So wie das alte Breslau eine preußische und kapitalistische Stadt war, war das neue Wrocław eine polnische und sozialistische Stadt. Das sieht man nicht nur im Zentrum, sondern auch überall in den Außenbezirken. Während Preußen ausgedehnte Mietskasernenviertel baute, bemühte sich Polen, in diese einige Schneisen des Neueneinige Schneisen des Neuen zu schlagen.
Zu den wichtigsten dieser Schneisen gehörte die Ulica Powstańców Śląskich (Straße der schlesischen Aufständischen), die etwa beim Bahnhof beginnt und weiter in den Süden führt. Es handelt sich um eine große Verkehrsachse, aber zugleich um eine Allee, einen Boulevard, bei dem die Größe der Fahrbahnen durch große Fußgängerwege ausgeglichen wird. Gleich einem Rückgrat stehen an der linken Seite drei teils sehr lange Wohngebäude, deren markantestes Merkmal abgerundete und höhergeführte Treppenhaus- und Aufzugkerne mit weißem Putz sind, ihre Wirbel.
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Wichtiger aber noch sind die meist zweigeschossigen, teils aufgestützten Ladenvorbauten, die noch weiter vom Straßenverkehr separierte Räume für Fußgänger bilden.
Von den Mietskasernen, die hier einst vorherrschten, findet sich nur noch an einer Ecke ein Rest.
Die fast völlige Zerstörung dieser Gegend bei den Kämpfen am Ende des zweiten Weltkriegs erwies sich städtebaulich als große Chance.
In der gesamten weiteren Umgebung, rechts der Straße hinter offenen Grünbereichen und links von ihr geschützt vom Rückgrat, erstreckt sich weithin die fortschrittliche Bebauung des Osiedle Południe (Wohngebiet Süd).
Sie ist typischer, architektonisch weniger auffällig, eine wohlgeplante Mischung aus fünf- bis zwölfgeschossigen längeren Gebäuden und Punkthäusern, immer durchzogen von großzügigem Grün.
Dazwischen die nötigen Schulen, Kindergärten und Ladenzentren. An letzteren kann man noch manchmal alte Leuchtreklame von „Społem“„Społem“ sehen,
einer Konsumgenossenschaft (der Name ist ein altes Wort für gemeinsam), die es noch gibt, während sie zugleich schon so sehr zum Retrochic paßt, daß in Kraków eine Kneipe ihren Namen trägt.
Dominante des Wohngebiets war einst das 25-geschossige Bürohochhaus von Poltegor rechts der Powstańców Śląskich. Ganz schlicht, bloß verspiegelte Fensterbänder und weiße Verkleidung, hätte es kaum besser in seine Zeit, die Sechziger, Siebziger, die in Polen zum Glück länger dauerten, passen können.
Dieses Hochhaus gibt es nicht mehr und daran ist nichts zu bedauern. An seiner Stelle steht das Wahrzeichen eines anderen, nun polnischen und kapitalistischen Wrocław: der Skytower. Er dominiert Wrocławs Skyline nicht, er ist sie.
Ein 51 Geschosse hoher Glaszylinder, oben etwas abgeschrägt, unten um einen vom neunzehnten Geschoß geschwungen abfallenden Teil erweitert, paßt er so gut in seine Zeit wie das Poltegor-Hochhaus in die seine gepaßt hatte.
Dadurch, daß er an dessen Stelle steht, fügt es sich sogar in die ursprüngliche sozialistische Stadtplanung ein und bestätigt ungewollt deren Richtigkeit. Während das Gebäude von Poltegor bloß das höchste in Wrocław gewesen war, ist der Skytower nach manchen Zählungen sogar das höchste in Polen.
Doch der Unterschied zwischen beiden Gebäuden ist nicht ihre Form oder Größe, sondern ihr Verhältnis zur umgebenden Stadt. Das Poltegor-Hochhaus stand frei im Grünbereich, es war für sich genommen wenig wichtig, aber als Teil des gesamten Wohngebiets sehr. Der Skytower hat einen viergeschossigen sandsteinverkleideten Sockel mit Kolonnaden aus runden, säulenartigen Stützen im Erdgeschoß, der den gesamten Block zwischen zwei Querstraßen einnimmt, nein, diesen erst zu einem Block macht.
Ist der obere Teil des Skytowers immerhin noch hoch und modisch gläsern, bemüht, den polnischen Kapitalismus als das Siegreiche und Neue erscheinen zu lassen, so ist sein Sockel nur reaktionär. Im Inneren ist ein Einkaufszentrum, nach außen hin entspricht er aber ganz den preußischen Mietskasernen, die in diesem Teil von Wrocław schon überwunden waren.
NeoblockrandbebauungNeoblockrandbebauung wie diese, bloß ohne Hochhaus, entstand auch näher beim Bahnhof schon und wird in absehbarer Zeit allen freien Raum an der Powstańców Śląskich aufgefressen haben. Passend, daß das Wohngebäude gegenüber dem Skytower seine Vorbauten nicht mehr hat und die Öffnungen mit Backstein zugemauert sind, gleich den notdürftig zugenähten Narben einer Kastration. Der städtebauliche Rückschritt ist eklatant. Was dort in Wrocław entsteht, könnte man als ein Neopreußen beschreiben, aber vielleicht ginge das am Problem vorbei. Eher sieht man hier, daß der Kapitalismus, ob nun preußisch oder polnisch, immer dasselbe will: Blockrandbebauung, enge, effizient verwertete Stadträume, in denen für den Menschen möglichst wenig Platz bleibt.
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