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Lijnbaan

Rotterdam hatte Glück, nein, richtiger: Rotterdam hatte Glück im Unglück. Das Unglück war die völlige Zerstörung seines Stadtzentrums durch deutsche Bomben am 14. Mai 1940. Das Glück war das wiederaufgebaute Stadtzentrum: die Lijnbaan.

Ihre Struktur ist denkbar einfach. Eine breite ungefähr von Süden nach Norden verlaufende Fußgängerzone zwischen einheitlichen zweigeschossigen Gebäuden, die im Erdgeschoß Schaufenster und im Obergeschoß kleinere Fenster und vertikale Streben haben. Vor den Gebäuden sind Kolonnaden mit dünnen Stahlstützen und holzverkleideten Decken, die In regelmäßigen Abständen Querverbindungen zur anderen Seite bilden.

VordächerLijnbaanRotterdam

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Dazu kommen Beete, Bäume, Bänke und einige Kunstwerke. Bloß zwei Querstraßen unterbrechen die Abfolge dieser Elemente. Auf einem der querenden Vordächer am südlichen Beginn der Lijnbaan steht in großen gelb-grünen Buchstaben in einer nicht verschnörkelten, aber auch nicht bloß sachlichen kursiven Type ihr Name.

LeuchreklameLijnbaanRotterdam

Jeder Laden in Ost wie in West, der etwas auf sich hielt, hatte in den fünfziger Jahren eine ähnliche Leuchtreklame. Etwas wie die Lijnbaan aber gab es im Jahre 1953 nirgends auf der Welt.

Das ist es, was man sich bewußt machen muß, wenn man die Lijnbaan betrachtet: sie war einzigartig. Es gab nichts Vergleichbares. Eine lange und großzügige Einkaufsstraße mit einheitlicher Bebauung und ganz für den Fußgänger, ganz ohne Autos, eine Fußgängerzone. Das war neu, das war revolutionär, das war ein Kulminationspunkt eines halben Jahrhunderts fortschrittlicher Bestrebungen in Architektur und Städtebau. Und die Lijnbaan ist ja nicht irgendwo, sondern mitten in Rotterdam, der zweitgrößten Stadt der Niederlande und einer der wichtigsten Hafenstädte der Welt. Sie ist nicht nur diese Einkaufsstraße, sondern Kern von etwas Größerem.

In ihrem nördlichen Teil wird die Lijnbaan statt von einer Straße von einer identisch aufgebauten Fußgängerzone, der Korte Lijnbaan (Kurze Lijnbaan), gequert. Sie verläuft von West nach Ost auf das Stadhuis (Stadthaus) zu, das als eines der wenigen Gebäude die deutschen Bomben überstanden hatte.

KorteLijnbaanRotterdam

Im Kreuzungspunkt der beiden Fußgängerzonen steht eine Plastik sich balgender Bärenjungen,

BärenLijnbaanRotterdam

dann öffnet sich der Stadhuisplein (Stadthausplatz). So wie der Platz in zwei Stufen breiter wird, steigen die Bürogebäude an seinen Seiten in zwei Stufen auf vier Geschosse und dann auf sieben Geschosse an. Das Stadhuis ist dann jenseits der Straße Coolsingel, einer großen Verkehrsachse, die den von der Lijnbaan verbannten Autoverkehr aufnimmt. Zum Coolsingel hin, auf der gesamten östlichen Seite der Lijnbaan, stehen sehr vermischte Bürogebäude aus den folgenden Jahrzehnten. Einzig am Stadhuisplein sind sie in eine Ordnung gezwungen, wobei sie zwar verschiedene Fassaden haben, aber in den Bauvolumen identisch sind.

Das Stadhuis selbst ist ein monumentaler Neorenaissancebau, der aus dem späten 19. Jahrhundert stammen könte, aber perverserweise erst 1920 fertiggestellt wurde. Daß gerade dieses Monstrum, Ausdruck reaktionärster Architekturgesinnung, die Bomben heil überstand, gehört zu den bitteren Tatsachen der Zerstörung Rotterdams. Aber ein solch massiver Neubau hatte es eben einfacher als zierlichere und schönere Bauten des Zentrums, die erhaltenswert gewesen wären. Nicht um seiner selbst Willen, sondern als Symbol des Vorangegangen,so hassenswert es auch sein mag, keineswegs aber des Alten, mußte die Lijnbaan das Stadhuis trotzdem in sich aufnehmen. Sie tat gut daran, denn sie wächst durch den Kontrast weiter und zeigt wie weit Rotterdam in nur dreißig Jahren kam.

StadhuispleinLijnbaanRotterdam

In der Mitte des Stadhuisplein steht ein Denkmal für die Opfer der deutschen Bombenangriffe. Auf einem niedrigen Sockel vier überlebensgroße realistisch dargestellte Figuren. Während die beiden Männer zur Lijnbaan schauen, zu ihrem Aufbauwerk, von dem sie gerade auszuruhen scheinen, sind das Kind und die Frau zum Stadhuis gewandt. Es wirkt, als wundere sich das Kind über dieses Ding dort, wobei ihm die Frau in der Erklärung mit der Hand über den Kopf streichelt. Die Lijnbaan selbst ist eine Art gebauter Antifaschismus. An die Stelle dessen, was die Deutschen zerstörten, kam nicht etwa ein wiederhergestelltes Altes, sondern eine Neues, das in seiner Menschlichkeit die Antithese zur Naziarchitektur ist.

Das Neue, das ist insbesondere die Wohnbebauung westlich der Lijnbaan. Parallel zur Fußgängerzone erheben sich lange zehngeschossige Gebäude, während entlang der Querstraßen und der Korte Lijnbaan etwas kürzere vierzehngeschossige Gebäude stehen.

AertVanNesstraaatLijnbaanRotterdam

Ihre Formen unterscheiden sich jeweils leicht, aber alle haben sie dieses Spiel von großen, bis weit zum Boden reichenden Fenstern und Flächen aus hellem Backstein, Beton oder Putz, das für die beste niederländische Architektur der Zeit typisch ist.

ZumParkLijnbaanRotterdam

Auch die dritte Seite entlang der westlich parallel zur Lijnbaan verlaufenden Karel-Doormanstraat (Karel-Doorman-Straße) ist durch dreigeschossige Gebäude, Reihenhäuser gar, teils geschlossen, aber das merkt man kaum. Denn dazwischen sind üppige Grünflächen, die sich nach Südwesten öffnen.

ParkLijnbaanRotterdam

Sie sind mit Wiesen, Bäumen und Wasser abwechslungsreich gestaltet und zugleich Durchgangs- als auch Aufenthaltsflächen. Sie, kleine Oasen der Ruhe, ergänzen die geschäftige Einkaufsstraße. Sie gehören zusammen, beide öffentlich, beide dem Fußgänger vorbehalten, beide etwas Neues.

Es ist der westliche Bereich, durch den die Lijnbaan so wichtig wird. Gäbe es ihn nicht, wäre sie zwar gut, aber letztlich doch nur eine kapitalistische City, in der eben Auto- und Fußgängerverkehr getrennt sind. Doch mit der Wohnbebauung und den Grünflächen, die wertvollsten innerstädtischen Raum einnehmen, geht sie darüber hinaus. Durch diese große zusammenhängende Planung, in der Läden, Büros, Wohnungen, Freiflächen und Grün zu einem, man kann es nicht oft genug wiederholen, nie dagewesenen Ganzen zusammenfinden, wurde die Lijnbaan zum Vorbild einer ganzen Generation von Stadtplanern. Man spürt ihren Einfluß in jedem städtischen Raum, der in den nächsten Jahrzehnten gebaut wurde. Sie bekam Nachfolger, die besten in den sozialistischen Staaten, die sie, wie es Nachfolgern gebührt, oft übertrafen.

Perfekt ist die Lijnbaan auch bei Weitem nicht. Auch die fortschrittlichste Stadtplanung änderte nichts daran, daß Rotterdam eine dezidiert kapitalistische Stadt ist. Hinter den Ladengebäuden sind kleine Zufahrtsstraßen, britischen back alleys (Hintergassen) oder auch Hinterhöfen gleich, eng, schmutzig, dunkel, jedenfalls vergleichsweise, die Rückseite der Lijnbaan. Das war den technischen Möglichkeiten der Zeit geschuldet, die es noch nicht wirtschaftlich machten, Anlieferungsbereiche unterirdisch anzuordnen, aber dennoch schon bezeichnend. Auch der grünen offenen Höfe gibt es nur zwei und wo ein dritter sein könnte, sind ein Parkhaus und ein enger Hinterhof.

Vor allem jedoch hielt der Rest des wiederaufgebauten Rotterdam nie, was die Lijnbaan versprach. Alle Gebäude neu, auch keine klassischen Hinterhöfe mehr, aber immer Straßen und Straßenkreuzungen, die sich fälschlich Plätze nennen. Kaum hat man die Grünanlagen der Lijnbaan verlassen, ist man in Straßen, die nicht weniger beliebig sind als in jeder anderen kapitalistischen Stadt.

UmgebungLijnbaanRotterdam

Südlich der Lijnbaan wurde in den Sechzigern versucht, eine angemessene Fortsetzung zu bauen, aber sie endet bald diffus zwischen Kaufhausbauten. Alles spätere blieb Dekoration oder planloses Zubauen freier Flächen. Auch die eigentliche Lijnbaan, die Einkaufsstraße, blieb von all den Moden der Zeiten nicht unberührt. Die Vordächer sind nur noch selten annähernd original und fehlen manchmal ganz. Die Beete und viele Bänke sind verschwunden, die Bäume groß geworden.

Der etwas zurückgedrängte Kapitalismus eroberte sich die Stadt zurück. Auch der schönste Garten kann dem wuchernden Dschungel nicht standhalten. Das Schicksal der Lijnbaan entspricht damit dem der westeuropäischen Sozialstaatlichkeit. Aber noch immer wirkt die Lijnbaan so neu wie ihr gelber Schriftzug nun altmodisch wirkt. Noch immer überrascht die Offenheit und Großzügigkeit, weil man diese in kapitalistischen Städten sonst höchsten an den Rändern findet. Noch immer ist die Lijnbaan das Herz von Rotterdam. Sie war die erste und sie wird bestehen blieben, während vieler ihrer Nachfolgerinnen, die Prager Straße in Dresden etwa oder die Stadtpromenade in Cottbus, schon zerstört sind. Rotterdam hatte einmal mehr Glück.