Im mittelböhmischen Březnice gibt es nur zweierlei: Feudalismus und Sozialismus.
Gleich mit dem Bahnhof empfängt einen die ČSSR.
Das Gebäude ist zweigeschossig mit Kolonnaden, weshalb man kaum merkt, daß es links flach wird, und hat grauen Putz und gewellte braune Kacheln. Links die kleine, von Oberlichtern erhellte Bahnhofshalle. Mit Glas öffnet sie sich zu einer großen Treppen- und Rampenanlage unter einem Vordach, die hinab auf den etwas tiefergelegenen Vorplatz führt.
Dort allerdings ist heute rein gar nichts. Die Stadt hält mit ihrem Eingang, dem Bahnhof, nicht mit und Schuld ist der Feudalismus: die Mauern des Schloßparks versperren den Weg.
So geht man auf Umwegen an der Straße hinunter in die Stadt. Man passiert die Brauerei und das Renaissanceschloß. Es ist noch halb umgeben von Mauern mit runden Türmen und schuldet gotischen Vorgängern auch fast alles von seiner unregelmäßigen Form. Nur der Turm und die mit einem Steinquadermuster bemalten Wände sind ganz böhmische Renaissance.
Über die Vlčava oder Skalice, die Schloß und Stadt trennt, führt eine 1899 erneuerte Brücke mit barocken Statuen in den vier Ecken.
Direkt am anderen Ufer trumpft die Stadt mit einer Kirche auf, deren Größe mit der des Schlosses konkurriert. Sie wendet dem Platz, der nicht viel breiter als sie und die Straße links, aber sehr langgestreckt ist, eine hohe barocke Fassade mit zwei Zwiebeltürmen zu. Dieser Stil verrät sie als Jesuitenkirche, links schließt sich ein Jesuitenkolleg an und sogar der Name stammt von den Ordensgründern: Kostel svatého Františka Xaverského a svatého Ignáce z Loyoly (Kirche des heiligen Franz Xaver und des heiligen Ignatius von Loyola). 1650 vollendet ist sie ein Symbol der nach 1620 einsetzenden brutalen Rekatholisierung Böhmens, eine koloniale Kirche gleichsam, die nicht anders als irgendwo in Südamerika oder Indien den Eingeborenen die Macht des Katholizismus zeigen soll.
Dieser Platz und einige Querstraßen, das ist das alte Březnice auch schon fast. Doch eine der Querstraßen führt rechts von ihm ganz unerwartet auf einen weiteren Platz, in dessen Mitte ein simples zweigeschossiges Gebäude mit Walmdach, eckigen Fenstern im Erdgeschoß und rundbögigen im Obergeschoß steht.
Das ist die Synagoge und der Platz ist das jüdische Viertel Lokšany, eine Stadt in der Stadt.
Die Häuser sind heute eher heruntergekommen, Juden leben dort wegen der deutschen Verbrechen keine mehr, die Synagoge wurde erst kürzlich renoviert und ist nun ein Museum. Faszinierend ist eine barocke Sonnenuhr an einer Häuserecke, weil ihre unklaren religiösen Szenen vielleicht keinen christlichen, sondern jüdischen Inhalt haben.
Dicht beeinander hat man in Březnice zwei städtebauliche Ausdrücke von Religion: einmal das Gotteshaus als hohe und mächtige Dominante des Platzes und der Gemeinschaft und einmal das Gotteshaus als niedriger und bescheidener Mittelpunkt des Platzes und der Gemeinschaft. Ob deshalb die Juden von Lokšany weniger oder mehr unter ihrer Religion zu leiden hatten als die Christen von Březnice, ist sicher eine andere Frage. Städtebaulich und architektonisch aber wirkt die Synagoge in der feudalen Stadt fortschrittlicher als die Kirche.
Vom Kapitalismus wie gesagt findet man in Březnice wenig. Dieses Wenige ist zum einen direkte Fortsetzung des Feudalismus: Die gerade herrschende Adelsfamilie baute im frühen 18. Jahrhundert direkt hinter ihr Renaissanceschloß die noch heute bestehende Brauerei, deren großes Gebäude man auch gut für ein barockes Schloß halten könnte.
Lokšany wiederum ist als Geburtsort von Joachim Popper, der im Tabakhandel reich wurde und als zweiter Jude in Österreich einen Adelstitel bekam, mit einer bemerkenswerten Karriere im Spannungsfeld von Feudalismus und Kapitalismus verbunden. Zum anderen fällt das Wenige in die Spätphase des Kapitalismus: am Platz stehen ein Obecní Dům (Gemeindehaus) und eine Post aus der ersten Republik, auch Einfamilienhäuser aus dieser Zeit gibt es an den Stadträndern.
Doch sichtbar ist der Sozialismus. Schon wenn man von der Brücke her den Platz betritt, sieht man in der Verlängerung der Straße fortschrittliche Wohngebäude. Das Wohngebiet beginnt sogar noch früher. Direkt hinter den letzten Häusern der Altstadt schließt es sich an. Einige siebengeschossige Punkthäuser, einige längere fünfgeschossige Gebäude an der nach rechts führenden Straße, einige Läden, viel Grün. Ein typisches Wohngebiet also, das seinen großen Wert durch den engen Bezug zur Altstadt bekommt. Sie ergänzen einander. So wie man vom Platz ein Wohngebäude sieht, sieht man vom Wohngebiet die Kirche, die aus dieser Entfernung nur noch halb so monumental wirkt.
Leicht zu übersehen ist, daß der Sozialismus in Březnice sogar noch näher an den Platz heranrückt. Eine Straßenecke und ein weiteres Gebäude an der linken Platzseite sind in einem leicht historisierenden Stil errichtete Neubauten aus den wohl späten Achtzigern.
Was dahinter ist, würde man nie erwarten. Man tritt nur durch einen Durchgang und ist vom Feudalismus in den Sozialismus getreten.
Vor einem öffnet sich unvermittelt ein weiter Parkbereich am Hang.
Da steht links das Kino, ein einfacher Bau, nur eine eckige Halle mit rotbrauner Kachelverkleidung, die zweigeschossigen Breitseiten niedriger.
Aber in den Ecken der Schmalseite sind abgerundete Treppenhäuser aus bloßem Beton mit horizontalen Rillen auf der Höhe des Geschosses und schmalen vertikalen Fenstern und in der Mitte zwischen ihnen ist ein halbrunder Vorbau aus Glas, der Eingang.
Daneben geht es zwischen Beeten, Bäumen und Wiesen den Hang hinauf, wo ein langes fünfgeschossiges Gebäude vor einem neueren Bau den Abschluß bildet. Mit ausgebauten Dachschrägen gehört es in die allerspäteste Zeit des Sozialismus in der Tschechoslowakei, wie auch das gesamte Ensemble. Man kann anzweifeln, ob es richtig war, nicht nur den alten Platzraum zu respektieren, sondern auch alte Formen aufzunehmen, aber der entstehende neue Raum in direkter Nachbarschaft zum alten ist vorbildlich. Städtebaulich ist es auch eine Fortsetzung dessen, was am jüdischen Viertel fortschrittlich war. Und mit dem Kino bildet auch endlich ein ganz dem Menschen dienendes Gebäude den Mittelpunkt.
Da Březnice eine Kleinstadt ohne nennenswerte kapitalistische Stadterweiterung ist, kann die Architektur des Sozialismus ungewöhnlich nah an die des Feudalismus heranrücken. So bildet das Neue nicht nur einen Rahmen für das Alte, in dem dieses umso besser zur Geltung kommt, sondern es entsteht eine ganz neue Stadt. Fehlte nur noch ein Weg vom Bahnhof durch den Park des ja immerhin staatlichen Schlosses (Státní zámek, eine schöne Bezeichnung für enteignete Schlösser) hinab in die Stadt. Sein Fehlen ist umso absurder dadurch, daß der Park oben durchaus einen Eingang hat, aber so weit entfernt vom Bahnhofsvorplatz, daß ihn ein Ortsunkundiger unmöglich finden kann. Aber wer weiß, was fünfundzwanzig weitere Jahre ČSSR gebracht hätten.
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