Archiv für den Monat Juli 2019

Der Penis des Engels

Am Petkovškovo nabrežje (Petkovšek-Ufer) in Ljubljana steht ein typisches zweigeschossiges Häuschen in historistischen Formen, wie es überall im alten Österreich und weit darüber hinaus stehen könnte.

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Auch das Relief mit dem kleinen Engelchen über dem Eingang will man eher erst einmal keines mehr als streifenden Blicks würdigen, doch man sollte, denn es handelt sich um das vielleicht eigentümlichste Kunstwerk der Stadt und das je an solch einem unscheinbaren Gebäude angebracht wurde.

Der Engel sitzt auf einem Balken, über den er seine wie sein Körper dicken Beine hängen läßt, und hat beide Arme ausgestreckt, um links ein Bündel Blitze und rechts ein Winkelmaß zu halten. So weit, so typisch, mehr als reine Dekoration immerhin, vielmehr ein Symbol für das Schaffen eines Ingenieurs oder Wissenschaftlers, auch der schwarze Stein wohl nicht ganz billig.  Doch zwischen den Beinen des Engels hängt ein ziemlich großer Penis über den Balken. Beschnitten oder mit zurückgezogener Vorhaut hat er so gar nichts Kindliches und wirkt, wiewohl nicht erigiert, beinahe pornographisch.

Ist es also vielleicht gar kein kindliches Engelchen über der Tür des Hauses? Die Züge seines dicken Gesichts sind alterslos, wenn auch weniger unheimlich erwachsen als bei so manchen barocken Engeln, er hat recht viele Haare, auch Flügel fehlen. Ist es vielleicht einfach ein dicker alter Mann? Dann handelte es sich um eine weit konkretere Darstellung des mutmaßlichen Ingenieurs oder Wissenschaftlers, der sie über seinem Hauseingang haben wollte. In die Symbolik paßt der Penis gut: die Hände voll mit Blitzen und Werkzeugen seines Schaffens verzichtet der Mann auf die Sexualität. Daß er sie in dem Relief so ostentativ heraushängen läßt, konterkariert den Verzicht wieder.

Es ist ein paradoxes Kunstwerk, völlig vertraut und völlig fremd im gleichen Moment. Unklar ist, von wann es stammen könnte, und erstaunlich, daß sich zu keiner Zeit irgendjemand genug daran störte, es zensieren zu wollen, doch das ist vielleicht durch die Unscheinbarkeit und folglich relative Unsichtbarkeit des Häuschens erklärt. Es erinnert daran, daß auch im typischsten und banalsten Gebäude die merkwürdigsten Dinge geschehen können.

Heuchelhof

Die Wohnsiedlung Heuchelhof liegt an der Heuchelhofstraße und um ihre etwa runde Fläche legt sich der abzweigende Straßburger Ring. Sechs Stichstraßen führen von diesem in sie hinein: Bonner Straße, Brüsseler Straße, Den Haager Straße, Luxemburger Straße, Pariser Straße und Römer Straße.

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Die Straßennamen ergeben eine EWG im Kleinen und Heuchelhof entstand seit Mitte der Sechziger in der Glanzzeit dieser Institution. Es gehört zu Würzburg, liegt aber so weit von dessen Zentrum entfernt, daß es ebensogut in einem anderen der sechs westeuropäischen EWG-Staaten entstanden sein könnte.

Unter den Stichstraßen sind jeweils Tiefgaragen, deren Einfahrten am Straßburger Ring liegen.

Ihre Eingänge befinden sich in paarweise an den Straßen angeordneten offenen Betonkonstruktionen, die „Mülltonnenhäuser“ heißen, weil unter ihnen auch die Mülltonnen stehen.

Mit horizontaler Maserung, halbrund eingeschnittenen Wänden und in der Mitte einer der Schmalseiten aus dem Dach ragender Wasserrinne sind die ein markantes skulpturales Betonelement in der Siedlung.

Wenn man nicht mit dem Auto, sondern mit der Straßenbahn kommt, betritt man Heuchelhof am Place de Caen, der von der französischen Partnerstadt nicht nur den Namen, sondern auch die Sprache hat. Die Straßenbahn, die von Heidingsfeld die Heuchelhofstraße den Hang hinaufkam, hält unter einer Fußgängerbrücke mit hohem mittigen Pfeiler und Stahlseilen, über die man auf den Platz kommt.

Rechts ist die Kirche, die in Stufen ansteigend schon manche Wohnarchitektur vorwegnimmt, links das Quadrat des Platzes.

Zur Straße hin und nach links legt sich darum eine flache Ladenzeile mit einer wellengleichen Abfolge kleiner Satteldächer, nach vorne begrenzt ihn ein zweigeschossiges Gebäude mit Läden und Arztpraxen.

Zwischen diesem und der Kirche geht es geradeaus weiter, weitere flache Ladenzeilen führen tiefer in die Siedlung hinein, übergeben den Besucher an deren Wegenetz.

Die Stichstraßen geben die Struktur der Bebauung vor, ohne dabei als Hindernisse zu wirken. An ihnen sind jeweils viergeschossige Gebäude, die leicht, fast unmerklich in Terrassenstufen ansteigen. Die Gestaltung ist dabei jeweils leicht unterschiedlich, mal quadratische Rahmen um die Terrassen, mal sechseckige Elemente in den Terrassenwänden.

Jenseits dieser Terrassenhäuser wird die Bebauung höher, die Gebäude wachsen von acht Geschossen bis zu sechzehngeschossigen Hochhausteilen an.

Das ist die Skyline von Heuchelhof, die man etwa von der Festung Marienberg weit im Süden in den Hügeln, scheinbar weit jenseits der Stadt wie der Vorstadt, liegen sehen kann.

Wichtiger für einige glückliche Bewohner hoher Wohnungen ist, daß sie ihrerseits Blicke auf die in die Weinberge eingebettete Stadt haben. Wichtiger für alle sind die wohldurchdachten Wege, die auch unter aufgestützten Teilen der höheren Gebäude hindurchführen könnten, und die Freiflächen, zu denen einige große Spielplätze und Wiesen gehören.

Zu den Mülltonnenhäusern aus Beton kommen vor den Gebäuden betonumrandete Beete, andere Betonelemente und Sitzgelegenheiten aus halbrunden Betonschalen, die an mittelalterliche Stühle erinnern.

Das ist alles gut und hübsch, nicht so großzügig, wie es in einem sozialistischen Staat wäre, dafür mit Tiefgaragen, typische westdeutsche Architektur seiner Zeit, aber durch die städtebauliche Lösung weit über deren Durchschnitt. Es bleibt allerdings das Problem, daß Heuchelhof einfach zu weit von Würzburg entfernt ist, ohne gleichzeitig ohne es auszukommen. Es liegt verloren in den Hügeln, eine Insel unerfüllter wohlfahrtsstaatlicher EWG-Versprechen zwischen Einfamilienhäusern. Falls Würzburg irgendwann einmal stolz darauf war, ist das lange vorbei. Heute steht Heuchelhof, zu Recht oder zu Unrecht, für soziale Problem und Kriminalität. Die Einwohnerschaft ist stark russisch geprägt, am Place de Caen gibt es außer einem Nahkauf-Supermarkt auch einen Laden namens Astana und ein Stück weiter einen namens Moskau.

Man muß Heuchelhof nicht gesehen haben, um Würzburg gesehen zu haben, aber wer Westdeutschland sucht, der kommt um Heuchelhof schwer herum.

Über Blockrandbebauung 

Blockrandbebauung ist die effektivste Ausnutzung von Flächen unter den Bedingungen des Privatbesitzes an Grund und Boden, also im Kapitalismus. In der klassischen Ausprägung, der in Deutschland die fälschlich so genannten Gründerzeithäuser des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu verdanken sind, bedeutet das: an der Straße die beliebigen mehr oder weniger repräsentativen Fassaden und im Blockinneren ein unzusammenhängendes Gewirr von Hinterhöfen, Hinterhäusern, Werkstätten, Kleinindustrie. Der öffentliche Raum bleibt auf die Straßen beschränkt, die aber gleichzeitig dem Verkehr von Fuhrwerken und Autos dienen. Dazu kommen Plätze und Parks, mehr in bürgerlichen, weniger in proletarischen Vierteln.

Illustration von Ruth und Rudolf Peschel aus Piltz, Georg: Streifzug durch die deutsche Baukunst, Berlin 1972

Das Problem daran war, daß das für die weitaus meisten ihrer proletarischen Bewohner ein Leben ohne Licht, mit schlechter Luft und in verheerenden hygienischen Bedingungen bedeutete. Dieses Problem besteht jedenfalls in Deutschland nicht mehr. Die verschmutzende Industrie ist aus den Hinterhöfen verschwunden, die meisten Wohnungen wurden mit enormem Aufwand saniert und das fehlende Licht ist nunmehr weitgehend eine Lifestylefrage. Doch das bleibende Problem an Blockrandbebauung, die zu bauen auch nie aufgehört wurde, ist, daß sie eine unnötige Einschränkung und Verengung des öffentlichen Raums in der Stadt darstellt.

In einer offenen Stadtstruktur sind all die Hierarchien zwischen Blockinnerem, Straßen und Plätzen abgeschafft. Der öffentliche Raum ist grundsätzlich überall. Die Gebäude stehen frei innerhalb von parkartigen Grünflächen, es gibt in fußläufiger Entfernung Zentren des gesellschaftlichen Lebens und der Versorgung mit allem Notwendigen, Fußgänger- und Autoverkehr sind so weit wie möglich getrennt, die Industrie ist abseits der Wohnbebauung konzentriert. Eine solche Stadt, die allen gehört, paßt zu einer Gesellschaft, in der es keinen Privatbesitz an Grund und Boden mehr gibt: dem Sozialismus.

Olsztyner Höhepunkte: Planetarium

Der erste der Olsztyner Höhepunkte ist das Planetarium, das seinerseits zum wichtigsten Platzensemble aus der sozialistischen Zeit gehört. Links nach der Kreuzung der von der Altstadt kommenden Aleja Zwycięstwa (Allee des Siegs, heute Aleja Piłsudskiego, Piłsudski-Allee) und der vom Bahnhof kommenden Kościuszki (Kościuszko-Straße) steht quer ein achtgeschossiges Bürogebäude mit großem Sockelbau und Terrassen unter aufgestützten Leisten an den Seiten des Dachs, heute wie zur Erbauungszeit Sitz einer Bank.

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Davor öffnet sich nach einer Querstraße links der großen Straße ein Platz, der von einem langgestreckten viergeschossigen Verwaltungsbau, hinter dem es bereits in neuere Wohngebiete geht, abgeschlossen ist, heute Sitz der Stadtverwaltung, früher der PZPR (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei).

Heute ist der Platz als Plac Solidarności (Solidarnośc-Platz) vor allem ein Parkplatz, in den erst im oberen Teil am ansteigenden Hang ein kahler Bereich mit Bänken und Denkmal gesetzt ist, das mit weißem Adler und „Bóg, honor, ojczyzna“ (Gott, Ehre, Vaterland) ein denkbar uninspirierter Ausdruck des polnischen Nationalismus ist.

Rechts der Straße war früher ein Park, während gegenwärtig ein Einkaufszentrum gebaut wird. Besonders gelungen war der Platz leider wohl nie, immer war er zu sehr von der großen Straße zerrissen.

Höher am Hang auf der rechten Seite, oberhalb des Parks und nur etwas unterhalb der Hügelkuppe, steht das Planetarium, das bei der Eröffnung 1973 den schönen Namen Planetarium Lotów Kosmicznych (Raumflugplanetarium) trug. Breite Treppenanlagen führen entlang der Straße zwischen Nadelsträuchern zu ihm hin.

Es ist einfaches zweigeschossiges Gebäude mit steinverkleidetem Erdgeschoß und leicht überstehendem Obergeschoß, aus dem oben die große Kuppel ragt, Rundes auf Eckigem. Neben dem breiten Eingang steigt eine Treppe nach rechts zu einer Terrassenebene höher am Hang an, wo nunmehr flache Anbauten des Planetariums sind. Zwischen dem eigentlichen Planetarium links und einem verglasten Teil rechts, wo heute eine Bibliotheksfiliale ist, führt ein Durchgang unter schmalen Betonlamellen in einen Innenhof. Und auf einmal sind da nur noch Farben und Formen.

Die ganze gegenüberliegende Wand ist eingenommen von einem großen Kunstwerk aus unterschiedlich großen quadratischen weißen Emailleplatten mit größeren und kleineren halbrunden Vorwölbungen oder flachen Flächen, die mit konzentrischen Kreisen in verschiedenen Farben bemalt sind.

Es sind diese Farben, die so erstaunen, Farben, die auch an den grauesten Tagen leuchten, Farben oft, die man aus der Natur nicht kennt, aber auch aus Photographien nicht, Neonfarben, wie man sie in Ermangelung einer besseren Alternative nennen will. Rechts ist dieses unregelmäßige abstrakte Muster auf etwa zwei Dritteln der Länge von einer Szene auf glatten Platten unterbrochen: Oben eine grüne und unten eine blaue rechteckige Fläche, die zueinander hin dunkler werden, und darin im rechten Drittel zwei übereinandergesetzte rosa Kreisflächen, die an der Grenze der eckigen Flächen so aufeinandertreffen, daß ihnen jeweils ein Stück fehlt. Darauf zeigen von links oben ein kleiner roter und von mittig unten ein größerer grüner Pfeil, unter dem ein rosa vertikaler Streifen und ein nach rechts abfallendes vielfarbiges Wellenmuster bis zum unteren Rand verlaufen.

Die größten Teile des Kunstwerks sind im besten Sinne abstrakt. Die bunten Kreisformen sind äußerst dekorativ und man findet in ihnen durch die Anbringung im Planetarium dennoch sofort Astronomisches, sieht Ringplaneten und ferne Sonnen. In der zentralen Szene wird es dann beinahe gegenständlich, denn in ihr muß man geradezu einen Sonnenunter- oder -aufgang über dem Meer sehen. Das Kunstwerk hat etwas vage Psychedelisches, Poppiges, das man so in Polen nicht erwartet. Der gut lesbare Name unten im rosa Streifen lautet Stefan Knapp und eine Tafel daneben erläutert, daß er ein in England arbeitender polnischer Künstler war. Das paßt, das Kunstwerk kann man sich leicht im Swinging London vorstellen.

Knapp war nach dem Krieg aus antikommunistischer Überzeugung in England geblieben, hatte sich dort zum Künstler ausgebildet und in den Fünfzigern eine Technik entwickelt, Emaille auf Stahlplatten aufzutragen. Er war auch ein dezidiert westlicher, bürgerlicher, kapitalistischer Künstler. Seine bekanntesten Werke dienten zur Dekoration von Alexander’s-Kaufhäusern in New Jersey und New York. Hatte er in den Fünfzigern noch im damals populären Stil des abstrakten Expressionismus gearbeitet, so fand er in den frühen Sechzigern zu den auch in Olsztyn zu beobachtenden Formen, die der damals populären Op Art zugeordnet wurden. Das Kunstwerk im Planetarium schenkte Knapp, der seiner alten Heimat offenbar verbunden blieb, der Stadt Olsztyn zum fünfhundertsten Geburtstag von Kopernikus im Jahre 1973. So konnte man damals in New York und Olsztyn ganz ähnliche öffentliche Kunstwerke betrachten.

Die Stadt zeigte sich des Geschenks würdig. Nachdem man den Schock der Farben überwunden hat, kann man feststellen, daß der ganze Innenhof die Vorgaben des Kunstwerks aufgreift.

In der Mitte ist eine runde Pflasterfläche, in der drei verschieden große glatte Steinkugeln stehen und im Sommer einen Springbrunnen offenbaren, alle Beete haben abgerundete und gewellte Formen und sogar das schmiedeeiserne Tor des Hofs besteht aus einem Quadratraster mit runden Formen.

Dazu ragt links die Kuppel des Planetariums auf.

Was von außen eine ganz sachliche Verbindung war, wird hier zum umfassenden künstlerischen Programm: das Runde im Eckigen.

Man kann den oberen Teil des Planetariums auch als Tempel begreifen, der dem Kunstwerk als einer aus der Fremde gekommenen und nur halb verstandenen Reliquie gebaut wurde. Er verbindet das beste beider Welten und beiden tut es gut, der kapitalistischen Kunst die sozialistische Architektur und andersherum. Stefan Knapps Werk erging es in dieser Umgebung auch besser als an den New Yorker Kaufhausfassaden, denn die betreffenden Gebäude wurden nach dem Konkurs der Kette in den Neunzigern abgerissen und die einzelnen Emailleplatten bestenfalls in private Sammlerhände zerstreut. Es ist geradezu ironisch: Knapps Technik erlaubte es, beinahe unzerstörbare Kunst zu schaffen, doch der Kapitalismus zerstört alles vor seiner Zeit. Die Kunst braucht den Sozialismus.

Das Olsztyner Planetarium ist ein Höhepunkt der Stadt, aber sie endet mit ihm noch nicht. Wenn man nämlich auf der Terrassenebene um seine oberen Teile weitergeht, sieht man jenseits einer als Park gestalteten Senke auf dem nächsten Hügel die ersten Gebäude eines fortschrittlichen Wohngebiets. Es ließe sich sagen, daß das neue Olsztyn mit dem Planetarium erst beginnt und so sollte es ja mit jedem Höhepunkt sein.

Bürgerliches Iași

Während der Großteil der Häuser von Iași klein und bescheiden ist und im Sommer im Wein verschwindet, gibt es auch hier eine typisch großbürgerliche Architektur. Sie konzentriert sich im Stadtteil Copou bei der Universität, am oberen Teil der durch die Stadt führenden Achse, wo viele Parks sind, überhaupt alles großzügiger und ruhiger wird und eine Kaserne nicht weit ist, damit im Fall der Fälle rasch die Ruhe wiederhergestellt werden kann. Die Achse heißt hier Bulevardul Carol I. (Carol-I.-Boulevard) und aus der Regierungszeit dieses ersten rumänischen Königs (1866-1914) sind auch viele der bürgerlichen Villen. Einige interessantere kann man in der Aleea Copou (Copou-Allee), die vom Boulevard abzweigt und am Rande eines Parks entlangführt, betrachten.

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Zuerst freistehende bürgerliche Mietshäuser, zwei-, dreigeschossig und in allerlei historistischen Formen. Gebäude dieser Art könnten überall in Europa stehen, die Straße hat keinerlei lokales Element mehr, man könnte meinen, Iași, Rumänien, verlassen zu haben. Doch dann folgt ein Gebäude, das zwar ebenfalls überall stehen könnte, aber überall ungewöhnlich wäre und auffiele. Statt an der Straße steht es quer über ihr.

In der Mitte ist unten eine Durchfahrt auf dorischen Säulen, während darüber im zweiten Geschoß eine große und hohe Glasfläche mit seitlichen ionischen Säulchen und Rundbogen die Torform vollendet und vom überstehenden Satteldach mit einer ornamentalen Konstruktion aus Holzbalken beschirmt wird. In der Durchfahrt sind Nischen und zu beiden Seiten Eingänge, so daß der innere Aufbau des Gebäudes unklar bleibt.

Es bleibt ein historistischer Bau, doch er schafft mit der Durchfahrt zugleich einen sehr ungewöhnlichen städtischen Raum und läßt hinter dem Fenster einen prachtvollen Innenraum mit sehr ungewöhnlicher Aussicht erahnen. Solche Experimente, solche Extravaganzen sind das Beste, was man von historistischer Architektur erwarten kann, und daß sie so selten sind, ist nur ein weiteres Argument gegen sie.

Auf der anderen Seite der Durchfahrt verändert sich der Charakter der Straße völlig, man ist eine andere Zeit getreten, die Zwischenkriegs, in der verschiedene Könige regierten, zuletzt der umstrittene Carol II.

Nach wie vor sind dort großbürgerliche Häuser, doch statt historistischen Formen sind sie nun ganz schlicht und eckig, bauhausstilig, weiß verputzt. Das Haus über der Straße ist wie ein Tor zur modernistischen Architektur, die aber nur in den äußeren Formen fortschrittlicher ist. Versteckt hinter Bäumen überläßt es ihnen die weitere Straße völlig. Nach dem Bogen nach links, den die Aleea Copou macht, steht auf der linken Seite ein Haus, das Iașis großbürgerlicher Architektur der Zwischenkriegszeit, besonders gut repräsentiert.

Es ist zweigeschossig, gelblich verputzt, die Fenster in blaßblauem Holz gefaßt, sein Dach flach und leicht gestuft überstehend. Rechts ist der etwas niedrigere Eingangs- und Treppentrakt mit schmalen vertikalen Fensterbändern nach vorne und nach rechts. Der Mittelteil ist etwas vorgesetzt und am höchsten, links schließt wiederum zurückgesetzt und etwas niedriger ein weiterer Teil an. Vor diesen beiden Teilen verläuft ein Balkon, der rechts abgerundet beginnt, abgerundet um die Ecke verläuft und links abgerundet endet. Ursprünglich hatte er wohl nur horizontale Stahlrohrgeländer, doch schon lange ist er mit dünnen Scheiben und einem grünlichen Dach völlig verglast, was ebensogut, vielleicht besser, paßt. Es ist der Balkon, dieses Runde vorm Eckigen, der diese Villa so elegant macht.

Ganz wie die anderen Gebäude der Straße ist auch dieses Gebäude völlig ortlos und international. Es ist ein Kleinod, dem man nur das Beste wünschen kann in der Renovierung, die im Sommer 2018 offenbar anstand.

Was in Iași wirklich wichtig ist, das ist selbstverständlich, so interessant und hübsch das Haus über der Straße und das mit dem gläsernen Balkon sind, nicht in der Aleea Copou zu finden.

Schönheit des Irrwegs oder Reihenhäuser in Gdańsk

Einfamilienhäuser wurden in der PRL (Volksrepublik Polen) viele gebaut, was davon zeugt, wie schwach der Sozialismus in diesem Staat war. Auch Reihenhäuser wurden recht viele gebaut als ein schwacher Versuch, das Wohnen in individuellen Häusern zu kollektivieren. Sie erstrecken sich in Gdańsk in vielen Randlagen und sind zumeist recht trostlos anzusehen, oft ist nicht einmal klar, ob sie vor oder nach 1990 entstanden und es ist auch egal. Wie reizvoll eine Straße mit Reihenhäusern sein kann, wenn städtebauliche Einordnung wie architektonische Ausgestaltung stimmen, kann man in der Kręta (Gewundenen Straße) betrachten, die in Wrzeszcz liegt, aber mit dem typischen Wrzeszcz nichts zu tun hat.

Entscheidend ist, daß an ihrer rechten Seite höher am Hang vier viergeschossige Wohngebäude stehen. Sie sind denkbar klar gestaltet: im Erdgeschoß Garageneinfahrten und vor den oberen Geschossen durchgehende vorgesetzte Balkone, deren Geländer mal aus braunem Holz, mal aus grauem Kunststoff, mal aus Platten mit kleinen quadratischen Kacheln bestehen. Beim Gebäude an der Ecke zur den Hang hinaufführenden Jarowa (Schluchtstraße) laufen die Terrassen der beiden obersten Geschosse zusätzlich um die Ecke. Zwischen den Gebäuden sind im steil ansteigenden Hang üppige Gärten und die teils über Treppen zu erreichenden Eingänge. Daran und an den breiten Fenstern der nicht unterteilten Balkone ist zu erkennen, daß in den Gebäuden pro Geschoß nur eine Wohnung ist, in den beiden obersten womöglich sogar nur eine doppelgeschossige.

Die Reihenhäuser auf der linken Straßenseite bestehen jeweils aus einem breiteren zweigeschossigen Teil und einem schmaleren flachen, der erst weiter hinten wieder zweigeschossig wird. Die flachen Teile zeigen abwechselnd nach rechts und nach links, so daß die einzelnen Häuser mit ihnen aneinanderstoßen und die Reihe etwas aufgelockert wird. Die Erdgeschosse sind jeweils weiß verputzt, die Obergeschosse sind mit dunklem Holz verkleidet und die Linien der etwas höher als die Flachdächer geführten Seitenwände der zweigeschossigen Teile bestehen aus rotem Backstein. Da die Reihenhäuser in schmalen Vorgärten etwas niedriger als die Straße stehen, führen Stege aus Beton zu den mittig gelegenen Eingängen. Diese kleinen versenkten Gärten genügen, mehr üppiges Grün zu den drei Farben der Gebäude zu bringen.

Von der anderen Seite hat jedes der Reihenhäuser in zwei Geschossen durchgehende Balkone mit hölzernen Brüstungen und ein Erdgeschoß mit Garage, das sich zu einem Garten öffnet.

So wird die Hanglage hier voll ausgenutzt.

Was diese Reihenhausstraße von anderen in Gdańsk abhebt, ist vor allem, daß sie nicht nur aus Reihenhäusern besteht, dann, daß die Gebäude so klar und einprägsam gestaltet sind und diese Gestaltung noch keinen Umbauten zum Opfer fiel, und nicht zuletzt, daß die topographischen Gegebenheiten berücksichtigt sind, um allen Wohnungen und Häusern gleichberechtigte Blicke über das Królewska Dolina (Königstal) zu eröffnen.

Das ist zweifelsohne schön und gelungen. Eine solche Straße würde auch in der Tschechoslowakei, etwa in den Hügeln von Brno oder Liberec, nicht auffallen. Aber ebensogut wäre sie in irgendeinem wohlhabenderen Vorort irgendeiner westdeutschen Großstadt denkbar. Das zeigt, falls es nicht ohnehin klar ist, daß Reihenhäuser, ob nun in Polen, der Tschechoslowakei oder sonstwo, eine bürgerliche Wohnform sind. Man kann die stille Kręta nicht entlanggehen, ohne zu spüren, daß sie immer eine privilegierte Lage war. Wer hier in großen Wohnungen oder kleinen Häusern wohnte, hatte mehr als die Bewohner von Przymorze oder von Morena, dessen Hochhäuser über das Tal zu sehen sind.

Daß diese Straße so gelungen ist, ist gerade das Problem, denn sie hätte in einem sozialistischen Staat, der für alle baut, nie eine Priorität sein dürfen. Gerade die besten Reihenhäuser zeigen, wieso es Reihenhäuser nicht geben sollte. Einzig mehr- und vielgeschossige Wohnbauten, die möglichst vielen Menschen nützen und eine möglichst weitgehende Vergesellschaftung der Haushaltsfunktionen erlauben, können wirklich fortschrittliche Architektur sein. Wenn diese dann außerdem die Vorzüge von Reihenhäusern aufgreifen, entstehen Wunderwerke, die wir uns noch kaum vorstellen können.

Preußischer Backstein in Grudziądz

Roher Backstein ist das Material des alten Grudziądz. Die Altstadt sieht auch recht beeindruckend aus, wie sie über hohen Mauern auf einem Hügel am breiten Lauf der Wisła (Weichsel) thront.

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Wenn man jedoch in ihr ist, merkt man schnell, daß hinter den backsteinernen Speicherbauten, die die Mauern abschließen, nicht mehr gar so viel kommt und außer der Kirche nichts aus unverputztem Backstein. Dieses Grudziądz war eine alte Stadt und vieles des Alten in ihr hatte der preußische Kapitalismus zerstört, weshalb es wenig half, vielleicht schadete, daß der Krieg es kaum betraf.

Wenn es in Grudziądz dennoch viel Backstein gibt, dann ist es der Backstein der historistischen Neostile des preußischen 19. Jahrhunderts. Die Wohngebäude sind zumeist verputzt, bloß die ärmlichsten von ihn ihnen und manche Hinterhofseiten zeigen ihre Baumaterial.

Aus bloßem Backstein sind die manchmal kirchenähnlichen Fabrikbauten, dank denen das kleine Grudziądz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beträchtlich wuchs.

Und unbedingt aus Backstein sind die öffentlichen Gebäude, die die wachsende Stadt benötigte. Falls das einen lokalen oder regionalen Bezug herstellen sollte, erschöpft er sich im Material auch schon, denn das kleine alte Grudziądz kannte nie Gebäude wie diese Backsteinkötze, die dafür auch überall sonst in Preußen stehen könnten und stehen.

Besonders viele dieser öffentlichen Repräsentationsbauten befinden sich im Bereich der Sienkiewicza (Sienkiewicz-Straße) und der von ihr abzweigenden Mickiewicza (Mickiewicz-Straße), deren Bedeutung für die Stadt heute an der Benennung nach zwei der wichtigsten polnischen Dichter weit besser zu erkennen ist als an den alten Namen Börgen- und Pohlmannstraße. Von Norden her betrachtet macht den Anfang ein Schulgebäude, das mit Rundbögen und bis zu einem Schornstein reichender irgendwie antik-floraler Ornamentik wohl Neorenaissance sein soll.

Auf der anderen Straßenseite folgt ein typischerer Schulklotz in niederdrückender Neogotik.

Dieser Stil setzt sich auch in dem riesigen Eckbau des Postamts fort, hier vielleicht mehr an imaginierte gotische Rathäuser als an Kirchen angelehnt.

Die tatsächliche Kirche steht ein Stück weiter in der abzweigenden Mickiewicza am Ufer des Kanał Trynka (Trynka-Kanals) und bei ihr wirken die neogotischen Formen etwas weniger lachhaft.

Direkt gegenüber der Post steht ein weiterer Backsteinbau. Etwas in seinen Rundbögen, die teils in romanischer Manier mit einem Säulchen zu Doppelbögen zusammengefügt sind, seinen ornamentalen Bändern und seinen kleinen runden Ecktürmen wirkt orientalisch, was auf ein jüdisches Gebäude hindeutet.

Die offenbar lange verborgene Inschrift oben über dem Eingang bestätigt das: „Erbaut 5633“.

Sie ist heute zweifach fremd, da sie eine in der Stadt nicht mehr gesprochene Sprache und die Zeitrechnung einer in der Stadt nicht mehr vertretenen Religion enthält. 5633 entspricht 1873 und das in diesem Jahr erbaute jüdische Kinderheim mit rückwärtig angeschlossenem Synagogensaal ist dank seinem +-förmigen Grundriß, mit dem es entschieden kein Eckbau ist, immerhin das interessanteste der genannten Backsteingebäude. Zugleich sieht man an ihm, wie jüdische Sakralarchitektur im späten 19. Jahrhundert zu orientalisierender Exotik gezwungen war, sogar wenn sie aus bloßen Backstein bestand. Schon seit den zwanziger Jahren sitzen in dem Gebäude Ämter, weshalb es späteren Zerstörungen glücklich entging.

Es folgt noch ein kleiner Bau des Wasserwerks, der aus unerfindlichen Gründen wie eine Burg aussehen muß.

Was sich mit Backstein sonst noch machen läßt, zeigt die kleine Kirche Św. Jana (des heiligen Jan), die über einem backsteinernen Festungseck am Rande der Altstadt sitzt.

An der von unten sichtbaren Breitseite hat sie nur kleine Fenster und schmächtige Strebepfeiler unter ihrem Satteldach, sie könnte auch ein Schuppen sein und das spricht selbstverständlich sehr für sie. Die Eingangsseite hingegen besteht aus vielen quadratischen, aber mit der Spitze nach vorne zeigenden Streben, die vor dem Abschluß des Satteldachs einen Treppengiebel bilden und in kleinen Pyramiden enden.

Auch dies ist eine Gotik, die es nie gab, aber in seiner Einfachheit kommt das Gebäude ihr doch viel näher. Dieser kleinen Kirche von 1916 fehlt zum Backsteinexpressionismus der zwanziger Jahre schon nur noch die monumentale Größe. Da Grudziądz nach dem ersten Weltkrieg jedoch an Polen kam, blieb ihm dieser meist reaktionäre und oft präfaschistische deutsche Stil erspart. Als nach dem zweiten Weltkrieg auch die deutsche Bevölkerung ausgesiedelt wurde, kam der von der obskuren katholisch-apostolischen Kirche errichtete Bau an die evangelische Gemeinde, die ihr zu groß gewordenes Gebäude am Kanal der römisch-katholischen Kirche überließ. Die Zeit der Backsteinarchitektur war spätestens da vorbei.

Das sozialistische Polen, das seine wichtigsten Werke in Beton schuf, zeigte aber in der Altstadt, daß es auch etwas von Backstein verstand: Durch die kurze Poprzeczna (Querstraße) kommt man auf ein unscheinbares grauverputztes Gebäude zu, links steht der Straßenname Murowa (Mauerstraße), in der Mitte ist eine vertikale rechteckige Stelle im Putz ausgespart, damit man die Backsteinmauer sehen kann, und rechts ist eine weitere ґ-förmige Stelle.

Das ist nicht viel, eine nette Kleinigkeit, fast nur ein Spaß. Aber Preußen ist hier fern und darauf kommt es an.

Hotel Palcát

Daß das Hotel Palcát in Tábor kein herausragendes Gebäude ist, kann man ihm nicht vorwerfen, denn es will ja aus dem überkommenen Stadtorganismus gerade nicht herausragen. Wiewohl siebengeschossig und beim Übergang von der im 19. Jahrhundert entstandenen Neustadt zur Altstadt, sieht man es nie von weiter her, da vor ihm zur Straße 9. Května hin einiger Platz ist. Der Sockel ist zweigeschossig und hat durchgehende Glasflächen beziehungsweise ein hohes Fensterband sowie eine verglaste Ecke mit Treppe. Nach einer Terrasse mit zurückgesetztem Geschoß folgen auf Stützen vier Geschosse mit Fensterbändern.

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Daß die jüngste Renovierung und Wärmedämmung seine Formen und Farben noch banaler macht und man die Eleganz der typisch tschechoslowakischen Steinverkleidung nur noch an wenigen Stellen sieht, kann man dem Hotel schon eher vorwerfen, aber so ist das eben.

Daß es aber das an der Ecke in einem Hochbeet vor ihm stehende Kunstwerk, einen großen palcát (Streitkolben) aus Beton offenbar, Jan Žižkas ikonische Waffe, nach der es heißt, bis fast ganz oben mit Werbeplanen verhüllte, das ist ihm unbedingt vorzuwerfen, dafür ist es zu verdammen.

Denn es war dieses Betonobjekt, das das architektonisch wenig bedeutende Hotel zusammen mit seinem Namen zu einer Art hussitischem Gesamtkunstwerk, das der Stadt Tábor gerecht wurde, gemacht hatte.

Aus Autorenkollektiv: Československo, Praha/Bratislava 1988 (Bild zum Vergrößern anklicken)

Das einzig Gute an dieser schier unbegreiflichen Verhüllung ist, daß man so träumen kann, wie der untere Teil des Kunstwerks in Worten und Reliefs eine einmalig überzeugende Verbindung von Hussitentum zu Sozialismus herstellt, die aus politischen Gründen nicht mehr öffentlich gezeigt werden kann. Dann, und nur in diesem angesichts vieler Kunst der ČSSR leider unwahrscheinlichen Fall, dann wäre die Verhüllung, die keine Zerstörung ist, im Gegenteil ein dankenswerter Dienst für eine Zukunft, in der der sozialistische Betonstreitkolben von Tábor wieder enthüllt werden kann. Und vielleicht könnte dann ja auch das Hotel Palcát ein paar Geschosse mehr bekommen. Leider ist für diesen Traum die Plane wiederum nicht lückenlos genug: das Kunstwerk zeigt – keineswegs nur! – einen Streitkolben.

Das Hotel Palcát hat sich ohne Not selbst kastriert.