Petterweil ist etwas Besonderes. Es ist vielleicht nicht besonders schön – weder die alte evangelische noch die neue katholische Kirche würde man, trotz manchen hübschen Details, groß beachten und weder die neuen Teile, die nur aus Einfamilienhäusern bestehen, noch die umgebauten alten Fachwerkhäuser des Ortskerns sind so interessant wie in anderen Dörfern der Wetterau – aber dafür ist es noch ein Dorf, das als Dorf statt nur als Vorort im Frankfurter Speckgürtel funktionieren kann. Es hat nicht nur Bäcker, Bankfiliale, Apfelweinkneipe etc., sondern auch mitten im Ort einen kleinen Nahkauf-Supermarkt, so daß man hier leben könnte, ohne auf ein Auto angewiesen zu sein.
Nun mag die Vorstellung, sein Leben auf Petterweil beschränkt zu führen, wie eingangs ausgeführt, erst einmal nicht sehr reizvoll erscheinen, doch daß die Möglichkeit dazu besteht, ist bereits ein Wert an sich. Petterweil erlaubt etwas, was in den meisten anderen Dörfern schlechthin unmöglich ist.
Petterweil liegt auch wirklich fernab von allem, an keinem der Bach- und Flußtäler und noch nicht beim nahen Taunus, weshalb seine Beifügung zur ohnehin vagen Gemeinde Karben in den Siebzigern keineswegs zwangsläufig war. Es würde gut passen, wenn es wie einige wenige hessische Orte, etwa Niederdorfelden, seine Selbständigkeit bewahrt hätte. Einen gewissen trotzigen Stolz Petterweils auf seine Sonderstellung kann man noch darin erkennen, daß es dem Besucher detailliert aus seiner Geschichte erzählt und sogar spurlos verschwundene Bauwerke wie das untere Tor mit grünen Informationstafeln versehen sind.
Und noch etwas hat Petterweil, was andere Dörfer nicht haben oder jedenfalls nicht gerne zeigen: eine demokratische Tradition aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als demokratisch gleichbedeutend mit revolutionär war. Sie ist verbunden mit der Person des Pfarrers Heinrich Christian Flick, nach dem heute eine Straße und das evangelische Gemeindezentrum heißen.
Sein Grab, dessen roter Sandstein und zinnenartiger Abschluß mit den weißen Wänden, dem Glas und dem schwarzen Sattelbach des Gemeindezentrumsanbaus kontrastieren, läßt bloß die tragische, aber für die Zeit normale Geschichte des Tods seiner jungen Frau in der Folge der Geburt ihrer Tochter erahnen, doch eine der grünen Tafeln erzählt mehr. Flick war demnach: „Am 26. April 1790 in Petterweil geboren, seit 1812 hier Pfarrer, wegen Beteiligung an der Freiheitsbewegung 1835 verhaftet, 1839 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, später begnadigt, aber aus dem Pfarramt entlassen. Mitglied des Gemeinderats, gründete in diesem Haus eine Armen- und Krankenstiftung. Er starb am 19. März 1869 in Petterweil.“
Neben dieser lokalen Persönlichkeit gehört in die demokratisch-revolutionäre Tradition Petterweils auch der auf nationaler Ebene bedeutsame Politiker Robert Blum, einer der wichtigsten Vertreter der Linken im Frankfurter Parlament von 1848. Wo er am Rande des Orts im Sommer jenes Jahres eine Rede hielt und wo heute noch immer eine parkartige Wiese mit Spielplatz ist, setzte Petterweil ihm ein obeliskförmiges Denkmal aus grauem Stein.
Auf der einen Seite ist in roten Buchstaben eine nüchterne Darstellung von Fakten: „Hier sprach zum Volke Robert Blum, Mitglied der deutschen Nationalversammlung, am 9. Juli 1848. Geb. zu Köln am 10. Nov. 1807, standrechtlich erschossen zu Wien am 9. Nov. 1848.“
Auf der anderen sind Blums letzte Worte: „Ich sterbe für die deutsche Freiheit, für die ich gekämpft. Möge das Vaterland meiner eingedenk sein!“
Was für radikaler Akt die Errichtung dieses Denkmals im Jahre 1849, ein Jahr nach Blums Rede und ein halbes nach seiner Hinrichtung, war, kann man sich kaum noch vorstellen, und selbstverständlich geschah es auf Betreiben Flicks, der durch die Veränderungen nach der Revolution auch kurzzeitig seine Pfarrstelle wiederbekommen hatte. Nach nur wenigen Jahren mußte das Denkmal entfernt werden, doch die fortschrittlichen Kräfte Petterweils verbargen es, bis es 1895, als Blums wie Flicks Leiche kalt und die politischen Kämpfe andere waren, wieder aufgestellt werden konnte. In keinem Nachbarort gibt es etwas auch nur annähernd Vergleichbares.
Petterweil mag nicht besonders schön sein, aber es ist etwas Besonderes und das ist letztlich noch mehr wert. Die Wetterau würde anders aussehen, wenn es mehr Petterweils gegeben hätte.