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Tschechoslowakische Bahnhöfe: Křižanov

Křižanov hat einen Bahnhof der Liebe. Alles, alles an ihm ist voller Liebenswürdigkeit. Er stellt sich dabei vielleicht etwas ungeschickt und grobschlächtig an, man muß sich erst auf ihn einlassen, um dann umso reicher beschenkt zu werden.

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Von den Gleisen und seinen beiden Bahnsteigen aus gesehen, besteht er aus einer niedrigen Halle mit Satteldach und einem dreigeschossigen Gebäude mit flachem Walmdach links daneben. Unter den großen Fenstern der Halle und des Erdgeschosses des Gebäudes ist ein Band aus grauen Steinquadern, der Putz ist gelblich-beige und die Dächer sind aus rotem Blech. Wüßte man nicht, daß dies ein Bahnhof ist, man hielte den höheren Teil mit seinen regelmäßig rechteckigen Fenstern und seinen neuen Balkonbrüstungen aus Stahl und milchigem Plexiglas für ein typisches und eher langweiliges Wohngebäude. In der Tat sind außer im Erdgeschoß, wo in der Mitte ein Kontrollraum vorgesetzt ist, Wohnungen. Auf etwa sieben Achteln der Länge beginnt rechts im zweiten Geschoß ein langer und kaum merklich breiter werdender Balkon. Hinter ihm ist auf sechs Achteln eine Nische mit Balkon auch im dritten Geschoß und am Gebäudeende eine weitere, die mit einer runden Stütze endet, um ihm und dem darüberliegenden Balkon zu ermöglichen, noch ein Stück freischwebend weiterzuverlaufen. Es wirkt, als wüßte das Gebäude, daß es recht langweilig ist und versuchte sich so etwas interessanter zu machen. Unter den Fenstern im dritten Geschoß hängen in der Mitte der Bahnhofsname Křižanov in Leuchtbuchstaben und eine große Uhr.

Ein Tunnel führt ebenerdig in die große Halle, die sich parallel zum Bahnsteig erstreckt. An den Breitseiten sind quergesetzte rechteckige Stützen, die bis weit oben, wo sie an den Wänden schon von hellem Putz abgelöst wurde, rötlich braune Kachelverkleidung hat. Auf dem Boden ist grauer Stein und die Decke besteht aus braunem Holz mit querenden Holzbalken.

Von der anderen Seite wirkt der nun viergeschossige Gebäudeteil noch stärker wie ein gewöhnliches Wohngebäude mit regelmäßigen Fenstern, einigen Balkonen und mittigem Treppenhaus.

Die nun links davon befindliche Halle steht etwas weiter vorne und ragt mit ihrem nun gewalmt endenden Dach ein Stück in den anderen Teil hinein. Das Erdgeschoß des Gebäudes wie der untere Teil der Halle sind mit grauen Steinquadern verkleidet, wobei dort in der Halle einige große Fenster sind. Über dem folgenden Eingang ruht auf eckigen Stützen mit derselben Steinverkleidung ein dickes Vordach, das abgerundet beginnt, nach links hin schmaler wird und um die Seite der Halle weiterläuft.

Noch immer wirkt alles etwas schwerfällig und bieder. Das Glas macht nichts transparent, das Vordach will schweben, doch der Stein zieht es herab. Auch das Steinrelief des Prager Bildhauers Karel Hladík an der Wand neben der Ecke paßt in diesen Eindruck. Es zeigt in realistischen Formen Fischer bei der Arbeit, vielleicht in einem der Seen der Umgebung?

Es ist kein großes Kunstwerk an diesem nicht großen Gebäude.

Aber da ist diese Liebenswürdigkeit! Bereits der Tunnel ist ungewöhnlich aufwendig und durchaus nicht gewöhnlich für einen tschechoslowakischen Bahnhofsneubau. Aber eigentlich beginnt die Liebenwürdigkeit damit, daß es den Bahnhof gibt. Er ist viel zu groß, denn um ihn ist ja weit und breit nichts.

Ein properer Vorplatz, zwei zweigeschossige Wohngebäude mit Walmdach, die vor allem dazu zu dienen scheinen, dem Bahnhof Gesellschaft zu leisten, irgendwo abseits eine Holzfabrik, dann erst hinter Feldern, die man doch schon von der Halle aus nicht übersieht, in der Ferne ein Ort mit Kirche und Schloß: das eigentliche Křižanov.

Der Bahnhof scheint für eine Zukunft gebaut, in der er nicht bloß an der kürzesten, sondern auch der schnellsten Strecke zwischen Prag und Brno liegt, und die abzweigende Strecke nach Velké Meziříčí und darüber hinaus ebenfalls wichtiger wird. Tatsächlich gab es diese Zukunft. Die Bahnstrecke, an der Křižanov liegt, begann als Projekt des Protektorats Böhmen und Mähren nach 1938 und wurde 1953 von der nunmehr sozialistischen Tschechoslowakei vollendet. Noch bis in die Neunziger fuhren hier Schnellzüge, erst danach wurde die nördlichere Strecke über Pardubice und Česká Třebová wieder zur schnellsten Verbindung zwischen der ersten und der zweiten Stadt Tschechiens.

Und die Liebenswürdigkeit des Bahnhofs ist in jedem Detail. Man tritt in die Halle und in ihrer Mitte steht eine filigrane Metallkonstruktion, die klappbare Informationstafeln und heute einige Blumentöpfe trägt.

Der Wartesaal, der rechts von der Halle abgeht, hat Fenster zu dieser, aber auch nach außen in den dort neben der Halle gelegenen Garten des Stationsvorstehers.

Er ist heute etwas kahl, auch Blumen gibt es für tschechoslowakische Bahnhofsverhältnisse nur wenige, aber dafür in der gartenferneren Ecke einige ausbleichende Gemäldereproduktionen, von denen eine den Markusplatz in Venedig zeigt.

Auf dem Fenster zum Garten ist eine winzige Ecke mit kostenlosen „Knihy na vlak“ (Büchern für den Zug) eingerichtet. Man möge mitteilen, wohin die Bücher mit einem reisen, bittet ein ausgedrucktes Blatt an der Scheibe, und Leute haben es gleich daruntergeschrieben: „Irsko – Dublin“ (Irland – Dublin) etwa oder „Sýrie“ (Syrien) definiert als ein Internat in Žďár nad Sázavou. Prominent hervorgehoben war im Sommer 2018 Sacher-Masochs „Venuše v kožichu“ („Venus im Pelz“) in einer Taschenbuchausgabe von 1991. Es ist, als wollte der Bahnhof wenigstens auf diesem Wege noch seine Verbindung in die weite Welt erhalten.

Draußen ist der Bahnhof nicht weniger liebenswürdig. Parkplätze gibt es genug, in der Ecke beim Garten ist unter dem Vordach ein Bereich mit Fahrradständern und an einem Baum sind verschiedene Wanderwege in Orte, die so unberühmt sind wie Křižanov selbst, ausgeschildert. Ist es da nicht naheliegend, daß im Garten zwischen Gemüsebeeten einige rote Rosen wachsen?

Das alles, das ist die Liebenswürdigkeit des Sozialismus und was von ihr heute im sozialistischen Gebäude weiterlebt. Sie wird umso anrührender, weil man sieht, wie schwer sie es hat, wie entschieden sie zurückgewiesen wird. Bei beiden Bahnsteigen ist jeweils einer der Treppenaufgänge zugemauert.

Die im Schachbrettmuster gesetzten dunkelroten und grauen quadratischen Kacheln im Tunnel sind an einer Stelle durch hellgraue ersetzt.

Statt der großen Tafeln, die zuletzt noch die Abfahrtzeiten in die Richtungen Havlíčkův Brod, Brno und Velké Meziříčí anzeigten, hängt in der Ecke ein kleiner Flachbildschirm. Von den drei Schaltern ist nur einer manchmal geöffnet.

Doch der Bahnhof Křižanov hat noch nicht aufgegeben. Die Lücke in den Kacheln ist immerhin irgendwie gefüllt, die Bildschirme gibt es immerhin und ein Schalter ist immerhin geöffnet. Außerdem lagern die alten Tafeln noch gut sichtbar in einem Raum neben der Halle, als warteten sie nur darauf, aktualisiert und wieder aufgehängt zu werden, und ein Preßlufthammer für die Aufgänge fände sich sicher auch irgendwo.

Obwohl ihn doch alles eines Anderen belehren sollte, wartet der Bahnhof Křižanov noch immer auf die Wiederkehr der Zukunft, für die er gebaut wurde. Das ist Liebe.