Bahnhof Haarlem oder Der Triumph der Eisenbahn

Von der Stadt aus sieht Haarlems Bahnhof nicht nach viel aus. Zwei monumentale, aber dennoch nicht große Eingangsgebäude aus rotem Backstein, deren Formen ein Hauch von Jugendstil verrieten, wenn man denn irgendeinen Grund hätte, sie länger zu betrachten.

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Etwas weiter außen führen jeweils Straßen unter den höher verlaufenden Gleisen hindurch, wodurch man weiß, daß die Gebäude die Zugänge zu den Bahnsteigtunneln markieren, was sie halb entschuldigt. Dazwischen verläuft ein Vordach auf gußeisernen Stützen, Kolonnaden, in deren Schutz und Schatten Reisende wie an einem Bahnsteig heute auf Busse und Taxis warten können und früher auf die Straßenbahn warten konnten.

Dahinter ist das weite Tonnendach der Bahnsteighalle, dessen funktionale Konstruktion aus schwarzem Stahl, weißen Flächen und Glas wenig Anlaß gibt, etwas Besonderes im Inneren zu erwarten. Und doch ist dort nicht bloß der bessere Teil des Bahnhofs, sondern der eigentliche Bahnhof.

Inmitten des sehr breiten mittleren Bahnsteigs sind völlig unabhängig von der Hallenkonstruktion Gebäude aus hellem, fast weißem Backstein aneinandergereiht. Den Anfang macht, von der Stadt her gedacht ganz links, obwohl sie völlig vergessen ist, ein flaches Toilettengebäude. Hier ist zudem zu erkennen, daß was ein beliebiger Durchgangsbahnhof schien für zwei Gleise ein Kopfbahnhof ist. Das folgende Gebäude ist höher und hat ein zweites Geschoß aus hellbraunem Holz für den Kontrollraum des Bahnhofs. Dem steinernen Teil aufgesetzt gleicht dieser Aufbau mit großen Fenstern, Terrassen und außenliegenden Gängen geradezu der Brücke eines Schiffs, doch diese Assoziation ergibt sich durch die ähnliche Funktion, nicht durch irgendwelche beabsichtigten maritimen Zitate.

Zu beiden Seiten ragen schmale Gitterbalkone auf Stahlträgern weit über die Bahnsteige hinaus, damit auch der letzte Winkel der Halle zu überblicken sei.

Nach den Treppen hinab in den ersten Bahnsteigtunnel steht der lange Flachbau des Restaurants und der Wartesäle erster, zweiter und dritter Klasse, auf den wiederum die Treppen in den zweiten Bahnsteigtunnel folgen. Den Abschluß bildet ganz rechts ein weiteres Gebäude, in dem vielleicht eine Post war.

Erst dahinter hat man über die querende Straße einen Blick hinaus auf die Stadt und ihre wichtigste Kirche St. Bavo, die als riesige Backsteinformation in der Ferne steht.

All diese Gebäude sind wie Pavillons, die frei und allansichtig auf dem auch um sie großzügigen Freiraum lassenden Bahnsteig stehen und immer von mindestens zwei Seiten zugänglich sind. Wiewohl vollkommen funktional, verzichten sie nicht auf repräsentative Schmuckformen in einem zierlichen Jugendstil. Im hellen Mauerwerk sind horizontale Linien und Flächen in Blau, während ornamentale Elemente aus grauem Stein die Vertikalen insbesondere der Eingänge betonen und manchmal noch vor den filigranen Holzkonstruktionen der Dächer aufragen. Von Monumentalität ist jedoch sogar im hohen Portal des Wartesaals erster Klasse keine Spur.

Haben schon die steinernen Teile deutliche, zumeist florale Jugendstilformen, so wird dieser Stil in den wenigen und wohlplazierten Keramikflächen der Beschilderung unübersehbar.

Auf weißem Grund und in gelbem Rahmen zeigen sie neben den Worten stilisierte Schwalben- und Kranichmuster meist in Blau, die gleichsam mehr Design, corporate identity des Bahnhofs als notwendige Architekturelemente sind. Dazu kommen bei den Wartesälen Bilder von einem geflügelten Rad oder zweier Dampfloks, deren Rauch sich oben ornamental verbindet, und am rechten Gebäude solche von älteren Transportmitteln wie einer Postkutsche und einem niederländisch beflaggten Segelschiff.

Die Eisenbahn allerdings bräuchte gar keine Darstellung, da man mitten in einem der besten und schönsten ihr je gewidmeten Bauwerke ist.

Jedes Detail im Inneren des Haarlemer Bahnhofs ist so gelungen, wie sich das für Meisterwerke gehört, doch die Grundlage ist immer die brillante funktionale Lösung, die alle wichtigsten Einrichtungen in die Mitte, unter das Bahnsteigdach, zwischen die Gleise, rückt. In der radikalen Funktionalität des 1908 eröffneten Gebäudes lebt paradoxerweise noch eine frühere Zeit des Bahnwesens, in der der neuen Technik angemessene neue Gebäudetypen gesucht wurden, nach. Man kann diese Zeit leicht vergessen, insbesondere angesichts der immer monumentaler werdenden und immer mehr der Stadt zugewandten, die Bahnsteige schließlich zum verschämten Anhängsel erniedrigenden kontinentalen Kopfbahnhöfe, die schließlich in der präfaschistischen Monstrosität des Leipziger Hauptbahnhofs ihren verheerenden Höhepunkt erreichten. Vergleichbares wie den Bahnhof Haarlem findet man wirklich bloß in Großbritannien. Der Bahnhof von Glasgow etwa ist ein Kopfbahnhof, der der Stadt in angelsächsischer Manier ein Bahnhofshotel zuwendet, doch alle für den Bahnbetrieb wichtigen Einrichtungen sind als hölzerne Pavillons am Anfang der Bahnsteighalle in unmittelbarer Nähe der Gleise angeordnet. Um sich bewußt zu machen, wie außergewöhnlich Haarlems Bahnhof in seiner Zeit auf dem Kontinent war, muß man im übrigen nicht einmal nach Leipzig blicken, sondern bloß den mit Skulpturen, Wandbildern und Inschriften überladenen historistischen Hauptbahnhof im nahen Amsterdam, der kaum zwanzig Jahre zuvor eröffnet wurde, betrachten.

Die Bahnsteigtunnel, die bei den Treppenanlagen offen und hoch und unter den Gleisen bei gewellter Decke niedriger sind, scheinen die zurückhaltenden Jugendstilformen der Halle durch regelrechte Abstraktion übertreffen zu wollen, indem sie dort, wo die abwechselnd kürzeren und längeren horizontalen weißen Kacheln der Wände auf die entsprechenden vertikalen der Decken treffen, einfache Muster haben.

Auf den Wänden sind einzelne blaue Striche, die sich bald zu Wellen und Linien zusammenfinden, und an den Decken ein gelber Kranz, der sich in einzelne Striche auflöst, was mit der leichten Wölbung eine subtile, aber bestimmte Assoziation mit der auf- oder untergehenden Sonne über dem Meer hervorruft.

In den Vorhallen am Ende der Tunnel zerfällt alles. Die kleinere linke ist immerhin so kahl, daß man sie kaum wahrnimmt. Die größere rechte hat eine hohe Kuppel und sowohl zur Bahnsteighalle als auch zur Stadt große halbrunde Fensterflächen.

In der stadtseitigen Fläche sind in der Mitte das Haarlemer Stadtwappen und ringsum die anderer niederländischer Städte, aber dies so klein, daß man sich, falls man sie denn anschauen will, wirklich bemühen muß.

Links und rechts sind an den Wänden über den Schaltern Kachelbilder, die Land- und Industriearbeit zeigen, aber nicht bloß in leblos realistischem Stil, sondern auch noch in schwarz-weiß.

Diese Architektur und Kunst bemühen sich nicht einmal, sie meinen es nicht einmal ernst, sie wissen irgendwie, daß sie hier eben monumental und repräsentativ sein müssen, aber sie glauben daran selbst nicht mehr, zu deutlich ist sogar ihnen, daß drinnen in der Bahnsteighalle die Zukunft ist, die so stark, lebendig und schön ist, daß jeder Versuch, ihr hier etwas entgegenzusetzen auf erbärmlich lächerliche Art scheitern müßte. Die Eingangsgebäude sind so nicht einmal Karikaturen, sondern bloß Platzhalter historistischer Monumentalität: hier könnte eine repräsentative Bahnhofshalle sein, aber ihr wißt und wir wissen, diese Zeit ist vorbei, beachtet uns nicht, geht weiter auf den Bahnsteig, in die einzig wirkliche Halle, in die Zukunft, in euren Zug, der euch zu noch Großartigerem bringen wird.

Den Bahnhof von Haarlem kann man sehen, ohne je nach Haarlem hinauszugehen, ohne je den Zug zu verlassen. Könnte es einen größeren Triumph der Bahnhofsarchitektur geben?

3 Gedanken zu „Bahnhof Haarlem oder Der Triumph der Eisenbahn

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