Vielleicht liegt es nur an mir, deshalb will ich auf das „man“ verzichten, mit dem – und mit jedem „man“ – es sicher ohnedies ist wie mit dem „man“ von Prousts Professor Brichot, der gefragt wird, ob er in seinen Artikeln über den Krieg nicht etwas zu oft „ich“ schreibe, worauf er zum „man“ wechselt und nur noch von sich schreibt. Vielleicht ist es also nur meine persönliche Vorliebe, daß ich mir wenig Schöneres vorstellen kann als die gewellte Betonfläche, über die das Wasser neben der Brücke in Steinbach bei Michelstadt vom Mühlkanal in die Mümling läuft.
Wenn ich sie sehe, sehe ich vollendete Harmonie. Die stille Fläche des Wassers im Kanal, die wie fließend in die daneben verlaufende lange Betonfläche übergeht, über der das Wasser immer nur in einer ganz dünnen Schicht fließt, während sie in einer sanften Welle nach unten führt und noch etwas gerade weiterläuft, bevor etwas tiefer das nur etwas bewegtere Wasser der Mümling folgt. Für mich ist das schön und ich könnte lange nur dort stehen und dem Wasser auf dem Beton zuschauen.
Diese Überlauffläche ist aber nur ein Teil der gesamten Anlage zwischen Kanal und Fluß und vielleicht wäre sie nicht so schön, wenn sie alleine wäre. Auf der einen Seite ist die Brücke mit ihrem niedrigen roten Sandsteingeländer, unter deren ersten von drei Bögen der Kanal hindurchfließt, auf der anderen aber bald eine Schleuse mit Stahlschrauben, Holztoren und Betonfassung, durch die bei höherem Wasserstand viel mehr Wasser als über die Betonfläche fließt.
Dazwischen ist ein schräges Landstück, das eigentlich bloß Teil des Ufers zwischen Mühlkanal und Mümling ist, aber wie eine Insel zwischen zwei verschiedenartigen Wasserflächen wirkt, auf der unten ein Baum wächst und die oben nur über den Betonsteg der Schleuse und den schmalen Holzsteg zu einer Tür des am Kanal stehenden Gebäudes zu erreichen ist.
Auf kleinem Raum entsteht eine ganz vom Wasser geprägte menschengemachte Landschaft, ein Odenwaldvenedig, dessen Brücken wie das leicht geschwungene Gebäude mit seinem gelben Putz und den rotgerahmten Fenstern und der einen Tür von dem Stahlgeländer, das nur aus einem runden Handlauf aus so weit wie möglich auseinanderstehenden Pfosten besteht, zu einer unwahrscheinlichen Einheit zusammengefaßt werden. Ist hier noch Bewegung, Kontrast und Konflikt, so ist in der durch eine gestufte steinerne Mauer von der Insel separierten Betonwelle nur noch Harmonie, in der alles aufgehoben ist und schön wird.
Doch auf der anderen Seite der Brücke ist noch mehr. Der Kanal fließt an einem Gebäude mit großem Voluten- und Obeliskgiebel, der noch viel von der Renaissance hat, aber von 1735 ist, entlang und verschwindet bald durch ein schräges Gitter unter einer rechteckigen Betonfläche, in der eine weitere Schleuße ist, und einem vorgesetzten Trakt – es ist eine Mühle – während rechts eine schräge Schleuße mit Betonsteg eine weitere Verbindung zum Fluß schafft.
Wieder ist es das Geländer, das die Betonlandschaft vor der alten Mühle zu einer Einheit formt. Erst nach ihr wird der Kanal in langen Stufen niedriger und verbindet sich wieder mit der Mümling.
Es hängt im übrigen völlig von der Jahreszeit und der Wettersituation ab, wie man all das erlebt. Bei niedrigerem Wasserstand im Kanal wachsen in den Ritzen der Betonfläche Gras und ihre Form wirkt ohne das Wasser eher leblos und unscheinbar. Im Herbst sammelt sich auch durch das im Sommer gewachsene Gras auf der Betonfläche zuviel Laub, was ihre Form wiederum beeinträchtigt. Bei Dürre wird das steinerne, offenbar kopfsteingepflasterte Flußbett der Mümling vor der Brücke und unterhalb des Kanals, über das die Enten gehen müssen, zur größeren Attraktion.
Wie vor allem der Beton zeigt, ist dies eine recht neue, sicher nicht vor 1900 entstandene wassertechnische Anlage, wobei die Geländer eher auf die zwanziger oder dreißiger Jahre schließen lassen. Ihre Formen sind gänzlich funktional und kontrastieren völlig mit ihrer Umgebung, wo neben den genannten Gebäuden auch am anderen Ufer an der Brücke das hinreißende barocke Gärtnerhaus,
nach dem Kanalende die gräfliche Privatbrücke in den Fürstenauer Park und im Hintergrund Schloß Fürstenau selbst sind.
Schön ist sie auf ihre ganz eigene Art und am schönsten ist die gewellte Betonfläche. Aber das liegt vielleicht nur an mir.