Ostrava-Poruba oder der Unterschied zwischen Tschechoslowakei und DDR

Um die Stadt Ostrava im tschechischen Teil Schlesiens wurden ab Anfang der fünfziger Jahre eine Reihe von Satellitenstädten angelegt. Ostrava eignete sich dafür auch hervorragend, da diese ungeordnete Anhäufung von Stahlwerken, Bergwerken und Wohngegenden mit den herkömmlichen Vorstellungen von Stadt wenig zu tun hat, zugleich aber für die tschechoslowakische Wirtschaft von enormer Bedeutung war. Vor allem Havířov, das sich schon durch seinen Namen (etwa: Bergarbeiterstadt) dazu eignete, wurde so zu einem Symbol des sozialistischen Aufbaus.

Poruba, das heute zu Ostrava gehört, ist kleiner, hat aber nicht weniger den Anspruch, Stadt zu sein und gleichsam all die Ordnung, die Ostrava fehlt, im Kleinen umso stärker auszudrücken. Es erstreckt sich entlang der breiten Hlavní třída, der Hauptallee, die mit dem großzügigen Fußgängerweg zwischen den Fahrbahnen, den Geschäften in den Erdgeschossen und nicht zuletzt mit den Neorenaissanceformen der Gebäude ganz dem 19. Jahrhundert entsprungen zu sein scheint. Bloß die völlige Einheitlichkeit der Gebäude paßt nicht ins reale 19. Jahrhundert, wohl aber in die Träume eines Baron Haussmann. Durchschnittliche stalinistische Architektur also.

Wo die Allee auf einen Platz trifft, rücken die Gebäude näher an sie heran und wachsen empor, um sich ihm dann als weites Hufeisen zu öffnen.

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Doch danach folgt ein Bruch so scharf und abrupt, daß man fast zurückschreckt.  Die andere Seite des Platzes ist von sachlich-schlichten Gebäuden mit flügelartigen Dachaufbauten gerahmt, wie man sie in den Fünfzigern überall hätte finden können.

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Entsprechend setzt sich die Hlavní třída auch fort. Es ist, als sei man mit wenigen Schritten von einem Jahrhundert ins andere getreten; in Wirklichkeit sind die beiden Teile Porubas im Abstand weniger Jahre entstanden.

Ebenso enorm wie bei der Architektur ist der Bruch bei der Kunst, die sie begleitet. Die dem Platz zugewandten Eckgebäude tragen in Barockmanier Skulpturen auf den Dachfirsten, die zwar Arbeiter darstellen mögen, aber bloß so leblos wie schon an Konzerngebäuden aus dem 19. Jahrhundert Arbeiter dargestellt wurden, so daß man kaum von sozialistischem Realismus sprechen kann. Auf dem Platz hingegen gibt es eine Skulptur aus dunklem Stein, die sich gegenübersitzend eine weibliche und eine männliche Gestalt zeigt,

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und über einigen Hauseingängen Reliefs liegender Frauengestalten.

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Sie sind in genau jenem halbrealistischen Stil mit leicht verzerrten Proportionen gehalten, wie er in den Fünfzigern auch in den kapitalistischen Ländern in der öffentlichen Kunst  vorherrschte.

Und genau hier beginnt der Unterschied zwischen Tschechoslowakei und DDR. Den scharfen Bruch in der Architektur, den gab es in der DDR auch. Den in der Kunst, betrachtet man etwa die Karl-Marx-Allee in Berlin, den Altmarkt in Dresden oder Eisenhüttenstadt, den gab es nicht. Sicher gibt es Unterschiede zwischen den Reliefs, Mosaiken, Wandbildern der stalinistischen Architektur und denen der fortschrittlichen. Aber es ist eine Entwicklung, die sich unter dem Begriff sozialistischer Realismus fassen läßt. Vom einen zum anderen führt eine klare Linie. Nicht so in Poruba. Kein Weg führt von den Skulpturen auf den Dächern zu jenen auf dem Platz. Erstere wollen, vielleicht, sozialistischer Realismus sein, sind aber von enorm niedriger Qualität, letztere wollen gewiß keiner sein, sind aber recht gelungen.

Wie erklärt sich dieser Unterschied zwischen zwei Staaten, die doch beide sozialistisch und sich geographisch und kulturell so nahe waren? Zum einen durch eine unterschiedliche Entwicklung in der Zwischenkriegszeit. Während in der Tschechoslowakei weite Teile der weitgehend abstrakten Avantgardekunst eng mit der Kommunistischen Partei verbunden waren, konnte die DDR auf eine weit geringere Zahl linker Künstler zurückgreifen, die allerdings stark in einer realistischen Tradition verwurzelt waren. Man kann das, was man in Poruba sieht, nur so verstehen: Als der sozialistische Realismus in seiner engen stalinistischen Variante zur offiziellen Doktrin wurde, fand sich einfach kein halbwegs fähiger Künstler bereit, diesem entsprechende Kunst zu schaffen. Sobald dann diese Doktrin fiel, machten die Künstler einfach dort weiter, wo sie zuvor aufgehört hatten, und es endete auch jede Diskussion darüber, ob sich die Kunst eines sozialistischen Staats nicht doch von der der westlichen Avantgarde unterscheiden sollte, ob nicht doch ein sozialistischer Realismus vonnöten sei. In der DDR hingegen stand jegliche Kunstentwicklung im Zeichen des sozialistischen Realismus (und die, die etwas dagegen hatten, gingen eben nach Westdeutschland), so daß ihr sowohl billigste stalinistische Kunst wie auch schlichtes Anknüpfen an westliche Kunst erspart blieb.

Man kann, und das ist die zweite Erklärung für diesen Unterschied, eine Parallele zwischen der künstlerischen und der politischen Entwicklung beider Länder nach dem zweiten Weltkrieg ziehen. Die DDR entwickelte sich, abgesehen von Kleinigkeiten wie den Ereignissen 1953 und 1961, geradlinig, ihr Spielraum war auch durch die Präsenz sowjetischer Truppen sehr beschränkt. In der Tschechoslowakei hingegen verlief die Entwicklung in Brüchen und Sprüngen. Nach dem Krieg wurde die bürgerlich-demokratische Republik wiederhergestellt und den Sozialismus erkämpfte sich die Kommunistische Partei durch ihren Wahlsieg 1946 und durch die erfolgreiche Abwehr eines rechten Putschversuchs im siegreichen Februar 1948 selbst. Traurige Kehrseite dieses in Europa einmaligen Erfolgs waren die Schauprozesse 1952. Danach kam es in den Sechzigern zu den als Prager Frühling bekannten Ereignissen, in denen antikommunistische Studenten und Intellektuelle sowie Teile der Parteiführung den Sozialismus so sehr gefährdeten, daß ein Eingreifen der Armeen des Warschauer Vertrags nötig wurde. Für keines dieser drei einschneidenden Ereignisse gibt es Vergleichbares in der Geschichte der DDR. Das soll allerdings nicht heißen, daß jedes politische Ereignis eine so direkte Entsprechung in der Kunst findet wie die Abkehr vom Stalinismus in der Tschechoslowakei. So hatten die Veränderungen nach 1968, die mit dem propagandistisch so unglücklich gewählten Begriff „normalizace“ (Normalisierung) bezeichnet sind, kaum einen Einfluß auf die Kunst.

Insgesamt zeigt der Vergleich von Tschechoslowakei und DDR, daß zuviel Freiheit nicht gut für Künstler ist. Es gibt eine Anekdote von Walter Womacka, daß er die vier Seiten seines Wandbilds am Haus des Lehrers in Berlin den vier Elementen zuordnen wollte, bis ihn ein Kulturpolitiker fragte, was das denn mit dem Sozialismus zu tun habe. Hätte sich einer seiner Vorfahren anders entschieden und er wäre als tschechischer Künstler mit dem Namen Vomáčka mit einer ähnlichen Aufgabe betraut gewesen, wäre ihm diese Einmischung der Partei wohl erspart geblieben und sein Werk dementsprechend schlechter. Ein Kunstwerk im Sozialismus muß ein Gemeinschaftswerk sein, an dem der Künstler einen wichtigen, keinesfalls aber den einzigen Anteil hat. Andernfalls kommt bloß etwas Nettes und Unwichtiges wie in Poruba heraus.

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