Archiv für den Monat August 2015

Památník Ostravské operace

An der Straße zwischen Opava und Ostrava, auf einer Anhöhe über dem Dorf Hrabyně, ragen zwei riesige Betonkeile aus der schlesischen Landschaft. Das ist der Památník Ostravské operace (Denkmal der Ostravaer Operation).

PamátníkOstravskéOperaceGesamt

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Am Rande des Areals sind Parkplätze und der schlichte Flachbau eines Informationszentrums. Ein breiter geteerter Weg zwischen leicht erhöhten Wiesen führt auf die Keile zu. Links stehen am Anfang zwei hohe Fahnenstangen, dann in regelmäßigen Abständen drei Geschütze. Rechts steht auf einem Betonsockel in der Wiese eine große Sandsteinskulptur, die zwei Soldaten zeigt, der vordere in den Knien mit vorgestrecktem Gewehr, der hintere im Begriff, mit der ausholenden Hand eine Granate zu werfen.

PamátníkOstravskéOperaceSkulptur

Die beiden Keile selbst ragen mit langen Schrägen dem Näherkommenden entgegen, nur vertikale Linien strukturieren den bloßen Beton. Der linke ist etwas kleiner, in der Mitte sind sie verbunden. Auf dem kleinen geraden Stück nach dem Ende der Schräge war im größten von den Linien gebildeten Feld jeweils ein Wappen: links das der Tschechoslowakei und rechts das der Sowjetunion.

So erklärte sich das Denkmal selbst. Die beiden Keile repräsentieren die tschechoslowakische und die sowjetische Armee, die ihm Rahmen der Ostravaer Operation im späten April 1945 auf Ostrava vorstießen, auch die beiden Soldaten gehören den jeweiligen Armeen an und an die zweite Fahnenstange gehört eine sowjetische Fahne.

PamátníkOstravskéOperaceRichtung

Die Richtung der Keile ist die Richtung der Offensive, ja, sie werden zu den Ketten eines riesigen Panzers auf dem Weg zur Befreiung Ostravas. Diese Symbolik ist so dezent, daß sie die abstrakte Schlichtheit der Keile nicht im geringsten stört. Die Skulptur „Bratrství v boji“ (Bruderschaft im Kampf) von Miloš Axman ist weit überlebensgroß, aber sie steht so in der Wiese, daß man immer weit genug entfernt ist, um sie in menschlichem Maß zu erleben.

Und wenn einen die Keile zu überrollen drohen, tritt man in ihrer Mitte auch schon durch ein ornamentales Tor, das teils an durchschossene Panzerplatten erinnert, ins Innere des Denkmals. Dort ist ein weder großer noch kleiner künstlich beleuchteter Raum, dessen Boden und Wände mit sandfarbenem Stein verkleidet sind, wozu an den beiden Seitenwänden zusätzlich vertikal strukturierende dunkelbraune Metallflächen kommen. Die Wand vor einem aber wird gänzlich von einem Relief aus hellem, fast weißem Stein eingenommen, das der Bildhauer Stanislav Hanzík schuf.

PamátníkOstravskéOperaceRelief

Es zeigt drei schlicht und realistisch dargestellte Menschengruppen. Links die Opfer, in Lumpen, halbnackt, leidend, sterbend. In der Mitte die Befreier, Soldaten, ein älterer mit Bart sitzend, das Gewehr in der Hand, ein anderer mit hocherhobenem Gewehr und Blumenstrauß, fast im Sprung, einer eine Fahne schräg nach rechts haltend. Rechts die Befreiten, voller Freude, jubelnd, eine kniende Frau die Fahne küssend. Doch in der Mitte der Befreier und der gesamten Bildfläche ist ein junger Soldat, den Blumenstrauß gesenkt vor den Beinen haltend, der Blick nachdenklich.

PamátníkOstravskéOperaceReliefDetail

Hier mischt sich in den Triumph Trauer über die Kosten des Kriegs. Das ist auch am ehesten das Gefühl des Besuchers, der dem Relief entgegentritt. Er sieht davor, wie es auch der Soldat in der Mitte zu tun scheint, die gläsernen Schalen mit Erde aus jenen Orten, an denen Tschechen und Slowaken litten und Tschechen und Slowaken kämpften. Doch den Hintergrund des Reliefs bilden stilisierte Strahlen, die nur die der aufgehenden Sonne sein können und damit über das Denkmal hinaus in die Zukunft weisen.

Die Gestaltung des Památník ist in jeder Hinsicht durchdacht: draußen noch die großen Formen, das Vorwärtsdrängen, der Kampf, drinnen die intimen Formen, das Ruhige, der Sieg, aber auch die Trauer. Es ist die Formel aller großen Denkmäler für den zweiten Weltkrieg, die einzige den Helden und Opfern angemessene. Zugleich ist das Denkmal aber seinem Standort inmitten der offenen Landschaft angepaßt. In einer Stadt, wußten auch die tschechoslowakischen Architekten und Gestalter und zeigten es in Banská Bystrica, ist eine ruhigere Form angemessener, da das Denkmal sonst geradezu die Stadt selbst anzugreifen schiene.

Seit einer Weile ist das Denkmal als Národní památník války (Nationales Denkmal des Krieges) zentraler tschechischer Gedenkort für den zweiten Weltkrieg. Um den beschriebenen Raum ist eine Ausstellung zur Geschichte des zweiten Weltkriegs und insbesondere der im Ausland kämpfenden Tschechoslowaken. Sie ist nicht schlecht, auch nicht plakativ antikommunistisch oder antisowjetisch, was im politischen Klima des heutigen Tschechiens bemerkenswert ist, aber sie paßt doch wenig zu diesem Ort, der nicht der Informationsvermittlung, sondern dem Gedenken und der Glorifizierung der Toten gewidmet sein sollte.

Das Denkmal wollte gerade kein Museum sein, sondern ein säkularer Wallfahrtsort. Was man im Museum erfährt, sollte man schon wissen, wenn man sich dem Denkmal nähert, denn es will das Geschehene nicht zeigen, sondern überhöhen, ihm einen Sinn geben. In der ursprünglichen Konzeption war daher im Schloß des nahen Städtchen Kravaře das Muzeum Ostravské operace (Museum der Ostravaer Operation), von dem ein Wanderweg vorbei an einer Ausstellung von Kriegsgerät und anderen kleineren Gedenkstätten bis zum Památník führte. Hier verband sich die tschechischoslowakische Liebe zum Wandern mit einer gleichsam barocken Konzeption: der Weg vom Tal entlang eines Kreuzwegs hinauf auf den Berg, wo die Wallfahrtskirche alles krönt und vollendet.

Davon ahnt man jetzt nichts mehr. Erschwerend kommt hinzu, daß weder der symbolische Friedhof mit den Namen der Toten, der vertieft rechts neben dem Denkmal beginnt und sich unter ihm hinzieht, noch die Aussichtsplattform auf dem höheren der Keile zugänglich sind.

PamátníkOstravskéOperaceSeite

So fehlt die konkreteste Begegnung mit den gefallenen tschechoslowakischen und sowjetischen Soldaten und der noch weitere Blick über die Umgebung, durch die man idealerweise zu Fuß gekommen wäre. Schon Preußen baute Aussichtstürme an den Orten seiner Schlachten und schon die dienten auf effektive Weise der Erinnerung, da sie den Kontrast zwischen der ruhigen und friedlichen Landschaft von heute und dem Kriegsschauplatz von einst erleben oder erahnen ließen. Hier wurde das noch dadurch verstärkt, daß man in die Richtung des Vorstoßes der Armeen blickte, nach Ostrava, von dem man wenigstens den Rauch der Stahlwerke sehen konnte, die auch den Soldaten den Weg gewiesen hatten.

Was da an der Straße zwischen Opava und Ostrava in der schlesischen Landschaft steht, ist, wenn man will, noch immer ein Denkmal für eine sowjetisch-tschechoslowakische Offensive gegen Ende des zweiten Weltkriegs, aber es war einst noch mehr.

Luka nad Jihlavou

Luka nad Jihlavou ist ein kleines unscheinbares Städtchen wie viele andere auch, gelegen östlich von Jihlava, etwa in der Mitte des heutigen Tschechien und nahe der historischen Grenze zwischen Böhmen und Mähren. Es beginnt weit im Osten mit einigen im Tal der Jihlava zusammengewürfelten Fabriken und Häusern. Dort ist auch der Bahnhof. Es ist, als müsse sich der Ort erst langsam aus den Wiesen, die ihm seinen Namen geben, herausarbeiten (doch „Wiese an der Jihlava“ wäre eine banalisierende Übersetzung; das normale Wort wäre das weibliche louka, luka aber wird als, demnach sächlicher, Plural dekliniert).

LukaNadJihlavouDienstleistungsbäude

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Nach einer leicht abfallenden Straßenecke, um die ein zweigeschossiges Dienstleistungsgebäude aus der sozialistischen Zeit mit einem kachelverkleideten oben abgeschrägten Teil und dann mit zwei jeweils etwas zurückgesetzten Teilen führt, finden sich die Häuser zu seinem Platz zusammen, an dem Geschäfte und Kneipen sind und auch ein Brunnen und ein freistehendes Bushaltestellengebäude nicht fehlen, wobei ihn doch, wie in so einem kleinen Ort schwer zu vermeiden, der Verkehr durchschneidet.

LukaNadJihlavouPlatz

Zum Fluß hin, in den hier der Kozlovský potok (Kozlover Bach) mündet, öffnet sich der Platz. Etwas verloren stehen dort das Grab eines sowjetischen Soldaten und ein Denkmal für die tschechoslowakischen Legionen und andere tschechische Tote des ersten Weltkriegs herum.

Am anderen Ufer der Jihlava, schon höher am Hang, steht ein barockes Schloß, dreigeschossig, korinthische Kapitelle, die Seiten leicht vorgesetzt, in der Mitte ein Säulenportal mit Balkon.

LukaNadJihlavouSchloß

Dahinter erstreckt sich ein großer englischer Park. Es ist allerdings unzugänglich, weil das Schloß wieder in Privatbesitz ist, was eine Rückkehr zum traurigen Normalzustand von vor 1948 bedeutet.

Nachdem es schon schien, als fiele der Ort nach dem Platz wieder auseinander, fügt er sich auf dem Hügel zwischen Jihlava und Kozlovský potok dann umso mehr zusammen.

LukaNadJihlavouKirche

Zwei Häuschen mit simplen Giebeln bilden eine Art Tor und rahmen den Blick auf die barocke Kirche höher am Hang. Es ist beinahe, als beginne hier ein ganz anderes Luka.

Mitten in diesem zweiten Teil, fast auf dem höchsten Punkt des Hügels, steht auch das interessanteste Gebäude der Stadt.

LukaNadJihlavouSýpkaWeiblicheSeite

Ein einfacher Bau mit Satteldach eigentlich, dem an beiden Schmalseiten Ziergiebel vorgesetzt sind. Die Pilaster an den Seiten haben annähernd korinthische Kapitelle, die jedoch in einem Vogel mit ausgestreckten Flügeln und vorgestrecktem Kopf enden.

LukaNadJihlavouSýpkaKapitell

Der Giebel besteht aus zwei kleinen Sockeln, die in der Fortsetzung der Pilaster aus dem Dach ragen, volutenartigen Elementen, die sich bis zu zwei weiteren Pilastern aufschwingen, und einem abschließenden Rundbogen. Auf den seitlichen Sockeln und einem in der Mitte des Rundbogens stehen Büsten, männliche auf der einen, weibliche auf der anderen Seite. Die gesamte Fläche des Giebels zieren komplizierte zugleich eckige und florale Muster, in denen mal Buchstaben, mal Tiere zu erkennen sind und die auch die beiden kleeblattförmigen Vierpaßfenster in der Mitte umspielen.

LukaNadJihlavouSýpkaMännlicheSeiteGiebel

Das Erstaunlichste jedoch sind die Fenster: regelmäßig über die Fassade verteilte horizontale Ovale. Heute ist in dem Gebäude eine Turnhalle und man könnte es daher auch gut für eine Sokolovna (Turnhalle des tschechischen Sportvereins Sokol) in einem bizarren Jugendstil oder Art Déco halten. Doch es war ursprünglich ein Getreidespeicher und entstand irgendwann zwischen 1721 und 1737. Die Entstehungszeit könnte man vielleicht an dem Eingang in der Mitte der talseitigen Breitseite erkennen, besonders an der Ausführung der weiblichen und der männlichen Gestalten, die mit Getreide in der Hand auf dem geschwungenen Giebeln lagern, und den Wappen unter dem Giebel.

LukaNadJihlavouSýpkaEingang

Doch auch wie die Pilaster mit eichenblättrigen Kapitellen über Muscheln mit dem Giebel verbunden sind, ohne aber in irgendeiner zwangsläufigen Beziehung zur einfachen rundbögigen Tür zu stehen, ist höchst ungewöhnlich.

Barock im konventionellen Sinne ist nichts an diesem Getreidespeicher. Eher schon handelt es sich um radikalen Barock, der die Methoden der sakralen Architektur auf ein denkbar profanes Gebäude anwendet. Der Erbauer begriff, daß ein Getreidespeicher nichts grundsätzlich anderes ist als eine Kirche, also baute er dem Getreide eine Kirche. Er baute sie oben auf dem Hügel, als Abschluß und Höhepunkt der niedrigeren Stall- und sonstigen Anlagen der herrschaftlichen Wirtschaft. Er suchte dafür eigene Dekorationsformen, wie die Kapitelle und die Giebel, aber vor allem auch eigene funktionale Lösungen, wie die wohl der Belüftung dienenden ovalen Fenster. Was so entstand, ist ein äußerst überraschendes Gebäude, das auch zweihundert Jahre später hätte entstehen können, dann allerdings als nichtige Bizarrheit. Nur richtig, daß ein Ort namens Luka eine solche Weihestätte des Getreides besitzt, die auch im Gesamtbild der Stadt zwar nicht so markant ist wie die Kirche, aber auch nicht viel weniger als das Schloß.

LukaNadJihlavouGesamt

Der Ort zieht sich dann noch weit über die Hügel, nun meist mit Einfamilienhäusern, aus der ersten Republik und folgenden Zeiten. Unten am Kozlovský potok steht ein Mietshaus, zweigeschossig, in einfachen, aber nicht radikalen erstrepublikanischen Formen.

LukaNadJihlavouKino

Nur daran, daß das Erdgeschoß links fensterlos bleibt, an dem kleinen von zwei Stützen getragenen und leicht aufsteigenden Vordach, und eben den Aufschriften erkennt man das örtliche Kino. Noch heute werden doch dreimal in der Woche Filme gezeigt.

So entspricht Luka nad Jihlavou ganz dem alten „and each town looks the same to me, the movies and the factories“, es ist geradezu gerahmt von Kino und Fabriken. In tschechischen Kleinstädten kämen noch Kirche, Schloß, Sokolovna, sozialistisches Dienstleistungsgebäude hinzu. Ob die Grundaussage, daß jede Stadt gleich aussieht, aber stimmt, hängt davon ab, wie genau man schaut. Manchmal sind die winzigen Nuancen im Immergleichen wichtiger als die spektakulären Unterschiede. Und manchmal findet sich darin gar etwas so Eigentümliches, kaum Einzuordnendes wie der Getreidespeicher von Luka. Wer wollte da schon noch nach Hause wollen?

Verkehr in Berlin: S-Bahnkämpfe

Noch immer unterliegen viele dem Irrtum, es gebe eine Stadt namens Berlin. Der Titel dieses Texts ist ein Zugeständnis an diesen Irrtum. Richtiger wäre, angelehnt an faszinierende alte Staatsnamen wie Königreich beider Sizilien, von „Verkehr in den Berlinen“ zu schreiben, wenn bloß der Plural nicht so schwerfällig und ungebräuchlich wäre. Jedenfalls ist Berlin keinesfalls nur eine Stadt.

„Was hieß ‚Spaltung‘ in einer Stadt, die seit langem so gründlich gespalten war, daß die Bewohner der Zehlendorfer Villen und der Mietskasernen in der Großen Hamburger Straße faktisch in zwei verschiedenen Erdteilen lebten? Die von Berliner Arbeiterbataillonen bewachte Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik trennt, was nie zusammengehört hat, sondern stets nur von wortgewandten bürgerlichen Journalisten zusammengelogen worden ist“, schreibt Georg Piltz in „In alten und neuen Städten“ als fulminanten Höhepunkt eines der seltenen Texte aus der DDR, die den Mauerbau nicht in einem, sicherlich richtigen Nebensatz als „Sicherung der Staatsgrenze zu Westberlin“ oder dergleichen abtaten, sondern ihn auf weit offensivere und originellere Weise verteidigten. Entsprechend diesem Text ist Berlin aber auch nicht unbedingt bloß als zwei Städte zu verstehen. Zwei relativ klar geschiedene Städte, Westberlin und Berlin, Hauptstadt der DDR, schälten sich erst im relativ kurzen Zeitraum zwischen 1948 und 1989 aus etwas heraus, was auch vorher nie nur eine Stadt gewesen war.

Die Trennungen zwischen Ost und West sind heute bloß die offensichtlichsten. Wie sie sich im Verkehr niederschlugen, zeigt ein kurzer Blick auf einen Liniennetzplan: Straßenbahnen gibt es, von einer späteren Verlängerung in den Wedding abgesehen, nur in der ehemaligen Hauptstadt der DDR, im hochsubventionierten Westberlin dafür viel mehr U-Bahnen.

Aber noch interessanter ist, was die Städte gerade in der Zeit ihrer deutlichsten Getrenntheit verband: das war die S-Bahn, die aufgrund komplizierter internationaler Vereinbarungen auch in Westberlin von der DDR betrieben wurde. Das Bedürfnis, diese Einflußmöglichkeit in der Nachbarstadt zu behalten, erklärt übrigens vielleicht auch, wieso die Staatsbahnen der DDR beim unschönen Namen „Deutsche Reichsbahn“, oft mit berechtigtem Scham zu „DR“ abgekürzt, blieben. Die Surrealität der Situation, daß ein wichtiges Verkehrsmittel in einer Stadt vom nicht gerade befreundeten Ausland betrieben wurde, kann man sich heute kaum mehr vorstellen.

Entsprechend war die Westberliner Verkehrspolitik ein einziger Kampf gegen die S-Bahn. So verläuft die U7 lange Zeit parallel zum südlichen und westlichen Teil der Ringbahn (S-Bahnstrecke, die die inneren Bezirke Berlins umgibt) und führt gar ins weit westlich gelegene Spandau. Auch der nördliche Teil der U8 entspricht älteren S-Bahnstrecken.

Vergessen ist heute eine zweite gegen die S-Bahn gerichtete Verkehrsmaßnahme: auf den Stadtautobahnen, die seit den Sechzigern genau neben den südlichen, westlichen und nördlichen Teilen der Ringbahn in Westberlin gebaut wurde, fuhren Schnellbusse. An einigen Stellen kann man noch die Treppenhäuser, die zur erhöhten oder tieferliegenden Ebene der Stadtautobahn führen, sehen.

Das aufwendigste Bauwerk dieses Bussystems fand sich beim Jakob-Kaiser-Platz, der kein Platz, sondern ein großer Kreisverkehr mit den Flaggen europäischer Länder und markanten Lampen aus kelchförmig angeordneten Leuchtelementen auf hohen Pfählen ist.

JakobKaiserPlatzBerlin

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Unter der breiten aufgestützten Trasse der Stadtautobahn steht ein T-förmiger Bau, der mit seinem langen Teil zur querenden Straße zeigt.

BusstationJakobKaiserPlatzBerlinGesamt

Dort ist auch der Eingang, in dem eine Treppe und eine Rolltreppe ein Stück hinaufführen.

BusstationJakobKaiserPlatzBerlinEingang

Während der Eingang und ein Streifen unterm Dach bloßen Beton zeigen, ist das übrige Gebäude gänzlich mit orangenen Kacheln verkleidet. Auf den Seiten des langen Teils zeigen zwei große rote Pfeile mit der weißen Aufschrift „Bus“ zum Eingang, weiter rechts weisen weiße Buchstaben auf ein WC hin.

BusstationJakobKaiserPlatzBerlinWC

Wo sich die beiden Teile des Ts treffen, sind auf Schildern die verschiedenen Buslinien aufgeführt.

BusstationJakobKaiserPlatzBerlinSchilder

Von den beiden äußeren Enden des Ts führen dann schräge Treppentrakte zu beiden Seiten der Autobahn, wo aufgestützt die Wartebereiche der dortigen Bushaltestellen sind. Es ist ein Gebäude, das ganz aus seiner Funktion, die oberen mit der unteren Bushaltestelle zu verbinden entstanden ist, es gleicht einem Schlauch zur Leitung des Menschenflusses. Seinem Äußeren sieht man die inneren Wege sofort an. Es ist vielleicht die einzige Busstation, die Westberlin hatte. Obwohl sie ob ihrer Lage unter der Autobahn unmöglich irgendetwas stören konnte und ein wertvolles Denkmal einer spezifisch Berliner Verkehrsgeschichte war, wurde sie 2010 abgerissen (hier ein kleiner gezeichneter Nachruf).

Doch während Westberlin viel Geld für den Kampf gegen die Westberliner S-Bahn ausgab, investierte die DDR in ihrer besten Zeit sogar noch in sie. So entstand 1972 an der heute vergessenen Strecke nach Düppel die Station Zehlendorf Süd. Man kann sie nach wie vor besuchen. Von der Clauertstraße führt ein leicht ansteigender Weg zum Eingangsbau, der aus nicht mehr als einem breiten Betondach und braun-roten Backsteinmauern besteht.

S-BahnZehlendorfSüdBerlinEingang

Durch diesen hindurch kommt man auf die Betonfläche des Bahnsteigs.

S-BahnZehlendorfSüdBerlinBahnsteig

Auf zwei rostigen Stationsschildern sieht man das S-Bahnlogo und liest klein „Deutsche Reichsbahn“ und groß „Zehlendorf Süd“.

S-BahnZehlendorfSüdBerlinSchild

Über den Bahnsteig neigen sich in sanftem Schwung die schlanken Betonpfähle der Laternen.

S-BahnZehlendorfSüdBerlinLampen

Heute sind sie zwischen Bäumen kaum mehr zu sehen, auch die Gleise

S-BahnZehlendorfSüdBerlinSchienen

und die Geländer erobert sich die Natur zurück.

S-BahnZehlendorfSüdBerlinGeländer

Doch der Bahnsteig ist noch heute fast makellos glatt, was für die Qualität des Baus spricht. Eine einfache kleine Station also, funktional und unprätentiös. Daß sie gerade im reichen Zehlendorf, das Piltz nicht zufällig als Beispiel des bürgerlichen Berlins erwähnt, eröffnet wurde, war vielleicht ein eher symbolischer Akt, ein Dank für die Ostpolitik oder ein kleines Geschenk für die wenigen dort, die sich kein Auto leisten konnten. Viel wurde sie wohl nicht genutzt.

Schon 1980 wurde diese Station wieder geschlossen und mit ihr alle anderen, da ein großer Streik zur Einstellung des S-Bahnbetriebes in Westberlin führte. Im Jahre 1986 verkaufte die DDR die Westberliner S-Bahn dann an die Westberliner BVG (Berliner Verkehrsbetriebe). Das war einer der vielen Akte der Selbstaufgabe der DDR in dieser Zeit. Vordergründig stieß die DDR zwar nur ein unrentables Unternehmen ab, aber in der Konsequenz verzichtete sie damit auf einen verkehrspolitischen Einfluß in Westberlin, allgemein auf Einfluß in Westberlin, auf die Möglichkeit, ihr eigenes Schicksal mitzubestimmen, also letztlich: auf sich selbst.