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Der tschechoslowakische Kompromiß

Die Plastik der sozialistischen Tschechoslowakei wollte abstrakt sein, wie alle tschechoslowakische Kunst, mußte aber, jedenfalls, wenn sie an die exponiertesten Orte wollte, zumindest irgendwie als sozialistischer Realismus einzuordnen sein. Als Kompromiß entstand oft keine Mischform, keine gemäßigte Abstraktion und kein abstrahierter Realismus, sondern ein Nebeneinander. Realistische Plastiken wurden neben etwas Abstraktes gestellt.

Das prominenteste Beispiel ist ein Werk von Vincent Makovský, das meist „Nový věk“ (Neues Zeitalter), aber auch manchmal „Atomový věk“ (Atomzeitalter) genannt wird und vor dem Parlament in Prag

Aus Autorenkollektiv: Praha, její krásy, Praha 1985 (Bilder zum Vergrößern anklicken)

sowie der Messe in Brno steht.

Aus Budík, Miloš/Sámková, Eva: Brno v 80 barevných fotografiích, Praha 1975

Zwischen einer Frau in einem beinahe antikisierenden Kleid, die Blumen hält, und einem Mann in einem langen Kittel, der zusammengerollte Pläne hält, ist da ein Knäuel ineinander verschränkter Streben, das an Strahlen oder eine Explosion denken lassen kann, aber an sich nichts ist als eben eine abstrakte Form. Mit einem beliebigen Namen interpretiert könnte es auch ein selbständiges Kunstwerk sein. Hier aber flankieren es die beiden völlig realistischen und, wenn man will, sozialistischen Figuren.

Aus Ehm, Josef: Praha, Praha 1977

Ein anderes Beispiel ist die Plastik des Památník československo-sovětského přátelství (Denkmal der tschechoslowakisch-sowjetischen Freundschaft) von Rudolf Svoboda in Plzeň. Links steht der abstrakte Teil, eine hohe stählerne Stele, auf der eine eckig gefaltete Form horizontal sitzt, rechts der realistische Teil, eine bis zu den Schnallenschuhen detaillierte Bronzeplastik eines Mädchens. Von ihrem rechten Arm wächst etwas nach links zum abstrakten Teil hinüber, nimmt die Faltenformen auf, verbindet beide Teile. Man kann in den abstrakten Teilen somit eine Fahne erkennen, aber sie sind eben nicht eindeutig eine Fahne.

Das ist der tschechoslowakische Kompromiß: für die repräsentativsten Kunstwerke dürfen die Künstler so abstrakt arbeiten, wie sie wollen, solange nur auch ein realistischer Teil dabei ist. Ob mit diesem Kompromiß nun jeder oder niemand zufrieden ist, sei dahingestellt. Wichtig ist, daß es etwas völlig anderes ist als in der DDR, wo sich die Künstler von einer gänzlich realistischen Basis manchmal zu Abstraktem vorarbeiteten, das aber immer viel eindeutiger zu interpretieren war.

Maria in Drag

Wenn die Dreifaltigkeitssäule auf dem Zelný trh (Krautmarkt) in Brno nur Jesus, den heiligen Geist und Gott zeigen würde, wäre sie immer noch das bessere der beiden barocken Kunstwerke auf diesem Platz.

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Aber angesichts des unsäglichen Steinhaufens von einem Brunnen weiter unten auf der ansteigenden Platzfläche ist das kein großes Kompliment.

Budík, Miloš u. Samková, Eva: Brno – v 80 barevných fotografích, Praha 1976

Die Darstellung der Dreifaltigkeit, bei der Jesus und Gott nebeneinandersitzen und der heilige Geist als Taube in einem Strahlenkranz zwischen ihnen schwebt, ist eben weit weniger interessant als die das Gnadenstuhls, bei der Gott den gekreuzigten Jesus zwischen den Beinen hält. Sie wirkt eher wie ein Kaffeekränzchen bei Sonnenuntergang, während die zweite wirklich eine Ahnung vom komplizierten Einswerden dreier Teile, von Dreifaltigkeit, gibt. Auch hier, wo die beiden auf dem großen ionischen Kapitell der Säule und Wolken sitzen, während die Strahlen und die Taube an einem weiteren Teil, durch den die Säule eher zum Obelisk wird, hängt, wird das nicht anders.

Aber da ist noch mehr. Auf dem Sockel vor der flachen puttenbehafteten Säule stehen zwei weitere Figuren: vorne Maria, hinten Johannes von Nepomuk. Diese beiden Heiligen so nah beieinander, Rücken an Rücken, zu sehen, macht ihre Gemeinsamkeiten ungewöhnlich deutlich.

Für sich genommen sind die beiden Skulpturen ganz typisch. Maria in verzückter Verrenkung, die rechte Hand etwas nach unten ausgestreckt, die linke Hand auf der Brust, unter ihr die Weltkugel mit zertretener Schlange.

Johannes von Nepomuk in ganz ähnlicher Verrenkung, Kruzifix und Palmwedel im rechten Arm, die linke Hand seinerseits auf der Brust.

Was sie verbindet, sind ihre Heiligenscheine. Marias hat viele Sterne, Nepomuks nur fünf. Aber sie sind die einzigen beiden Heiligen, deren Heiligenscheine Sterne haben. In dieser Hinsicht steht Johannes von Nepomuk nur wenig unter Maria, der Mutter Gottes. In Brno stehen sie sogar auf einer Stufe, deutlich über den beiden anderen Heiligen, die links und rechts niedrigere Sockel haben.

Die Erbauer der Säule waren sich sicher bewußt, was sie taten, als sie beiden so heraushoben und beisammen zeigten. Ihnen würde es wohl zu weit gehen, würde man in Johannes von Nepomuk eine zweite Maria, eine Maria in Drag sehen wollen, und die beiden zusammen als eigentümliche Zweifaltigkeit. Aber heute ist es schwer, das nicht zu sehen.

Ein Gebäude in Türkis

„Kommunistische“ Architektur sei grau, hört man oft. Dem gegenüber steht dann implizit die Buntheit des Kapitalismus. Völlig falsch ist das, wie die meisten anderen Vorurteile, nicht. In der Tat baute die fortschrittliche Architektur des Sozialismus gerne mit rohem grauen Beton. Doch das tat die fortschrittliche Architektur des Kapitalismus ebenfalls und es ist auch nicht ersichtlich, was am vielfältig nuancierten Grau von Beton schlechter sein sollte als etwa an dem Grau von Stein. Überdies liebte der Sozialismus auch die Farbe. Ein schwer zu übersehendes Beispiel steht in Brno an der Hněvkovského (Hněvkovský-Straße), einer großen Ausfallstraße im Süden.

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Alle Gebäude dieses Bürokomplexes sind ganz und gar nicht grau, sondern türkisgrün. Sie verdanken das einer Verkleidung aus kleinen quadratischen Kacheln, deren heller türkisgrüner Grundton von unregelmäßig eingestreuten dunkleren Kacheln variiert wird.

Es ist wirklich zuerst die Farbe, die man an diesem Gebäude sieht, so stark wirkt sie, ohne dabei grell zu sein. Sie begleitet einen auch, wenn man sich die Zeit nimmt, die Architektur näher zu erkunden.

Der Mittelpunkt ist ein parallel zur Straße stehendes neungeschossiges Bürohochhaus. Seine Breitseiten haben außer der Verkleidung nur Fensterbänder, doch etwas neben der Mitte sind Treppenhäuser leicht vorgesetzt. Sie haben nur an den Schmalseiten schmale Fenster und wirken so als vertikale türkisgrüne Streifen, die die vorherrschenden Horizontalen durchschneiden. Das oberste Geschoss ist fensterlos und mit vertikal strukturiertem dunklen Metall verkleidet. An der südlichen Schmalseite ist ein weiteres Treppenhaus, das aber im Gegensatz zu den anderen weit vorgesetzt ist und dank Glasflächen an den Breitseiten völlig transparent wirkt. Es mag an der alles bestimmenden Farbe liegen, daß das Glas einen leichten Türkisstich zu haben scheint. An der zur Stadt zeigenden nördlichen Schmalseite ist bloß in der Mitte ein vertikales Fensterband. Doch diese flankierend und dann wieder außen ist die Verkleidung in zwei breiten Streifen leicht vorgesetzt, so daß über dem transparenten Erdgeschoß die Vertikalen stark betont sind.

Der zweigeschossige Sockelbau verläuft erst parallel zur Straße, dann quer, wo mittig das Hochhaus an ihn stößt, und dann wieder parallel. Das Erdgeschoß hat dabei im letzten L-förmigen Teil große Schaufenster, während die Obergeschosse nur links und rechts deutlich zurückgesetzt aufragen. Durch vorgesetzte vertikale Verkleidungsstreifen, die denen der vorderen Schmalseite des Hochhauses entsprechen, wirken sie skulptural und wie vom Erdgeschoß losgelöst.

An der Ecke zu einer großen Querstraße rahmt dieser Sockelbau den kleinen Mariánské náměstí (Marienplatz). Er ist heute zuerst Parkplatz, doch in seiner Mitte ist noch immer ein runder Brunnen mit einer hohen stählernen Skulptur. Sie besteht aus zu einem Kreis angeordneten Scheiben, die oben treppenartig vorspringen.

Es ist ein abstraktes Kunstwerk, wie es für die Tschechoslowakei typisch ist. Zu den einfachen, aber markanten Formen und der Farbe des Gebäudes paßt es gut, während zum Namen des Platzes, vielleicht nicht zufälligerweise, kein Zusammenhang zu erkennen ist.

An der Südseite des Hochhauses führt ein verglaster Brückentrakt im zweiten Geschoß zu einem weiteren dreigeschossigen Bau, der mit seinen konventionellen Fensteröffnungen ganz banal wäre, wäre nicht auch er türkisgrün verkleidet und ragten aus dem Dach nicht mehrere große Parabolantennen.

Ein weiterer Brückentrakt verbindet dieses Gebäude mit einer quer zur Straße stehenden Halle.

Ihre hohe Schmalseite scheint ein einziger türkiser Block zu sein, auf dem leicht zurückgesetzt das Dach auf milchigen Glasflächen zu schweben scheint. Es ist erst flach, steigt aber dann in Richtung Hochhaus schräg an und seine Seiten – sind türkis verkleidet.

An der Seitenwand der Halle ist ein weiteres abstraktes Kunstwerk aus verschlungenen dickeren und dünneren Linien, in dem man, vielleicht wegen der dann folgenden Bahnstrecke, eine Gleislandschaft erkennen mag.

Zwischen den einzelnen Gebäuden sind Verkehrsflächen und Parkplätze, aber auch Wiesen mit großen Bäumen, die ihr eigenes, andersartiges Grün beisteuern.

Das Bemerkenswerteste an diesem Komplex ist letztlich nicht einmal die Farbe, sondern die Tatsache, daß die Farbe überall ist. Nicht nur das Hochhaus und die zur Straße zeigenden Seiten nämlich sind türkisgrün verkleidet, sondern alles. Die Rückseiten der Sockelbauten, die Flächen zwischen den rückwärtigen Toren der Halle, alles. Fast lächerlich oder aber selbstironisch wird es, wenn sogar ein kleiner Verteilerkasten nicht ohne die Verkleidung bleibt.

Erst ganz hinten im ersten Hof findet sich eine offenbar ältere Halle mit gelbbraunem Putz. Aber sogar hier ließen es sich die Architekten nicht nehmen, wenigstens den an die neuen Gebäude grenzenden Teile der Schmalseite in Türkisgrün nachzuzeichnen.

Man kann es übertrieben finden, daß hier alles mit dieser Verkleidung gleichsam übergossen ist, aber es sagt auch viel über den Sozialismus. Es gibt hier keine prunkvolle Schauseite und keine häßliche Rückseite. Was nur die dort tätigen Arbeiter sehen, ist nicht weniger wichtig als das, was die weitere Öffentlichkeit sieht. In der türkisgrünen Verkleidung drückt sich der Wunsch nach Ganzheit, nach Einheit aus. Der Kapitalismus kann das niemals verstehen und das zeigt er auch mit dem, was er an dem Gebäudekomplex veränderte. Die zur Stadt zeigenden Schmalseite nutzt er als riesige Plakatwand. Zudem verkleideten einige Geschäfte die Erdgeschoßflächen des Sockelbaus neu. Und die Farbe die sie dazu wählten war – grau.

Es gibt manches über die Buntheit des  Kapitalismus zu sagen. Das banalste, an diesem Gebäude schön zu exemplizieren, wäre, daß es eben die Buntheit der Reklame ist. Weniger banal ist Ronald M. Schernikaus Aussage: „Wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen“.  Aber, und das ist an diesem Gebäude noch besser zu zeigen, oft ist sie nicht einmal bunt.

Die Welt im KFC

Im KFC gegenüber dem Brnoer Hauptbahnhof gibt es im Obergeschoß einen Platz, von dem man über eine Straße hinweg und zwischen zwei Gebäuden hindurch auf die weite Gleislandschaft vor dem Bahnhof blicken kann.

kfcbrnoblick

Nur selten hat man Blicke, die so sehr vom Verkehr, vom Reisen, vom Weg in die Ferne geprägt sind. Auf den gerade Gleisen sieht man ständig Züge ankommen oder davonfahren, vielleicht in fernste Länder, geradewegs auf den Horizont zu, auch wenn vor diesem ein neues Bürohochhaus steht. Auf der Straße sieht man ständig Straßenbahnen vorbeifahren, wenigstens aus den fernsten Teilen der Stadt.

kfcbrnoblickstrassenbahnzug

Und auch die beiden Gebäude, Beispiele des Brnoer Funktionalismus der Zwischenkriegszeit, passen. Das eckige links ist eine Post und das abgerundete rechts ist eine Filiale des Reisebüros Čedok, dessen Logo noch aus einer Zeit stammt, als Züge das üblichste Fernverkehrsmittel und Briefe das übliche Kommunikationsmedium waren. „Svět na dosah ruky“, sagt ein Plakat in einem Fenster des Reisebüros, „die Welt ist in Reichweite“, und wenn man dort im KFC sitzt, kann man das sogar glauben.

Kirche ohne Kreuz

Schon am Tor erkennt man den Friedhof.

TrauersaalŽideniceBrnoTor

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Ein stählernes Muster aus ineinandergesetzten П-Elementen, verändert bei den eigentlichen Torflügeln. Schon an den Bäumen erkennt man den Friedhof. Ausschließlich Nadelbäume, immergrün, manche schlank und in Reihen, andere ausladend und vereinzelt wie Skulpturen. Auch das Gebäude paßt auf einen Friedhof, wieso nicht, moderne Architektur eben. Und wenn man es für sich genommen nicht passend fände, wird es das spätestens durch die Nähe des Tors und der Bäume und den breiten Weg durch eine Wiese, der darauf zuführt.

TrauersaalŽideniceBrnoGesamt

Ein langes Vordach auf eckigen Stützen, ganz mit dunkel gesprenkeltem Stein verkleidet. Dahinter auf einem Teil der Länge dunkles Glas und noch dahinter, rechts der Mitte und etwas kürzer als der verglaste Teil, ein höherer Bauteil, der zwei Fensterbänder, eins nur etwas über dem Vordach, eins deutlich höher, nach vorne zeigt. Von der Seite sieht man, daß das Dach dieses mit dunklem Holz verkleideten Saals erst geschwungen nach rechts aufsteigt, dann vertikal ist und dann geschwungen nach rechts abfällt.

TrauersaalŽideniceBrnoSeite

Parallel zum Vordach schließt dann noch ein Flachbau in ähnlicher Gestaltung an. Links des verglasten Teils der Vorderseite ist ein Durchgang in einen kleinen Hof, dann quer eine schieferverkleidete Wand und abschließend noch ein verglaster Raum.

Ja, das paßt auf einen Friedhof, so kann eine kleine Kirche aussehen. Aber etwas fehlt dazu: das Kreuz oder überhaupt jeglicher Hinweis auf Religion. Das ist kein Zufall, denn es ist keine Kirche. Es ist der Trauersaal des Friedhofs Židenice in Brno, ein säkulares Gebäude für einen säkularen sozialistischen Staat. Auf die Architektur hat das keinen Einfluß. Der Trauersaal unterscheidet sich nur durch das Fehlen des Kreuzes von einer Kirche. Damit verrät er, was das  Gute an vielen Kirchenbauten seit 1945 ist: man könnte sie leicht zu säkularen Zwecken umnutzen.

Der heimliche architektonisches Höhepunkt des Židenicer Trauersaals ist nicht das Saaldach, sondern seine rechte Ecke. Vor ihr stehen in der Wiese ein Nadelbaum und schon auf dem terrassenartigen Vorbereich drei zerklüfftete Steinstelen.

TrauersaalŽideniceBrnoStelen

Die Ecke selbst ist under dem Vordach ausgespart. Links begrenzt sie ein mit dem dunklen Glas kontrastierendes leuchtendes Wellenmuster aus Glas, rückwärtig eine schieferverkleidete Wand, die aber unten eine deutliche Lücke hat.

TrauersaalŽideniceBrnoGlas

Und alles in dieser Ecke ist von Efeu bedeckt.

TrauersaalŽideniceBrnoEfeu

Es wächst die Stütze des Vordachs hoch, gleicht einem Baum an der Seite der rückwärtigen Wand und nimmt auch den Boden ein, sowohl dort, wo einst auch zuvor ein Beet war, als auch dort, wo einst Steinboden war. Denn der Trauersaal steht, wiewohl erst 1984 eröffnet, seit 2007 leer, ein Schicksal, das ihm, wäre er eine Friedhofskirche in einem westlichen Staat, erspart geblieben wäre. Von der auch dem Leben dienenden Friedhofsarchitektur wurde er zum unfreiwilligen Symbol des Sterbens. An vielen Stellen ist denn auch der Verfall offensichtlich. Schieferplatten und auch Teile des teureren Steins fallen herab, liegen in Scherben auf dem Boden oder haben es, will man hoffen, in die Badezimmer findiger Brnoer geschafft. Doch in der beschriebenen rechten Ecke bietet sich das Bild eines edleren, reineren Niedergangs. Das Efeu bedeckt zwar mehr als es sollte, aber noch läßt es die menschengewollten Formen klar erkennen, ja,  sein dunkles Grün läßt die Linien im Glas eher deutlicher hervortreten. Das Wachsen des Efeus ist noch kein Wuchern. Es ist eine Art von Verfall, die die Romantiker in Rom sehen wollten, ein Verfall, der von allem Dreck und aller Häßlichkeit gereinigt ist und sich daher zur Symbolik eignet. So paßt der Trauersaal auch nach dem Verlust seiner Funktion noch  auf den Friedhof. Von der säkularen Kirche, die er war, wurde er zur säkularen Kirchen- oder gar Tempelruine.

Funktional und einsam bleibt ein kleiner Brunnen direkt links neben dem Trauersaal:

TrauersaalŽideniceBrnoBrunnen

eine kleine Betonwand mit einem Hahn oben in der Schmalseite, die schräg in der Ecke einer quadratischen Betonfläche steht, die zu einem runden Ablauf in der Mitte kaum merklich tiefer wird . Besser als ein Kreuz ist das immer noch.

Neben der Villa Stiassni

Die Villa Stiassni (der Name ist eine typische deutsche Schreibweise des tschechischen šťastný, glücklich) sticht unter den in der ersten Republik entstandenen Villen Brnos bestenfalls durch ihr riesiges Parkgrundstück und den geradezu barock-dramatischen Weg, der vom Tor zu  ihr hinaufführt, heraus. Als Gebäude ist sie unauffällig, geradezu konservativ. All das trug wohl dazu bei, daß sie später zum Gästehaus der tschechoslowakischen Regierung wurde, wovon noch eine hübsche Mauer aus Beton und Backstein zeugt.

VillaStiassniBrnoMauer

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Seit kurzem sitzt in der Villa Stiassni nun das Centrum obnovy památek architektury 20. století (Zentrum für die Erneuerung von Architekturdenkmälern des 20. Jahrhunderts). Dazu bekam das Gelände oben einen neuen Eingang, der vor allem aus einem völlig verglasten Flachbau besteht, durch den eine schwebende Treppe in ein kaum sichtbares Obergeschoß mit Dachterrasse führt.

CentrumObnovyPamátekArchitektury20.Století

Man kann sagen, daß der Villa Stiassni damit eine Dosis Villa Tugendhat injiziert wurde. Dagegen ist vielleicht nichts einzuwenden und auch gegen die Denkmalschutzbemühungen des Zentrums vielleicht nicht.

Doch direkt neben der Villa Stiassni ist ein kleines Wohngebiet aus der sozialistischen Zeit, den sechziger Jahren vermutlich.

NeumannovaBrno1

Fünfgeschossige Gebäude, die vorne vorgesetzte Balkone haben, über denen oben das Dach kaum merklich ansteigt, locker verteilt in einem Gelände am Hang, das vielleicht kaum größer ist als das der Villa.

NeumannovaBrnoGrünfläche

Es ist ein Wohnen anderer Art in einem Park anderer Art, es ist ein Gegenentwurf zur Villa Stiassni, der überall anders uninteressant wäre, aber hier durch den Kontrast den Blick schärft. Der Unterschied zwischen diesem Wohngebiet und der Villa Stiassni ist der Unterschied zwischen dem Bauen für alle und dem Bauen für Eliten, der Unterschied zwischen beiden Parks ist der Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Raum.

Daß solche Architektur des 20. Jahrhunderts, die nur bescheiden dem Menschen dienen will, oder auch das Wohngebiets Nový Lískovec am gegenüberliegenden Hang, niemals die Aufmerksamkeit des Zentrums finden wird, reicht vielleicht nicht als Argument gegen dieses, aber es reicht, es nicht unkritisch zu befürworten.

BlickVillaStiassniNovýLískovec

Villa Tugendhat für Arme

Der sogenannte Brnoer Funktionalismus (Brněnský funkcionalismus) schuf viele, darunter großartige, Einzelgebäude, aber keine zusammenhängenden städtischen Räume. Das ist nicht erstaunlich, da der Kapitalismus zu größeren städtebaulichen Leistungen nicht in der Lage ist, jedenfalls der tschechoslowakische Kapitalismus der ersten Republik nicht, jedenfalls nicht in einer großen und alten Stadt. So neu auch die Formen oder die Innenräume, städtebaulich war der Brnoer Funktionalismus der alten Stadt verhaftet. Am Stadtrand, oft an Hängen, entstanden aufgelockerte Villenviertel mit großen Gärten, in zentraleren Teilen entstand Blockrandbebauung. Schon allein, weil es weder zum einen noch zum anderen gehört, ist folgendes Ensemble an der Vranovská so wichtig.

EnsembleVranovskáBrnoStraße1

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Auch hier ist zwar ein kleiner quadratischer Block zwischen den Straßen Vranovská, Zubatého, Jana Svobody und Trávníčková umbaut,

EnsembleVranovskáBrnoHof1

aber nicht lückenlos mit einem Baukörper, sondern von vier fast identischen Gebäuden, die auch auf jede andere Art angeordnet werden könnten.

EnsembleVranovskáBrnoHof2

Das Gebäude an der Vranovská, einer Hauptstraße, ist sieben Geschosse hoch, die übrigen sechs, zwei sind noch weiß, zwei mittlerweile gelb verputzt, sonst unterscheiden sie sich nicht. Jedes der Gebäude hat auf der Straßenseite zwei breite leicht zurückgesetzte Treppenhäuser mit großen Glasflächen, die in jedem Geschoß außer dem obersten von einem Balkon gequert sind.

EnsembleVranovskáBrnoTreppenhäuser

Dazwischen sind paarweise große Fenster und einzeln kleine quadratische Fenster angeordnet. Auf der Hofseite ist der einzige Unterschied, daß das Obergeschoß als Dachterrasse mit Stahlgeländern zurückgesetzt ist.

EnsembleVranovskáBrnoHofseite

Wie bei den Balkonen handelt es sich um Bereiche, die von allen Bewohnern gemeinschaftlich genutzt werden können. Der Hof hat an den Seiten Bäume und in der Mitte eine Wiese. Durch seine Größe, sein Grün und vor allem seine Offenheit, die ihn halböffentlich macht, unterscheidet er sich deutlich von den Hinterhöfen der Blockrandbebauung.

EnsembleVranovskáBrnoStraße2

Das Bedeutende an diesem Ensemble ist, daß es fortschrittliche Elemente des Brnoer Funktionalismus, schnörkellose Form, der Funktion entsprechende Anordnung der Öffnungen, Dachterrassen, aufgreift und daraus einen standardisierten Wohngebäudetyp schafft. Anders als etwa Reihenhäuser, die man in Brno ebenfalls finden kann, ist der hier vorgeschlagene Typ durch seine Größe dezidiert städtisch, während seine städtebauliche Anordnung und mehr noch andere mögliche Anordnungen eine andere Art von Stadt verlangen. Hier ist letztlich die gesamte fortschrittliche Architektur und Stadtplanung der Nachkriegszeit angelegt. Nur naheliegend, daß es sich um einen staatlich geförderten Bau mit Kleinwohnungen aus dem Jahr 1931 handelt.

Während das Ensemble architektonisch in einer ganz anderen Welt ist als seine Umgebung, gehört es sozial heute völlig zu ihr.

EnsembleVranovskáBrnoUmgebung

Etwa an der Grenze zwischen den Mietskasernen des Romaviertels abseits der Cejl und der vorstädtischeren Bebauung des gemischteren Husovice gelegen, bietet es ein Bild der Armut, ja, des Elends, das in Tschechien selten ist. Nur das Grün und die Offenheit mildern diesen Eindruck. Man mag hoffen, daß es sich in den fortschrittlichen Gebäuden auch heute noch, da sie so fern von dem ihnen angemessenen Zustand und der ihnen angemessenen Gesellschaft sind, besser lebt als in den Mietskasernen.

Daß sie eine Villa Tugendhat für Arme seien, ist denn eben keine Kritik, sondern ein Lob, denn guten Wohnraum für alle Menschen zu schaffen, ist das nobelste Ziel der Architektur. Besser als die meisten Architekturtheoretiker drückte das eine schwarze Proletarierin aus Chicago aus, als sie ihre Wohnung in der aus den falschen Gründen berühmten Wohnsiedlung Pruitt-Igoe ein „poor man’s penthouse“ (Penthouse des armen Manns) nannte. Nicht nur ob seiner architektonischen Qualität, sondern gerade auch, weil es eine Begegnung mit den Roma Brnos, dem Subproletariat der ethnisierten tschechischen Klassengesellschaft, bedeutet, ist ein Besuch dieses Ensembles lehrreicher als einer der Villa Tugendhat.

Masarykův Studentský Domov

Wer an Brno und moderne Architektur denkt, der denkt an die Villa Tugendhat. Daß sie ihren Ruhm verdient hat, sei, trotz allem, was an ihr zu kritisieren ist, nicht bestritten. Der Grund für ihren Ruhm sind aber nicht ihre Qualitäten, sondern der simple Umstand, daß ihr Architekt Mies van der Rohe später in den USA äußerst erfolgreich war und seine Gebäude daher von der bürgerlichen Architekturgeschichte kanonisiert wurden. Diese ist im eigentlichen auch keine Architekturgeschichte, sondern eine Aufzählung der immergleichen kanonischen Namen und Gebäude.

Ein objektiverer Blick auf Brno wird verraten, daß es dort noch viele weitere fortschrittliche Gebäude aus der Zeit der ersten tschechoslowakischen Republik, 1918 bis 1938, gibt, die oft nicht weniger gut oder sogar besser als die Villa Tugendhat sind. Angesichts der Fülle der Architektur des sogenannten Brnoer Funktionalismus (Brněnský funkcionalismus), in dem hier alles von Kaufhäusern und Banken über Polizeireviere, Kirchen und Sporthallen bis hin zu Wohngebäuden errichtet wurde, drängt sich die Frage auf, ob nicht Mies van der Rohes Gebäude einfach als ein Ausfluß des genius loci der Stadt zu betrachten ist.

Welchen der betreffenden Bauten Brnos man in einer ohnedies unsinnigen Hitparade als besten wählte, ist egal. Da sind der Palác Alfa, ein Eckbau mit einer Passage, die alle Elemente dieses Raumtyps, Galerie, Uhr, Schaufenster, aufs funktional Notwendigste reduziert, die Moravská Banka am zentralen Náměstí Svobody (Freiheitsplatz), die mit ihrer völlig horizontalen, einzig aus Fensterbändern und weißer Verkleidung bestehenden Fassade so eklatant mit allem ringsum kontrastiert, oder die Zemanova Kavárna (Café Zeman), die sich mit ihrer Glasfassade ganz dem Grün der Parkanlagen um die Altstadt öffnet. Unweigerlich jedenfalls stößt man auf den Namen eines Architekten, der am Bau all dieser drei Gebäude, die wie gesagt nur eine Auswahl darstellen, beteiligt war: Bohuslav Fuchs.

Dieser Name sei hier erwähnt, um zu zeigen, wieso jeder Mies van der Rohe kennt und, zumal außerhalb von Tschechien, nur Experten Fuchs. Mit der Qualität ihres jeweiligen architektonischen Schaffens hat das nichts zu tun, sondern mit den Umständen. Bohuslav Fuchs stammte eben nicht aus dem größten kapitalistischen Staat Europas und machte keine Karriere in Amerika. Noch dazu wurde sein Land 1948 sozialistisch. In diesem Moment hörte es für die westliche bürgerliche Architekturgeschichte auf zu existieren und damit verschwand auch das, was Fuchs geschaffen hatte, als die Tschechoslowakei noch kapitalistisch gewesen war.

Das Gebäude von Fuchs nun, das Gebäude in Brno, an dem man am besten zeigen kann, wie weit die fortschrittliche Architektur in dieser Stadt kam, wie viel weiter als die Villa Tugendhat, ist das Masarykův Studentský Domov (Masaryk-Schülerheim). Im nördlichen Stadtzentrum, zwischen tschechoslowakischer Blockrandbebauung, steht es fast außerirdisch auf einem von drei Straßen umgrenzten rechteckigen Grundstück.

MasarykůvStudentskýDomovBurešova

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Einer von ihnen, der Burešova, wendet es die Fassade eines Eingangs- und Saaltrakts zu. Konventionelle Unterteilungen nach Geschossen werden hier sinnlos. Der rechte Teil ist eben so hoch, wie er für einen geräumigen Speisesaal sein muß. Entsprechend zeigt er eine hohe und langgezogene Fensterfläche zwischen zwei breiten weißen Putzstreifen. Davor ist eine Grünfläche, die von einem halbrunden Betonmäuerchen umgeben ist. Links befindet sich der Eingang, zu dem einige Stufen hinaufführen und über dem ein dünnes Vordach freischwebend nach oben strebt. Der Teil darüber ist eine fensterlose weiße Fläche, schmaler und höher als der Saal, so daß dessen Horizontale eine Vertikale entgegengesetzt ist. Oben wölbt sich die rechte Wand leicht über den Saal.

MasarykůvStudentskýDomovBurešovaCihlářská

Erst wenn man nach links weitergeht, vorbei an einer weiteren, eckigen Grünanlage, kann man sagen, daß das Gebäude hier drei Geschosse hoch ist. Das unterste ist etwas vorgesetzt, vor dem zweiten verläuft eine gittergeländrige Terrasse und das dritte hat eine höhere Fensterfront, hinter der man einen Saal, der auch der Wölbung auf der anderen Seite einen klaren Sinn gibt, weiß. Ein schmaler Trakt mit vertikalen Glasbausteinen, der eine Durchfahrt zu einem Anlieferbereich hat, verbindet den Eingangsbau mit dem quer, aber ganz leicht schräg dazu gesetzten eigentlichen Wohnheimtrakt, der fünfgeschossig ist.

MasarykůvStudentskýDomovCihlářská

An der linken Schmalseite sind Balkone mit massiven Geländern. An der Breitseite, die nach Südosten zeigt, sind Fensterbänder und die nächste Ecke und die rechte Schmalseite umlaufen Balkone mit Gittergeländer.

MasarykůvStudentskýDomovBotanická

Geht man weiter, sieht man, wie der Eingangstrakt mit die Ecke umlaufenden Fensterbändern und zweigeschossig beginnt. Es ist ein Gebäude, dem man nichts hinzufügen oder wegnehmen kann, ein Gebäude, das genau so ist, wie es sein muß.

Wie die Villa Tugendhat wurde das Masarykův Studentský Domov im Jahre 1930 fertiggestellt und beide haben dieselbe Klarheit und Schönheit. Anders als sie aber ist es nicht nur für eine Elite da, anders als sie richtet es sich an die Stadt. Statt einer reichen Familie wohnten dort Kinder. Statt schloßgleich isoliert steht das Gebäude frei in Grünanlagen. Es schafft so zwar noch keinen neuen Raum, fordert ihn aber, ist ein Gegenentwurf zur etwa gleichzeitg entstandenen Blockrandbebauung ringsum. Damit ist das Masarykův Studentský Domov von einer tieferen Fortschrittlichkeit als sie eine private Villa je haben könnte. Wenn man schon bei einer Stadt nur an ein einziges Gebäude denken will, dann sollte es im Falle Brnos dieses sein.

Die Villa Tugendhat als Schloß

Die Villa Tugendhat ist ein Schloß. Das wird in vielen Betrachtungen dieses äußerst berühmten Gebäudes in Brno vielleicht übersehen, aber es ist offenkundig. Sie ist ein Schloß nicht nur wegen ihrer Funktion als Wohnsitz einer äußerst reichen Familie, denn das hat sie, wie ebenfalls gerne übersehen wird, mit allen Villen gemeinsam, sondern vor allem wegen ihrer Lage und ihrer Formen.

Die Villen des 19. Jahrhunderts wollten alle Schlösser sein und stahlen dafür die Formen von Renaissance und Barock. Was sie aber nicht stehlen konnten, waren die wahrhaft exklusive Lage und die Ausnutzung landschaftlicher Gegebenheiten, die die Schlösser insbesondere des Barock weit mehr auszeichneten als ihre Formen. Sie versuchten es vielleicht, aber sie scheiterten. Die Besitzer dieser Villen, die kleineren und größeren Kapitalisten, waren, anders als der Adel, der von seinen Ländereien lebte, darauf angewiesen für ihre Geschäfte in der Nähe der Städte zu sein und dort gab es nur begrenztes Bauland. Letztlich entstanden so Villenviertel, in denen sich auf relativ kleinen Grundstücken jämmerliche Kopien von Schlössern reihten. Die Villa des 19. Jahrhunderts war eine Schwundform des Schlosses. Selbst dort, wo die allerreichsten Kapitalisten Villen bauen konnten, die in Lage und Ausnutzung der Landschaft den Schlössern der vorangegangenen Jahrhunderte gleichkamen, blieb das Problem, daß sie keine eigenständigen Formen hatten.

Die Villa Tugendhat war im Jahre 1930 die Lösung für dieses Problem, das selbstverständlich nur für die Kapitalistenklasse eines war. Sie war das Schloß neuen Typs. Ganz wie bei einem Schloß kann man auch die Schönheit und Bedeutung der Villa Tugendhat nur im Wissen um und in Abstraktion von ihrer gesellschaftlichen Funktion beurteilen.

Was zuerst auffällt, ist, wie sehr alles an der Villa Tugendhat auf Privatheit ausgerichtet ist. In der Černopolní, einer sonst von eher bescheidenen Villen geprägten Straße, könnte man sie fast übersehen. Ein Flachbau nur, rechts die große Garage, in der Mitte, weiter von der Straße zurückgesetzt, unter einem schmalen Flachdach ein Durchgang auf die Terrasse und der Eingang, zum dem sich von links eine milchige Glaswand schwingt, links dann, wieder etwas näher an der Straße, eine bloße weiße Wand, deren einzige Öffnung weit oben ein schmales Fensterband ist.

Aus Přeučil, František: Brno a okolí, Praha 1973

Aus Přeučil, František: Brno a okolí, Praha 1973

Erst vom Garten, am Hang unterhalb der Villa, in den es von den Nachbargrundstücken keinerlei Einblicke gibt, sieht man sie ganz. Drei Geschosse hat sie nun. Der Bauteil links, unter der Garage, ist weit zurückgesetzt, kaum sichtbar, so daß man schon baulich ausgedrückt sieht, daß er nur Wirtschaftsfunktionen und der Unterbringung des Personals dient. Die eigentliche Villa ragt bis weit in den Garten hinein. Im obersten Geschoß, neben dem schon von der Straße gesehenen Durchgang, zwei Zimmer, Schlafzimmer der Eheleute Tugendhat wohl, dann eine große quadratische Dachterrasse, zu der sich, man ahnt es, ohne es sehen zu können, von links und von rückwärtig weitere Zimmer öffnen, während in ihrer rechten, offenen Ecke Kletterpflanzen auf einem Stahlgestellt wachsen. Das Erdgeschoß ist fast öffnungslos, hier war sicher die Küche.

Das eigentlich Bemerkenswerte, das Herz der Villa ist aber das mittlere Geschoß, das unter dem weißen Streifen aus Decke und Terrassenbrüstung völlig transparent ist. Am Erdgeschoß vorbei führt eine große Freitreppe zu einer kleinen Terrasse links. Der Rest der vorderen und der rechten Seite besteht einzig aus großen Glasflächen. Dahinter sieht man das Innere der Villa. Es ist im eigentlichen nur ein riesiger Raum, der aber locker in mehrere Bereiche geteilt ist. Links eine etwa halbrunde mit dunklem Holz verkleidete Wand, vor der ein großer runder Tisch steht, der Eßbereich. Rechts eine gerade Wand, die mit einem ocker marmorierten Stein verkleidet ist. Zwischen diesen beiden Wänden mündet die Treppe, deren Schwung man von der Straße schon in der milchigen Glaswand angelegt sah. Die zweite Wand separiert den Wohnbereich in einen rückwärtigen, etwas dunkleren Teil, wo ein weiterer Tisch und ein Klavier stehen, und einen lichtdurchströmten vorderen Teil, wo einige stählerne Möbel, insbesondere eine Liege mit rotem Leder, die den Farben der beiden Wände eine weitere Nuance hinzufügt, stehen. Die rechte Fensterfront ist eine doppelte, da in ihr ein langgezogener Wintergarten mit flachem Wasserbecken und üppigen exotischen Pflanzen angeordnet ist. Durch schwere Vorhänge läßt sich die fließende Raumstruktur weiter in kleinere Einheiten aufteilen. Möglich wird diese enorme Offenheit dadurch, daß das Geschoß darüber von zierlichen, zuerst kaum sichtbaren stählernen Stützen in der Form eines abgerundeten Kreuzes, draußen matt golden, innen glänzend silbern, getragen wird.

So vollkommen ist die Transparenz dieses Raums, daß es übertrieben, nurmehr verschwenderisch erscheint, daß sich einige der großen Glasflächen noch dazu elektrisch in den Boden versenken lassen. Aber die Villa Tugendhat ist eben ein Schloß und Verschwendung gehört immer zu einem solchen.

Mit der Transparenz des Wohngeschosses öffnet sich die Villa Tugendhat der Stadt. Man hat von dort perfekte Blicke über das Zentrum von Brno, die Festung Špilberk liegt auf einem anderen Hügel fast direkt gegenüber. Doch es ist eine einseitige Öffnung, denn von der Stadt aus kann man die Villa nie sehen. Sie ist also kein Schloß mehr, das der Machtdemonstration dient, sondern ein Lustschloß, von dem aus die Stadt, die Landschaft, die ganze Welt zur Kulisse wird. Am engsten ist sie daher mit dem Schloß Belvedere in Wien verwandt, das zu seiner Stadt dasselbe einseitige Verhältnis hat.

Neben der Lage sind es paradoxerweise gerade die Formen, die die Villa Tugendhat zum Schloß machen. Ihre radikale Reduziertheit und ihr Verzicht auf jede historische oder sonstige Verzierung waren nicht zuletzt ein perfektes Mittel, sie von den Gebäuden, in denen das Volk lebte, zu unterscheiden. Das hatten die Villen des 19. Jahrhunderts nie gehabt, da auch die Mietskasernen des Volks ähnliche historistische Formen hatten. Echte Schlösser aber sahen immer völlig anders aus als die Hütten des Volks.

Im Unterschied zu den Schlössern der Vergangenheit wurde die Villa Tugendhat nicht in stabile gesellschaftliche Verhältnisse hineingebaut. Sie fand Nachahmer, aber Schlösser wurden die keine mehr, da sich auch die Welt wandelte und das ostentativ Neue allgegenwärtig wurde. Die Villa Tugendhat wurde vielleicht das letzte Schloß überhaupt. Sie war das zeitgemäße Schloß für eine Zeit, die keine Schlösser mehr haben sollte.

Indem die fortschrittliche Architektur hier für den Schloßbau verwendet wurde, verlor sie ihren fortschrittlichen Inhalt, der weniger in diesen oder jenen Formen bestand, als darin, günstigen und guten Wohnraum für alle zu schaffen. Die Villa Tugendhat löste wie gesagt ein Problem, das nur für die Kapitalistenklasse bestand: wie sich zeitgemäß schmucklose Architektur genauso luxuriös und teuer gestalten ließe wie die überkommene ornamentale Architektur. Es ist schwer, von der Qualität dieser Lösung nicht beeindruckt zu sein. Aber die besten Architekten arbeiteten damals an einer Architektur für eine neue Zeit, eine Zeit ohne Schlösser und Villen. Das Wichtigste und Fortschrittlichste an der Villa Tugendhat waren denn die Anregungen, die sie, etwa durch den freien Grundriß, dieser Architektur gab. In dem Maße, wie die wirklich fortschrittliche Architektur des Sozialismus und des in Reaktion auf diesen entstandenen Wohlfahrtsstaats die Welt zu verändern begann, wurde die Villa Tugendhat zu einem schönen, aber etwas bizarren Relikt.

Was mit dem Gebäude der Villa Tugendhat selbst geschah, war fast egal. In der sozialistischen Tschechoslowakei diente sie unter anderem als Tanzschule, wofür die Räume sich gut eigneten, heute ist sie, wie oben beschrieben, ein aufwendig renoviertes Denkmal, das für immer ein idealisiertes 1930 sein will. Sie kostet teuren Eintritt und über die Marmorböden darf man nur mit Pantoffeln gehen. Ganz wie in einem Schloß also.