(siehe auch Zamość-Stare Miasto)
Außer der Altstadt, Stare Miasto, liebevoll Starówka genannt, der Perle des Städtebaus der Szlachta (polnischer Adel) in der späten Renaissance, gibt es in Zamość auch noch eine Neustadt, Nowe Miasto. Einen Kosenamen hat sie nicht und wie eine Perle wirkt sie auf den ersten Blick auch nicht.
Im Osten, bis hin zur letzten Straße der Stadt, hinter der nur noch das Krankenhaus und neue Supermärkte kommen, ein Osiedle (Wohngebiet) mit fünfgeschossiger hofartiger Bebauung gerahmt von Gruppen zwölfgeschossiger Gebäude an den Kreuzungen. Ein gelungenes Wohngebiet, auch schöne Details wie farbig in den Beton eingefügte Hausnummern, aber nichts Herausragendes. Weiter nach innen ältere Zeilenbebauung, darin eine in den Dreißigern gewidmete Kapelle, die wohl einst auf freiem Feld stand. Südlich anschließend diffuse alte Bebauung, eine Art Platz, eine Art Dorfkern. Nördlich anschließend das Zentrum der Nowe Miasto. Im Mittelpunkt ein dreieckiger Platz mit dem Busbahnhof. Das im Grunde simple Satteldach seiner simplen Halle bekommt dadurch, daß es nach außen wieder aufsteigt, und durch einen Unterbau aus Holz etwas Markantes und Skulpturales, in dem man eine Anspielung auf den Bahnhof Centralna in Warschau sehen muß. An den Seiten des Platzes rechts Einfamilienhäuser, links eine Gruppe kurzer zehngeschossiger Gebäude und an der Grundseite, im Süden, eine große Kaufhalle. Beidseits der nördlich vom Platz auf eine größere Straße in grober Richtung der Altstadt stoßenden Straße ein Hotel und ein Kaufhaus, beide etwa dreigeschossig. Alle Bestandteile für ein gutes Zentrum wären also vorhanden, doch sie sind einfach nicht gut genug zusammengefügt, so daß, verstärkt noch durch die Veränderungen der kapitalistischen Zeit, gar kein Eindruck entsteht.
Schon könnte man die Nowe Miasto also abtun und sich ganz dem alten Zamość zuwenden wollen. Doch ganz im Norden, jenseits der Straße und ohne daß irgendetwas vom Zentrum aus dorthin überleitete oder auch nur hinwiese, liegt ein weiteres Osiedle, das alles ändert. Wenn man hineingeht, merkt man erst ganz allmählich, womit man es zu tun hat. In der Mitte ein großer, etwa runder Parkbereich mit Wiesen, Sportanlagen und Spielplätzen, von dem ein Weg auf einen großen Schulkomplex mit, wie in Polen häufig, Schwimmbad zuführt. Beidseits dieses Wegs stehen zwei offene Pavillons, interessante Neuinterpretationen dieses klassischen Elements mit vieleckigem Betonfundament, buntem Geländer und Wellblechdach.
Erste Überraschung am Rande des Parks sind flache, bungalowartige Reihenhäuser. Der Hauptteil des Wohngebiets besteht dann aus nicht mehr als viergeschossigen Gebäuden, die zu verschachtelten, meist unregelmäßigen Hofstrukturen mit allerlei Durchgängen angeordnet sind. Es entstehen sehr intime, stark geschlossene, aber doch immer für den Passanten durchlässige Bereiche, deren Außergewöhnlichkeit noch dadurch verstärkt wird, daß den Erdgeschossen mittelgroße Gärten mit niedrigen Betonbrüstungen vorgesetzt sind. Garten jedoch erscheint fast der falsche Begriff, da sie zwar privat in der Bewirtschaftung, aber völlig öffentlich in der Wirkung sind. Es sind keine abgeschlossenen Räume, die nur für einen Bewohner oder eine Familie da sind, sondern vielmehr offene Räume der Kommunikation mit den Nachbarn und Passanten, ob diese nun direkt in Gesprächen oder indirekt über die Bepflanzung, die sich im Sommer als Blumenpracht zeigt, geschieht. So großartig wie die niedrigen Betongeländer, die eher symbolische Begrenzungen sind, zu deren Übertreten man bloß eine freundliche Einladung braucht, sind auch alle weiteren baulichen Details. Die oft weit vorgesetzten, beinahe laubengangartig wirkenden Betondächer der Eingänge wie auch die mal an einer Ecke weit vorragenden, mal zwei Gebäude verbindenden Balkone werden von dünnen schwarzen Stahlstützen getragen, wobei bei letzteren noch viel mattes Glas hinzukommt. Die Gebäude selbst, deren hellgraue Betonfassaden viele Vor- und Rücksprünge, die die bewegte, unregelmäßige Hofstruktur noch betonen, haben, zeichnen sich durch farbige Putzflächen unter den Fenstern aus. Die Farben dienen dazu, die einzelnen Teile des Wohngebiets zu unterscheiden, es gibt Gelb, Orange, Grün, Blau, Violett.
Keine Straßen führen durch das Wohngebiet. Stattdessen gibt es mehrere Stichstraßen, die von einer um das etwa runde Wohngebiet führenden Straße tieferliegend in dieses hineinführen und in runden Plätzen mit Garagen-, vielleicht Tiefgarageneinfahrten enden. Diese Stichstraßen nun sind nicht etwa versteckt, sondern städtebaulich noch zusätzlich betont. Rechts steht jeweils ein bis zu achtgeschossiges Gebäude, das vor seinem Eingang, neben dem immer noch ein kleiner Laden ist, einen aufgestützten Bauteil bis zum Rande der Stichstraße hat, so daß der gesamte Fußgängerverkehr dort hindurch muß. Und über die Stichstraße spannt sich jeweils eine Fußgängerbrücke.
Steht man über den Garagen, oberhalb des runden Platzes, blickt man so gleichsam einen vom allgegenwärtigen Grün gefaßten Kanal aus Beton entlang, über den sich eine schlanke Brücke zu einem der höheren Gebäude schwingt. In der Tat drängt sich der Vergleich mit Venedig auf. Die Kanäle, die Brücken, die engen verwinkelten Gassen voller überraschender Durchgänge, alle Elemente sind da. Doch selbstverständlich ist es fortschrittliches, geplantes, mithin völlig anderes Venedig. Wo die Gassen in Venedig wahrhaft Chaos sind, da sind sie in Zamość‘ Nowe Miasto doch immer klar und übersichtlich, verlaufen wird man sich nicht. Wo man die Brücken in Venedig überqueren muß, weil man anders eben nicht über das Wasser kommt, da überquert man sie hier, weil es sich anbietet, weil es naheliegend ist und dem natürlichen Fluß des Fußgängerverkehrs entspricht. Das ist keineswegs selbstverständlich. Fußgängerbrücken sind ja eines der problematischsten Elemente des Städtebaus. Oft fehlen sie dort, wo sie dringend notwendig wären, oder sind dort vorhanden, wo sie wenig nützlich sind. Daß sie aber an genau der richtigen Stelle stehen, so, daß man kaum bemerkt, wenn man sie benutzt, weil es so selbstverständlich ist, das ist wahrlich selten und es ist immer ein Zeichen von größtem städtebaulichem Geschick.
Auf der anderen Seite der höheren Gebäude sind jeweils Kindergärten angeordnet, deren Farbgebung sich nach der des jeweiligen Wohngebietsteils richtet. Die sonstigen Gemeinschaftseinrichtungen finden sich alle am Rande des Wohngebiets. Unweit der Schule und an der Straße zum Zentrum von Nowe Miasto hin gibt es Kaufhalle. Ein größeres Zentrum, zu dem auch noch ein Restaurant gehört, ist am westlichen Rand. Es steigt in zwei Stufen an bis zu einer Fußgängerbrücke, die über die Ringstraße in ein andere kleines Wohngebiet führt. Während auch diese Brücke noch perfekt positioniert ist, gibt es am Wohngebiet jenseits von ihr nichts von Interesse. Seine konventionelle, zwischen Offenheit und Geschlossenheit unentschlossene Struktur, läßt die Brillanz des beschriebenen Osiedle nur umso stärker hervortreten.
In anderen sozialistischen Staaten gibt es nur wenig, was mit diesem Wohngebiet zu vergleichen ist, einige Wohnanlagen in Gottwaldov vielleicht. Aber auch der Vergleich zu kapitalistischen Staaten greift vielleicht zu kurz. Sicher, die Bungalows lassen an Gegenden in der Westberliner Gropiusstadt denken, die Fußgängerbrücken an Frankfurts Nordweststadt und die Gärten haben etwas Englisches, aber alles an diesem Wohngebiet geht doch über diese Vorbilder hinaus. Insbesondere die Gärten haben nichts mit den englischen, diesen unglücklichen, hoch umzäunten Erben des terraced house, gemein. Nein, in dieser Osiedle ist etwas ganz Eigenes und ungewöhnlich Gelungenes entstanden. So überrascht es auch nicht, daß es als Experiment im Rahmen des Program Rządowy 5 (Regierungsprogramm 5, PR 5) gebaut wurde. Eigentlich hätten in anderen Städten weitere experimentelle Wohngebiete entstehen sollen, doch ob der wirtschaftlichen Probleme in den Achtzigern blieb es bei diesem. Was man in Zamość sieht, ist also nicht weniger als eine Ahnung von dem, was die polnische Architektur unter glücklicheren Umständen vermocht hätte. Vielleicht hat das auch mit dem Genius Loci zu tun, vielleicht wußte jemand in der PRL, was er tat, als er dem Osiedle den Namen Jan Zamoyskis gab. Denn es ist keine Frage, genau so wie hier Bohdan Zieliński hätte Bernardo Morando gebaut, wenn er im sozialistischen Polen der Siebziger einen Auftrag bekommen hätte. Und wenn die Altstadt von Zamość ein Padua des Nordens sein soll, wieso das Osiedle im. Jana Zamoyskiego in seiner Neustadt nicht ein Venedig des Nordens?