staaten weit länger gebaut als im Westen: Markthallen. Inwieweit diese als Orte, wo individuelle Kleinproduzenten ihre Waren individuell feilbieten, damit sie von individuellen Käufern individuell zubereitet werden, Ausdruck des Sozialismus sein können, ist eher fraglich, zweifelsohne waren sie aber Ausdruck eines bestimmten Zustands des Sozialismus.

Auch Bratislava bekam in den frühen Achtzigern eine neue Markthalle, eine Tržnica.

Tržnica

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Ganz im Unterschied zum Kaufhaus Prior, das so eng in den städtischen Raum eingepaßt ist, steht sie ganz für sich da, ohne Bezug zur Umgebung, fast nicht mal zu den Straßen, sehr viel Platz um sich, ohne daß klar wäre, wofür sie den braucht. Nur weil sie so seltsam separiert steht, bemerkt man sie vielleicht, denn sie ist ein denkbar einfaches Gebäude. Ein langes Rechteck mit abgerundeten Ecken, auf dem sich die ganz aus spiegelnde Glas und einem Raster dünner Streben bestehenden Außenwände erheben. Oben gehen sie mit den vertikalen der Streben in ein abgeschrägtes rotes Dach über. Sonst fallen an der Tržnica nur noch oben gebogene rote Lüftungsrohre, die in Reihen aus dem Dach und aus dem Boden neben ihr ragen, auf und die Vordächer, die den Eingängen neben den Gebäudeenden auf der jeweils gegenüberliegenden Seiten vorgesetzt sind. Auf eine einzige mittige Stütze, die zugleich Lüftungsschacht ist, balanciert, ragen sie als große Quadratflächen weit von der Halle weg und auf ihrem Rand steht in großen gelben Buchstaben „Tržnica“.

Über Stufenanlagen, die sich um die geschwungene Ecke legen, gelangt man hinein. Sofort wird alles klar. Die Tržnica ist kein Gebäude, das in die Stadt hinauskommt, sondern eines, das sie zu sich hinein holt. Die Außenwände und das Dach, merkt man, haben keinerlei tragende Funktion, sondern legen sich nur locker um das eigentliche Gebäude. Sie werden getragen von Pfeilern und schrägen Streben aus Beton, während die meisten horizontalen Streben aus Holz sind. Die enorme Transparenz, die man von außen nicht ahnt, dient dazu, die Stadt so vollständig wie möglich ins Halleninnere zu holen.

TržnicaAusblick1

Dieses Innere wird gebildet von zwei langgezogenen dreigeschossigen Gebäuden, die parallel zueinander stehen, so daß drei Einkaufsstraßen entstehen. Doch das Dach erstreckt sich weiter als diese inneren Gebäude, so daß an den Enden Platz bleibt für zwei große Plattformen, die auf der Höhe des zweiten Geschosses fast schweben. Sie bieten großartige Panoramablicke in die Stadt hinaus

TržnicaAusblick2

und sind der Zugang zu der Galerie, die sich beidseits um den mittleren und größten Gang legt.

Wie das Dach zeigen auch die inneren Gebäude betonklar, wie sie gebaut sind, haben aber stellenweise auch dunkelrote Kachelverkleidung. Durch den Luftraum der Halle ziehen sich Lüftungsröhren, die die Farben, Grau, dunkles Rot und fast schwarzes Braun, um ein kräftiges Orange ergänzen. Zum mittleren Gang, der von der Transparenz wenig hat, ragen noch über den Röhren große hohe Betonzylinder aus dem Dach herab, in jedem von welchen ein Kreis aus sechs runden Fenstern ist, die ihr Licht nach unten schicken.

Aus Vyskočil, Kamil: Bratislava, Bratislava 1989

Aus Vyskočil, Kamil: Bratislava, Bratislava 1989

Die Tržnica ist, ganz wie das Kaufhaus und auf ganz andere Art, ein makelloses Gebäude. Sie ist Bratislavas Centre Pompidou, kehrt ihre Funktionsweise aber weniger ostentativ hervor. Sie ist eine perfekte Illustration zu Karel Teiges schöner Bemerkung, Gebäude müßten ihre Konstruktion ja auch nicht stärker zeigen als menschliche Körper das tun. Und ein Körper ist die Tržnica. Das Dach und die Glasfassade sind die Haut, die inneren Gebäude sind Knochen und Organe. Die Menschen, die dort arbeiten und einkaufen, ihr Blutstrom, zirkulieren so rege wie eh und je und halten sie am Leben.

Macht man heute ein Bild etwa von derselben Stelle wie das obige, sieht man bloß etwas weniger Betrieb und deutlich mehr Weinläden.

TržnicaMittelgangAktuell

Im Juni 2014 sieht man dort zudem in der Mitte eine lila Hand mit übergroß ausgestrecktem Mittelfinger, mit dem der Tscheche David Černý zeigt, was er von all jenen hält, die keine antikommunistischen Staatskünstler sind oder nicht sofort einsehen, wieso man solche brauche. Aber diese Beleidigung genau wie die gesamte Kunstaktion „Tutti Frutti“, die eine gute Idee wäre, wenn die gegenwärtige Kunst nicht so wäre wie sie ist, ist der Tržnica und ihren Nutzern reichlich egal.

Die Konvergenztheorie in Meyers Neuem Lexikon

Wenn man durch Meyers Neues Lexikon aus den Siebzigern, die größte in der DDR erschienene Enzyklopädie, blättert, ist beim Eintrag zu vielen Städten ein Beispiel moderner Architektur abgebildet, ein Hotel, ein Regierungsgebäude, ein Theater, ein Stadion.

Aus Meyers Neues Lexikon: Band 14, Tribu - Walth, Leipzig 1976

Aus Meyers Neues Lexikon: Band 14, Tribu – Walth, Leipzig 1976

Es ist dabei egal, wo die Stadt liegt, nur manchmal bieten Berge im Hintergrund oder Palmen im Vordergrund einen kleinen Hinweis, und es ist egal, ob der erbauende Staat kapitalistisch oder sozialistisch, Teil der ersten, zweiten oder dritten Welt war.

Aus Meyers Neues Lexikon: Band 9, Lyna - Nazor, Leipzig 1974

Aus Meyers Neues Lexikon: Band 9, Lyna – Nazor, Leipzig 1974

Ein einzelnes Gebäude kann nie etwas über eine Stadt aussagen, aber es genügt, diese Bilder zu betrachten, um nachvollziehen zu können, wieso es einmal eine Konvergenztheorie gab, die besagte, daß die technologische Entwicklung zur Angleichung der Lebensverhältnisse in den sozialistischen und den kapitalistischen Ländern führen werde.

Aus Meyers Neues Lexikon: Band 6, Guada - Isost, Leipzig 1973

Aus Meyers Neues Lexikon: Band 6, Guada – Isost, Leipzig 1973

Das war selbstverständlich nie wahr und auch ihre Vertreter glaubten es hoffentlich nie ernsthaft. Die Konvergenztheorie war bloß eine Waffe gegen den Sozialismus, denn welchen Sinn sollte die soziale Revolution noch haben, wenn eh alles eins wird?

Aus Meyers Neues Lexikon: Band 3, Cajam - Drent, Leipzig 1973

Aus Meyers Neues Lexikon: Band 3, Cajam – Drent, Leipzig 1973

Heute ist diese Waffe gänzlich unnütz geworden. Die gegenwärtig beliebteste Waffe nicht mehr gegen den lebendigen Körper, sondern gegen die Leiche des Sozialismus ist die Totalitarismustheorie, die besagt, daß jeder Versuch, eine Gesellschaft grundsätzlich umzugestalten, nach Auschwitz führt.

Aus Meyers Neues Lexikon: Band 9, Lyna - Nazor, Leipzig 1974

Aus Meyers Neues Lexikon: Band 9, Lyna – Nazor, Leipzig 1974

Wenn man sich ansieht, mit wieviel Wut auf die Leiche des Sozialismus eingedroschen wird, kann man sich fragen, ob seine Feinde nicht mehr Angst haben, es könnte doch noch etwas Leben in ihm sein, als seine Freunde die Hoffnung darauf. Vielleicht wissen die anderen mehr als wir.

Aus Meyers Neues Lexikon: Band 11, Plück - Rüsse, Leipzig 1975

Aus Meyers Neues Lexikon: Band 11, Plück – Rüsse, Leipzig 1975

Nachstehend jedenfalls der Wortlaut des Eintrags zur Konvergenztheorie in Meyers Neuem Lexikon. Zur Totalitarismustheorie gibt es keinen, da diese in den Siebzigern bestenfalls unter sehr überzeugten Rechtsradikalen Anhänger hatte.

Konvergenztheorie [<lat. + griech.]: 1. bürgerliche Theorie, die fälschlich das Bestehen von Annäherungstendenzen zwischen Kapitalismus und Sozialismus behauptet, die aus dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt folgen sollen; reaktionärer, pseudowissenschaftlicher Versuch bürgerlicher Apologeten, die nach dem 2. Weltkrieg eingetretenen und sich ständig zugunsten des Sozialismus entwickelnden Veränderungen der Welt «neu» zu deuten. Nach der K. sollen sich die Ähnlichkeiten zwischen den Systemen ständig verstärken, die Unterschiede im Ergebnis dessen immer mehr abgebaut werden, und schließlich würden sie zu einem sozialökonomischen System gemischten Typus verschmelzen. Die K. besteht in 2 Varianten, der ökonomischen und der sozialen Variante. Während erstere nur die Annäherung und Überwindung der Unterschiede auf ökonomischem Gebiet beinhaltet, geht die zweite weiter. Sie umschließt auch die Annäherung und Überwindung der Unterschiede sowohl auf ökonomischen als auch auf politischen und allen anderen gesellschaftlichen Gebieten. Charakteristisch für alle Vertreter der K. ist ihre technizistische und formale Denkweise und das damit verbundene undifferenzierte Herangehen an die gesellschaftlichen Erscheinungen und Prozesse. Die grundsätzlichen qualitativen Unterschiede in den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen beider Systeme und die Wirkung der objektiven gesellschaftlichen Gesetze werden ignoriert. – Die K. ist nichts anderes als der längst überholte Versuch, das reaktionäre imperialistische System in die Zukunft hinüberzuretten, wobei, wie Buckingham schrieb, solche Eckpfeiler des Kapitalismus wie das Privateigentum, der Profit und der Markt (d.h. die Konkurrenz als Hauptmechanismus der Wirtschaftsregelung), beibehalten werden sollen. Das Bemühen, dem Kapitalismus dabei Merkmale des Sozialismus zuzuschreiben, ist die ungewollte Anerkennung der Stärke und Lebensfähigkeit des Sozialismus.

(Meyers Neues Lexikon: Band 8, Konra – Lymph, Leipzig 1974)

Nagy Hüte

In der Nußdorfer Straße in Wien nebeneinander die alte und die neue Filiale von Nagy Hüte, Anfang 2014.

ZweimalNagy

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Die alte groß (nagy heißt groß) und großzügig, über einem kleinen Vordach mit Markise in serifenlosen Leuchtbuchstaben der Name, unten geräumige transparente Schaufenster, hinter denen die Tür weit zurückgesetzt ist. Die neue klein, der Name in schwarzer Serifenschrift auf gelbem Grund gedruckt, die Schaufenster eine höhnische Version jener nebenan.

Welch ein Abstieg! Die alte Filiale aus den Siebzigern bemüht sich noch, der Kette, die auch schon damals hoffnungslos in der k.u.k.-Zeit zurückgeblieben gewirkt haben mußte (der ungarische Name! Hüte!), ein modernes Antlitz zu geben, die neue will gar nichts mehr, sie hat aufgegeben und scheint schon zu wissen, daß sie in ein paar Jahren nicht mehr existieren wird.

Aber einen entsprechenden Abstieg hat ja die ganze Welt seit den Siebzigern erlebt.

NagyBretter

Einkaufen in Bratislava: Obchodný Dom Prior

(siehe auch Tržnica und Obchodné Centrum Central)

Gebäude für die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern gehörten in den sozialistischen Staaten zu den wichtigsten und prestigeträchtigsten Bauaufgaben. Sie waren Symbol für die allgemeine Verbesserung des Lebensstandards, die seit den Sechzigern das höchste Ziel war. Oft herrschte auf sie ein Stolz, der heute, in einer Zeit, wo viele Linke sich etwas Dekadentem wie Konsumkritik hingeben, unverständlich erscheinen mag.

Die Königsdisziplin war das Kaufhaus. Diese im Kapitalismus des späten 19. Jahrhunderts entstandene Form eignete sich für den Sozialismus auch vorzüglich, da sie all die Waren und Dienstleistungen, die vorher kleinbürgerliche Händler in ihren Läden angeboten hatten, in einem Gebäude zentralisierte und ihren Verkauf rationalisierte.

Auch in der slowakischen Hauptstadt Bratislava wurde so zwischen 1964 und 1968 ein großes Kaufhaus der Marke Prior errichtet. Es befindet sich in der Altstadt, die hier aber wenig alt wirkt, weil die gesamte Umgebung mehr von Kapitalismus der ungarischen und vor allem der erstrepublikanischen Epoche geprägt ist. Inmitten dieser zusammengewürfelten Beliebigkeit, an der hier auch einige Gebäude aus sozialistischer Zeit nichts ändern, sticht der Gebäudekomplex, zu dem das Kaufhaus gehört, als das ganz Neue heraus.

Aus Vyskočil, Kamil: Bratislava, Bratislava 1989

Aus Vyskočil, Kamil: Bratislava, Bratislava 1989

Kamenné námestie (Steinplatz) heißt der kleine, mit runden Beetflächen gestaltete Platz davor und man könnte meinen, er trage ihn zu Ehren des Kaufhauses. Denn was man an ihm zuerst bemerkt, ist seine weiß-grau gesprenkelte Steinverkleidung, die noch heute so makellos wirkt wie vor bald fünfzig Jahren. Entlang der Straße erstreckt sich ein langer zweigeschossiger Bau mit rechtgeschossigem Grundriß. Sowohl Erdgeschoß als auch Obergeschoß sind vollständig verglast, aber dieses zweite ist über dem ersten ein wenig vorgesetzt und ist wie gerahmt zwischen einem schmaleren unteren und einem breiteren oberen Streifen der steinernen Verkleidung. Am anderen Ende erhebt sich quer über diesem Baukörper das fünfzehngeschossige Bettenhaus des Hotel Kijev. Seine Breitseiten bestehen ganz aus Fensterbändern und brauner Verkleidung, während an den Schmalseiten von Neuem die Steinverkleidung verwendet wurde. Im zweigeschossigen Bau, der an einer Stelle von einer Passage durchquert wird, befinden sich zuerst kleinere Geschäfte und dann der Eingangsbereich des Hotels. Direkt am Kamenné námestie steht rechts dieses Bau viergeschossig das eigentliche Kaufhaus, das einen dreieckigen Grundriß hat. Über dem verglasten Erdgeschoß ist es fast völlig in Stein verkleidet, bloß neben den jeweils weit überstehenden Ecken und einem vorgesetzten Treppenhaustrakt gibt es weitere Glasflächen.

PriorTreppe

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Damit ist der Komplex auch schon fast beschrieben, so schnörkellos ist er, so sehr zieht er seine Wirkung einzig aus seiner eleganten Verkleidung und der Klarheit seiner Formen.

Wie bewußt hier geometrische Grundformen wie das Dreieck und das Rechteck verwendet wurden, sieht man auch daran, daß sich ihnen für die Deckenverkleidung im Kaufhaus noch Sechsecke hinzugesellen.

PriorDecke

Doch das ist nicht nur ästhetische Spielerei. Mit seinem dreieckigen Grundriß etwa fügt sich das Kaufhaus perfekt in den schrägen Verlauf der rechts am Platz vorbeiführenden Straße ein. Die Mietshäuser aus der ersten Republik, die im weiteren Verlauf der Straße stehen, werden dann durch die Freiräume rechts des langen Baus von ihren Hinterhöfen befreit.

Aus Československo, Praha/Bratislava 1988

Aus Autorenkollektiv: Československo, Praha/Bratislava 1988

Der lange Bau selbst folgt einfach der linken Straße, aber dadurch, daß er weit von ihr zurückgesetzt und nur zweigeschossig ist, läßt er der älteren Bebauung auf der anderen Straßenseite, zu der eine klassizistische und eine barocke Kirche gehören, respektvoll Raum. Von einer Gedenktafel an einem Teil ersterer Kirche blickt so der „Komponist und Humanist“ Béla Bartók, der dort von 1894 bis 1908 lebte, zum Hotel Kijev.

BartókKijev

Links des Baus, parallel zur Straße, führt eine breite Rampe vom Platz empor zu einer kleinen Terrasse vor dem Obergeschoß und von der anderen Seite eine Treppe. Mit den Öffnungen in den Stützen dieser Terrasse, die anderswo auch als selbstständige abstrakte Kunstwerke stehen könnten, kommt als weitere geometrische Grundform der Kreis hinzu.

PriorRund

Schon von dieser Terrasse und mehr noch von der Dachterrasse kann man erleben, wie gelungen dieser Komplex seine neue Architektur und die umgebene ältere in einen neuen Zusammenhang setzt.

Dort, wo eine breite Treppe aus dem Obergeschoß auf die Dachterrasse führt, spannt sich ein Vordach. Vier runde Betonstützen, die sich oben zu einer nach außen sehr leicht ansteigenden quadratischen Fläche verbreitern, sind hier zusammengestellt und die schmalen Zwischenräume mit Glasdächern verbunden. Entsprechende Betonelemente finden sich außerdem zwischen dem zweigeschossigen Bau und dem Kaufhaus, wo zwei aufeinandergesetzt die verglaste Verbindungsbrücke tragen, und am anderen Ende des Baus vor dem Eingang des Hotel Kijev, wo eines als Vordach dient.

Eine kleine Extravaganz leistet sich der Komplex einzig in einer großen Uhr mit mehreren Reihen vorgehängter Glocken über dem platzseitigen Eingang des Kaufhauses,

Aus Vebr, Jaroslav: Soudobá architektura ČSSR, Praha 1980

Aus Vebr, Jaroslav: Soudobá architektura ČSSR, Praha 1980

doch selbst diese hat ja eine praktische Funktion und wächst aus der Steinverkleidung gleichsam heraus.

Aus Pechar, Josef: Československá architektura, Praha 1979

Aus Pechar, Josef: Československá architektura, Praha 1979

Auf einem dreieckigen Stein vor dem Komplex, der außerdem noch dessen Grundriß

PriorGrundriß

und das Logo von Prior trägt,

PriorLogo

kann man den ganzen Stolz der Stadt über ihr Kaufhaus in Worte gefaßt lesen:

PriorText

„Kaufhaus auf dem Kamenné námestie, errichtet in der Hauptstadt der Slowakei zum fünfzigsten Jahrestag der freien tschechoslowakischen Republik als Symbol der kulturellen Entwicklung der slowakischen Nation und als Zeugnis der schöpferischen Fähigkeiten unseres Volks und Ausdruck seiner Sehnsucht nach einem erfüllten Leben in einer besseren Welt, zu welcher die gemeinsamen Anstrengungen unserer Hände und unseres Geistes hinstreben.“

Zu den Kiewer Tagen im September 1977 wurde der Platz dann in Kijevské námestie (Kiewer Platz) umbenannt. Das wurde später wieder verändert, aber, Ausdruck des gerade im Vergleich zu seinen hysterischen tschechischen Nachbarn angenehm gelassenen Umgangs des slowakischen Staats mit seiner sozialistischen Geschichte, ein Gedenkstein daran steht nach wie vor auf dem Platz, dem im übrigen beide Namen gut stehen. Während das Hotel Kijev nicht mehr in Betrieb ist, ohne daß man es ihm ansieht, ist das Kaufhaus auch heute noch, nun von der britischen Firma Tesco betrieben, eine wichtige und beliebte Einrichtung im Zentrum von Bratislava. Bloß das Café auf der Dachterrasse gibt es nicht mehr, aber nach Lage der Dinge ist das eine vernachlässigbare Zerstörung.