Gotik und Brutalismus in Montpellier

Die Kathedrale Saint Pierre (Sankt Peter), die größte Kirche des südfranzösischen Montpellier, ist ein früher gotischer Bau, in dem noch viel Romanik ist. Statt eines filigranen Systems von Strebepfeilern und -bögen sind es quergesetzte Wände, die außen das höchste Gewölbe tragen. Die Fenster sind zwar spitzbögig und hoch, aber entweder liegen sie tief in der dicken Wand oder haben große Abstände zwischeneinander.

(Bilder zum Vergrößern anklicken)

Auch die vier eckigen Türme haben auf den zwei über das Kirchenschiff hinausreichenden Geschossen gotisch spitze Fenster, aber gerade dadurch wirken sie fern von der Gotik, deren himmelstürmend schlanke Türme Geschoßstrukturen gerade aufzulösen suchen. Und die dicken Filialen auf den Türmen machen ein zwar ornamentales, aber aus der Konstruktion erwachsendes gotisches Element der Gotik zum reinen Ornament, das auch gegen Obeliske, wie sie die Renaissance mochte, oder sonst irgendetwas ausgetauscht werden könnte.

Bevor man jedoch Gelegenheit hat, irgendetwas von all dem zu bemerken, sieht man den riesigen Vorbau über dem Eingang.

Zwei hohe walzenförmige Türme mit kegelförmiger Spitze stehen frei vor der Vorderseite und tragen ein großes Kreuzrippengewölbe, das an die Kirche anschließt.

Es entsteht ein enormer Baldachin aus Sandstein, der keinen anderen Zweck hat, als den Eingang zu beschirmen.

Dieser besteht aus einem großen, aber eher flachen Spitzbogen flankiert von zwei massiven Strebepfeilern, die in großen Filialen ähnlich denen auf dem Turm enden.

Es ist, als ob die Erbauer von Saint Pierre sich des zweifelhaft gotischen Charakters der Kirche bewußt waren und deshalb gleich im Vorbau zeigen wollten, daß sie fähig sind, ein gotisches Gewölbe zu errichten.

Das Ergebnis hat dennoch etwas von einer Karikatur. Die bauklotzgleich simplen runden Türme sind noch gänzlich romanisch. Gewölbe und Eingang mögen wohl gotisch sein, aber in gänzlich unsubtil überzeichneter Form. Statt filigran und zierlich ist diese Gotik grob und groß.

Da die Gotik von Saint Pierre so wenig in das typische Bild der Gotik paßt, wußte die Stadt, als sie im 19. Jahrhundert wieder anfing sich für Gotik und überkommene Stile allgemein zu interessieren, auch wenig mit ihr anzufangen. Alle Um- und Anbauten der vorangegangenen Jahrhunderte wurden kurzerhand abgerissen, gotische Elemente freigelegt und auch der rechte Turm der Vorderseite, der in den Religionskriegen Mitte des 16. Jahrhunderts, als in Montpellier der Protestantismus herrschte, eingestürzt war, wiederaufgebaut. Doch damit nicht genug, zusätzlich wurden an das Kirchenschiff ein noch einmal so großer Chor und ein riesiger Seiteneingang im Stile einer fremden nordfranzösischen Gotik angefügt. Es ist Gotik wie aus dem Lehrbuch und genauso leblos.

Noch im Jahre 1917 errichtete die medizinische Fakultät der Universität in der Nähe ein neogotisches Gebäude für das Institut Bouisson-Bertrand, das immerhin jugendstilinspiriert frei und spielerisch mit seinen Vorbildern umgeht, aber mit Saint Pierre ebensowenig zu tun hat.

Erst viel später erinnerte sich Montpellier daran, was seine wichtigste Kirche wirklich ausmacht.

Das Lycée Jean Monnet (Jean-Monnet-Lyzeum) im nordwestlichen Stadtteil Alco ist aus ganz einfachen großen Betonformen zusammengesetzt: eine lange konkav geschwungene Wand, vor ihrer Mitte, wo sie eine Öffnung hat, zwei aufrechte Walzen, und dahinter eine teils in der Erde versenkte Kugel, die aus der Ferne betrachtet als Kuppel über die Wand ragt.

Schon ein Detail, kaum mehr als der in Metallbuchstaben rechts stehende Name, scheint der dicke Stahlbalken, der den größten Teil der Einwölbung der Wand auf drei Vierteln der Höhe abflacht und in der Mitte an die Walzen anschließt, obwohl doch erst durch ihn links und rechts Eingänge entstehen können.

Vor dem Glas unter dem Balken hängen zwei Reihen großer quadratischer Platten aus silbernem Edelstahl, in die die Namen in- und ausländischer Schriftsteller und Künstler gestanzt sind, allerdings so, daß sie von außen lesbar sind.

All das, die großen bildhaften Betonformen wie die Details, sind nur der Eingang der Schule. Die Wand hat als Funktion bestenfalls die Abschirmung vom Verkehr der tieferliegenden Straße, in der Kugel ist ein Saal, aber über die eigentliche Schule dahinter verrät der Eingang nichts. Sie besteht denn auch nur im hinteren Teil aus aufgestützten pavillonartigen Betongebäuden, die zu ihm passen, während direkt hinter der Wand Gebäude mit horizontal gestreifter Steinfassade und auf hohen Stützen ruhenden Gitterterrassen neben den obersten Geschossen sind.

Erstaunlicherweise wurde die Schule erst 1990 eröffnet.

Die radikale Einfachheit letztlich nur halb funktionaler Betonformen mag sehr französisch sein und ist gewiß sehr brutalistisch. Und selbstverständlich kann man in Montpellier keine Kuppel zwischen Walzenformen sehen, ohne sich sogleich an das Gewölbe zwischen den runden Türmen des Vorbaus der Kathedrale Saint Pierre erinnert zu fühlen. Die Einfachheit der kaum schon gotischen Formen ließ sich in Beton leicht nachformen, ohne daß es sich jedoch um eine offensichtliche Imitation handelt. Nicht zufälligerweise ist diese brutalistische Reverenz an die historische Architektur der Stadt viel subtiler und eleganter als alles, was der reaktionären Postmoderne, die es hier reichlich gibt, je eingefallen wäre. Diese nämlich interessierte sich über die simplistische und karikierende Imitation alter Stile rein gar nicht für tatsächliche Orte und deren Traditionen, darin ihrem ideologischen Vorgänger, dem Historismus, ähnlich.

Möglicherweise heißt das nicht viel, aber das Lycée Jean Monnet ist der würdige architektonische Nachfolger von Saint Pierre.