Der jüdische Friedhof ist nicht bloß die größte, sondern tatsächlich die einzige Sehenswürdigkeit in Osoblaha, weil der zweite Weltkrieg von dem alten Städtchen sonst nichts übrig ließ. Das soll nicht heißen, daß es im dezidiert tschechoslowakisch-sozialistisch wiederaufgebauten Osoblaha nicht noch vieles weitere, was des Sehens würdig ist, gibt, aber das ist eben nicht die geläufige Bedeutung von Sehenswürdigkeit.
Wie fast alles andere in dem Ort liegt auch der jüdische Friedhof in der Achse der einzigen Straße in seinem Zentrum, allerdings hinter einem diese abschließenden Wohngebäude, hinter einer parkartigen Grünfläche und inmitten von Kleingärten am Rande, teils schon am Hang des Hügelkamms, auf dem sich das Zentrum befindet.
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Im Sommer ist der Friedhof so ein überaus schöner und angenehmer Ort, der ferne Tod inmitten des Lebens. Ungewöhnlicherweise ist es auch ein jüdischer Ort, der keine direkten Bezüge zur deutschen Judenvernichtung hat, da die Osoblahaer Gemeinde bereits ausgestorben war, bevor ihre Mitglieder ermordet werden konnten, und die Synagoge schon 1933 abgerissen war, bevor der Krieg sie erreichte.
Umso besser ist der Friedhof gepflegt, viele der Grabsteine wurden erst vor kurzer Zeit mit EU-Förderung restauriert und erstrahlen in Weiß. So hat man einerseits Bilder, die vom Alter des Friedhofs zeugen – halb in der Erde versunkene Grabsteine, halb von einem Baum aufgefressene Grabsteine – kann aber andererseits die Inschriften gut lesen.
Oder könnte es bei guten Hebräischkenntnissen, denn wie auf allen älteren jüdischen Friedhöfen sind die meisten Inschriften auf dieser Sprache.
Auch so aber kann man sofort formale Gemeinsamkeiten zwischen den Grabsteinen feststellen. Typisch ist für Osoblaha ein aufrechter rechteckiger Teil, der von einem mehr oder weniger regelmäßig halbrunden abgeschlossen ist. Der hauptsächliche Text ist im rechteckigen Teil, aber auch im Bogen des halbrunden sind jeweils noch ein oder zwei Zeilen. Im so umrahmten oberen Feld findet man eine Fülle von Symbolen, die den Friedhofsbesuch auch ganz ohne Sprachkenntnisse lohnenswert machen. Manchmal ist da nur das פנ oder פט der Trauerformel, manchmal wird es von Löwen oder Hirschen gehalten, manchmal ist es bekrönt.
Manchmal sind da die Hände der Kohanim oder der Krug der Leviten, mal hält eine Hand einen Krug.
Alle Symbole kommen mehrfach vor, oft miteinander kombiniert, wodurch erst das Sechseck mit zur Mitte zeigenden Strichen auffällt.
Trotz Bilderverbots ist es eine Fülle von Bildern, die dieser Friedhof darbietet.
Einige neuere Gräber brechen scheinbar mit den formalen Vorgaben der älteren. Die beiden auffälligsten, weil größten gehören Israel und Amalie Reik.
Sie haben Halbsäulen an den Seiten und abgestufte spitze Giebel, denen oben noch kleinen stilisierte Nachbildungen der Tafeln mit den zehn Geboten – ein vertikales Rechteck mit zwei Rundbögen, mittiger Trennlinie und den Nummern I bis X – aufgesetzt sind. Aber vielleicht ist das den alten Grabsteinen doch verwandter, als es das weiß und sein will, denn Pilaster in zarteren, eher vom Barock kommenden Variationen findet man auch bei diesen.
Manche sind sogar vollständig wie die Gebotstafeln gestaltet, was überzeugender und radikaler wirkt als das Aufpfropfen.
Und innerhalb des großen neuen Grabsteins sind letztlich auch die Umrisse der alten kleinen mit halbrundem Abschluß zu erkennen. Selbst der große Davidstern im oberen Teil, der vorher fast nie vorkommt, ist vielleicht in dem genannten Sechseck vorweggenommen.
Bei einigen anderen Gräbern stehen, wie das ab dem späteren 19. Jahrhundert so üblich ist, Hebräisch und Deutsch mehr oder weniger gleichranging nebeneinander. Fast ironisch wird dieser Wechseln von der Religions- zur Staatssprache dadurch, daß die Jahreszahlen, nicht aber die Monate, oft noch nach dem hebräischen Kalender angegeben sind.
Gestorben 1869
Nur das Grab des „k.k. Steueramts-Praktikanten“ Rudolf Reik hat weder in Sprache noch Symbolik oder Datum jüdische Bezüge und könnte genau so auch auf einem katholischen Friedhof stehen.
Die ungewöhnlichsten Gräber des Friedhofs sind auch die kleinsten und unauffälligsten, die sogar im wenig hohen Gras der gepflegten Anlage fast versinken. Sie sind kleine Obelisken, wie sie auch als Wegweiser an Straßenecken stehen könnten.
Hier dienen sie dazu, auf elegante Weise zwei Sprachfassungen unterzubringen: vorne die deutsche,
rechts die hebräische.
Sie sind so nicht auf derselben Fläche, aber auch nicht auf Vorder- und Rückseite, wie es sich auf anderen Friedhöfen oft findet, sondern über Eck, so daß sie sich je nach Vorliebe zusammen oder getrennt betrachten lassen.
Gestorben 1869
Nach der Textmenge zu urteilen sind sie auch tatsächlich identisch.
Gestorben 1863
Von diesen bescheidenen Obeliskgrabsteinen, die der Ansatz einer neuen formalen Konvention sein könnten, gibt es auf dem jüdischen Friedhof nur drei, wobei einer durch was auch immer gespalten ist.
Es gibt dafür zwei weitere auf dem katholischen Friedhof am Rande des Orts, wo sie jeweils für Kindergräber, was zur geringen Größe paßt, dienen.
Auf indirekte Weise erzählen diese Steine von den Beziehungen zwischen der jüdischen und christlichen Bevölkerung des Orts, da offenbar entweder ein jüdischer Steinmetz auch für den katholischen oder andersherum ein katholischer auch für den jüdischen Friedhof arbeitete, falls es nicht ohnehin nur einen gab. Mit dem Ende der 1860er Jahre endete die kurze Osoblahaer Obeliskmode wieder.
Gestorben 1870
Schließlich gibt es auf Osoblahas jüdischem Friedhof noch ein Grab, das allein seinen Besuch lohnenswert macht und selbst verdient, vielgerühmte Sehenswürdigkeit zu sein. Im Kern ist es wie die typischen Grabsteine des Friedhofs: rechteckiger Teil mit viel Text, halbrunder Teil mit Text im Bogen, alles hebräisch. Doch der runde Teil, zu dem an den Seiten Pilaster führen, ist nur im tatsächlich völlig rechteckigen unteren Teil des Steins stilisiert, auf den oben stattdessen ein großer dreieckiger Giebel und zwei kleinere viertelrund und mit Faltenstruktur nach außen zeigende Elementen folgen.
Im Giebelfeld sind hier andere Symbole: rechts eine Sanduhr, in der Mitte eine abgebrochene Kerze, links ein aufgeschlagenes Buch. Das sind Memento Mori, wie sie insbesondere der Barock so liebte, aber sie haben nichts spezifisch Jüdisches, weshalb sie auf anderen Steinen auch nicht vorkommen.
Und auf der der linken Seite des Buchs steht klein, aber leserlich in lateinischen Buchstaben: „Alexander Bergmann gest. 13.11.5612“.
Das ist es, das macht aus dem Grabstein ein großes Kunstwerk. Historisch und künstlerisch interessant sind alle, aber bei diesem will man mehr wissen. Man will wissen, wer dieser Alexander Bergmann war und was ihn, oder seine Familie, im Jahre 1851 bewog, nicht nur diese ungewöhnlichen, gleichsam säkularen Symbole zu benutzen, sondern noch dazu die deutsche Inschrift auf so wunderbar subtile Weise in den hebräischen Grabstein einzuschmuggeln. Gewiß ist es nicht viel, was hier anders ist, aber das macht einen großen Unterschied und wie immer muß man sich fragen: wenn es so einfach ist, wieso macht es dann keiner sonst? Man spürt geradezu die Freude des, jüdischen oder christlichen, Steinmetzes, hier einmal etwas anderes zu schaffen und die Möglichkeiten einer formalen Konvention erweitert zu haben.
Vielleicht ist es schade, daß Osoblaha keine anderen Sehenswürdigkeiten blieben, aber ein Ort, der diesen Friedhof und das Grab des Alexander Bergmann hat, der hat viel.
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