Die Villa Tugendhat ist ein Schloß. Das wird in vielen Betrachtungen dieses äußerst berühmten Gebäudes in Brno vielleicht übersehen, aber es ist offenkundig. Sie ist ein Schloß nicht nur wegen ihrer Funktion als Wohnsitz einer äußerst reichen Familie, denn das hat sie, wie ebenfalls gerne übersehen wird, mit allen Villen gemeinsam, sondern vor allem wegen ihrer Lage und ihrer Formen.
Die Villen des 19. Jahrhunderts wollten alle Schlösser sein und stahlen dafür die Formen von Renaissance und Barock. Was sie aber nicht stehlen konnten, waren die wahrhaft exklusive Lage und die Ausnutzung landschaftlicher Gegebenheiten, die die Schlösser insbesondere des Barock weit mehr auszeichneten als ihre Formen. Sie versuchten es vielleicht, aber sie scheiterten. Die Besitzer dieser Villen, die kleineren und größeren Kapitalisten, waren, anders als der Adel, der von seinen Ländereien lebte, darauf angewiesen für ihre Geschäfte in der Nähe der Städte zu sein und dort gab es nur begrenztes Bauland. Letztlich entstanden so Villenviertel, in denen sich auf relativ kleinen Grundstücken jämmerliche Kopien von Schlössern reihten. Die Villa des 19. Jahrhunderts war eine Schwundform des Schlosses. Selbst dort, wo die allerreichsten Kapitalisten Villen bauen konnten, die in Lage und Ausnutzung der Landschaft den Schlössern der vorangegangenen Jahrhunderte gleichkamen, blieb das Problem, daß sie keine eigenständigen Formen hatten.
Die Villa Tugendhat war im Jahre 1930 die Lösung für dieses Problem, das selbstverständlich nur für die Kapitalistenklasse eines war. Sie war das Schloß neuen Typs. Ganz wie bei einem Schloß kann man auch die Schönheit und Bedeutung der Villa Tugendhat nur im Wissen um und in Abstraktion von ihrer gesellschaftlichen Funktion beurteilen.
Was zuerst auffällt, ist, wie sehr alles an der Villa Tugendhat auf Privatheit ausgerichtet ist. In der Černopolní, einer sonst von eher bescheidenen Villen geprägten Straße, könnte man sie fast übersehen. Ein Flachbau nur, rechts die große Garage, in der Mitte, weiter von der Straße zurückgesetzt, unter einem schmalen Flachdach ein Durchgang auf die Terrasse und der Eingang, zum dem sich von links eine milchige Glaswand schwingt, links dann, wieder etwas näher an der Straße, eine bloße weiße Wand, deren einzige Öffnung weit oben ein schmales Fensterband ist.
Aus Přeučil, František: Brno a okolí, Praha 1973
Erst vom Garten, am Hang unterhalb der Villa, in den es von den Nachbargrundstücken keinerlei Einblicke gibt, sieht man sie ganz. Drei Geschosse hat sie nun. Der Bauteil links, unter der Garage, ist weit zurückgesetzt, kaum sichtbar, so daß man schon baulich ausgedrückt sieht, daß er nur Wirtschaftsfunktionen und der Unterbringung des Personals dient. Die eigentliche Villa ragt bis weit in den Garten hinein. Im obersten Geschoß, neben dem schon von der Straße gesehenen Durchgang, zwei Zimmer, Schlafzimmer der Eheleute Tugendhat wohl, dann eine große quadratische Dachterrasse, zu der sich, man ahnt es, ohne es sehen zu können, von links und von rückwärtig weitere Zimmer öffnen, während in ihrer rechten, offenen Ecke Kletterpflanzen auf einem Stahlgestellt wachsen. Das Erdgeschoß ist fast öffnungslos, hier war sicher die Küche.
Das eigentlich Bemerkenswerte, das Herz der Villa ist aber das mittlere Geschoß, das unter dem weißen Streifen aus Decke und Terrassenbrüstung völlig transparent ist. Am Erdgeschoß vorbei führt eine große Freitreppe zu einer kleinen Terrasse links. Der Rest der vorderen und der rechten Seite besteht einzig aus großen Glasflächen. Dahinter sieht man das Innere der Villa. Es ist im eigentlichen nur ein riesiger Raum, der aber locker in mehrere Bereiche geteilt ist. Links eine etwa halbrunde mit dunklem Holz verkleidete Wand, vor der ein großer runder Tisch steht, der Eßbereich. Rechts eine gerade Wand, die mit einem ocker marmorierten Stein verkleidet ist. Zwischen diesen beiden Wänden mündet die Treppe, deren Schwung man von der Straße schon in der milchigen Glaswand angelegt sah. Die zweite Wand separiert den Wohnbereich in einen rückwärtigen, etwas dunkleren Teil, wo ein weiterer Tisch und ein Klavier stehen, und einen lichtdurchströmten vorderen Teil, wo einige stählerne Möbel, insbesondere eine Liege mit rotem Leder, die den Farben der beiden Wände eine weitere Nuance hinzufügt, stehen. Die rechte Fensterfront ist eine doppelte, da in ihr ein langgezogener Wintergarten mit flachem Wasserbecken und üppigen exotischen Pflanzen angeordnet ist. Durch schwere Vorhänge läßt sich die fließende Raumstruktur weiter in kleinere Einheiten aufteilen. Möglich wird diese enorme Offenheit dadurch, daß das Geschoß darüber von zierlichen, zuerst kaum sichtbaren stählernen Stützen in der Form eines abgerundeten Kreuzes, draußen matt golden, innen glänzend silbern, getragen wird.
So vollkommen ist die Transparenz dieses Raums, daß es übertrieben, nurmehr verschwenderisch erscheint, daß sich einige der großen Glasflächen noch dazu elektrisch in den Boden versenken lassen. Aber die Villa Tugendhat ist eben ein Schloß und Verschwendung gehört immer zu einem solchen.
Mit der Transparenz des Wohngeschosses öffnet sich die Villa Tugendhat der Stadt. Man hat von dort perfekte Blicke über das Zentrum von Brno, die Festung Špilberk liegt auf einem anderen Hügel fast direkt gegenüber. Doch es ist eine einseitige Öffnung, denn von der Stadt aus kann man die Villa nie sehen. Sie ist also kein Schloß mehr, das der Machtdemonstration dient, sondern ein Lustschloß, von dem aus die Stadt, die Landschaft, die ganze Welt zur Kulisse wird. Am engsten ist sie daher mit dem Schloß Belvedere in Wien verwandt, das zu seiner Stadt dasselbe einseitige Verhältnis hat.
Neben der Lage sind es paradoxerweise gerade die Formen, die die Villa Tugendhat zum Schloß machen. Ihre radikale Reduziertheit und ihr Verzicht auf jede historische oder sonstige Verzierung waren nicht zuletzt ein perfektes Mittel, sie von den Gebäuden, in denen das Volk lebte, zu unterscheiden. Das hatten die Villen des 19. Jahrhunderts nie gehabt, da auch die Mietskasernen des Volks ähnliche historistische Formen hatten. Echte Schlösser aber sahen immer völlig anders aus als die Hütten des Volks.
Im Unterschied zu den Schlössern der Vergangenheit wurde die Villa Tugendhat nicht in stabile gesellschaftliche Verhältnisse hineingebaut. Sie fand Nachahmer, aber Schlösser wurden die keine mehr, da sich auch die Welt wandelte und das ostentativ Neue allgegenwärtig wurde. Die Villa Tugendhat wurde vielleicht das letzte Schloß überhaupt. Sie war das zeitgemäße Schloß für eine Zeit, die keine Schlösser mehr haben sollte.
Indem die fortschrittliche Architektur hier für den Schloßbau verwendet wurde, verlor sie ihren fortschrittlichen Inhalt, der weniger in diesen oder jenen Formen bestand, als darin, günstigen und guten Wohnraum für alle zu schaffen. Die Villa Tugendhat löste wie gesagt ein Problem, das nur für die Kapitalistenklasse bestand: wie sich zeitgemäß schmucklose Architektur genauso luxuriös und teuer gestalten ließe wie die überkommene ornamentale Architektur. Es ist schwer, von der Qualität dieser Lösung nicht beeindruckt zu sein. Aber die besten Architekten arbeiteten damals an einer Architektur für eine neue Zeit, eine Zeit ohne Schlösser und Villen. Das Wichtigste und Fortschrittlichste an der Villa Tugendhat waren denn die Anregungen, die sie, etwa durch den freien Grundriß, dieser Architektur gab. In dem Maße, wie die wirklich fortschrittliche Architektur des Sozialismus und des in Reaktion auf diesen entstandenen Wohlfahrtsstaats die Welt zu verändern begann, wurde die Villa Tugendhat zu einem schönen, aber etwas bizarren Relikt.
Was mit dem Gebäude der Villa Tugendhat selbst geschah, war fast egal. In der sozialistischen Tschechoslowakei diente sie unter anderem als Tanzschule, wofür die Räume sich gut eigneten, heute ist sie, wie oben beschrieben, ein aufwendig renoviertes Denkmal, das für immer ein idealisiertes 1930 sein will. Sie kostet teuren Eintritt und über die Marmorböden darf man nur mit Pantoffeln gehen. Ganz wie in einem Schloß also.
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