Gdynia

Gdynia ist eine Planstadt aus den zwanziger Jahren. Das merkt man aber nicht. Man würde vielleicht auch nicht merken, daß Gdynia eine besondere Stadt ist, die ihre Existenz ganz den Zufällen der geschichtlichen Entwicklung verdankt. Das wiederentstandene Polen hatte in den Friedensverhandlungen nach dem ersten Weltkrieg mühsam einen kleinen souveränen Zugang zum Meer erlangt, den sogenannten  polnischen Korridor, doch dort gab es keine nennenswerten Häfen. Auch, daß Polen in Danzig/Gdańsk mit seinem Hafen, das als Wolne Miasto/Freie Stadt unabhängig wurde, einige Rechte bekam, genügte nicht. Ein polnischer Hafen mußte her und die Wahl fiel auf eine sumpfige Bucht beim kaschubischen Fischerdorf Gdynia, keine dreißig Kilometer nördlich von Gdańsk. In kurzer Zeit wurde dort der größte und modernste Hafen der Ostsee gebaut, bald verkehrten polnische Ozeandampfer von Gdynia nach Amerika. Und neben dem Hafen, für den Hafen entstand ab etwa 1925 die Stadt Gdynia.

Aufgrund dieser Geschichte gilt Gdynia in Polen oftmals als Inbegriff der modernen Stadt. Das ist ein Irrtum, der durch einen verständlicherweise oberflächlichen Blick auf viele Fassaden von Gebäuden aus der glorreichen Anfangszeit der Stadt, den zwanziger und dreißiger Jahren, noch verstärkt wird. Denn tatsächlich ist es leicht, Gdynia so zu photographieren, daß es äußerst modern wirkt.

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Alles ist weiß und insbesondere die Eckbauten haben oft geschwungene Balkone oder andere abgerundete Elemente. Diese hervorgehobenen Gebäude der Hafenstadt wollen selbst ein wenig Schiffe sein. Andere Gebäude haben dann bei sehr schlichten Formen meist fünf normale Geschosse und ein zurückgesetztes abschließendes Geschoß.

All das ist für seine Zeit so modern wie typisch. Etwa so wurde auch in der tschechoslowakischen Demokratie, in der jugoslawischen Monarchie oder im österreichischen Ständefaschismus, um nur einige zu nennen, gebaut.

Fast ebensoleicht aber kann man Gdynia so photographieren, daß es überhaupt nicht modern wirkt.

Da sind dann Gebäude mit dreieckigen Tempelgiebeln oder halbrunden, irgendwie neobarocken Giebeln über stuckverzierten Fassaden. Solche historistischen Gebäude sind zweifelsohne in der Minderheit, aber daß es sie gibt, ist bezeichnend.

Besser als die modernsten und die historistischsten Gebäude repräsentiert Gdynia daher vielleicht  ein Nebeneinander wie dieses in der zentralen Straße Świętojanska: links ein Gebäude mit zurückgesetztem Obergeschoß und abgehobenem Mittelteil, der von einer Balkonnische mit Metallgeländer abgeschlossen wird, und direkt daneben eines mit schrägem Dach und Dreiecksgiebel, in dem unglaublicherweise die Jahreszahl 1930 steht.

Nebeneinander also ein Gebäude, das völlig in seine Zeit paßt, und eines, das dreißig, vierzig Jahre zu spät ist. Und es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß das modernere Gebäude früher errichtet wurde.

Doch all das bisher Beschriebene berührt nur die Fassaden der Gebäude, die eben auf die eine oder andere Art gestaltet sind. Entscheidend für die Frage nach Gdynias Modernität ist aber die Stadtplanung. Die beschriebenen Gebäude, ob nun von außen modernistisch oder historistisch, sind allesamt Teil von Blockrandbebauung in einem regelmäßigen rechtwinkligen Straßenraster. Das ist das 19. Jahrhundert.

Wenn man an der Świętojanska durch eine Einfahrt tritt, gelangt man in einen Hinterhof. Einige Schuppen mit Werkstätten, ein quergesetztes Hinterhaus.

Das ist das 19. Jahrhundert.

In der Straße Abrahama steht ein einziges Gebäude, fünf Geschosse hoch, seitlich Brandmauern, vorne eine repräsentative Fassade mit horizontaler Gliederung. Daneben öffnet sich der Blick auf die Hinterhoflandschaft jenseits der Świętojanska, den es nicht geben sollte, weil auch hier die Blockrandbebauung geschlossen sein sollte.

Genauso hätte auch eine isolierte Mietskaserne fünfzig Jahre früher dagestanden, bloß die Fassade wäre anders. Das ist das 19. Jahrhundert.

Die Grundidee der Stadtplanung von Gdynia, wenn man sie so nennen will, ist diese: eine Hauptstraße, die am Meer entlangführt, eine Hauptstraße, die aufs Meer zuführt, und in ihrem Kreuzungsbereich ein langer Platz mit Öffnung zum Meer. Dazu ein Villenviertel auf einem Hügel am Meer oberhalb der Stadt und weitere jenseits der Bahnstrecke am Waldrand. Das ist das 19. Jahrhundert.

Da das, was gebaut wurde zwar viel war, aber nie für die 125 000 Einwohner, die Gdynia Ende der Dreißiger hatte, ausreichte, entstanden außerdem am Rande und in Hafennähe Elendsquartiere, Slums mit Namen wie „Pekin“ (Peking) oder „Drewniana Warszawa“ (Hölzernes Warschau). Sie waren wohl unvermeidbare Erscheinungen einer schnellwachsenden kapitalistischen Großstadt. Heute gibt es von ihnen dank dem Sozialismus keine Spuren mehr und geredet wird von ihnen erst recht nicht. Das ist das 19. Jahrhundert.

Gdynia ist also eine Planstadt der 1920er Jahre, deren Plan auch aus dem 19. Jahrhundert stammen könnte. Es gibt dort nichts, was sich grundsätzlich von Planstädten wie Odessa oder Łódź, die tatsächlich im 19. Jahrhundert entstanden, unterscheidet. Das ist Gdynia oder seinen Planern im übrigen nicht besonders vorzuwerfen. Als seine Erbauung begann, waren die theoretischen Grundlagen einer neuen Stadtplanung noch kaum entwickelt. Auch paßte zu einem rückständigen kapitalistischen Staat wie Polen eben eine kapitalistische Stadtstruktur aus dem 19. Jahrhundert. Nicht zuletzt gibt es, zumeist an den früheren Rändern der Stadt, durchaus einzelne städtebauliche Ansätze, die über die Blockrandbebauung hinausgehen und die einzeln zu erwähnen sein werden.

Die Schaffung des Hafens und der Stadt Gdynia war eine großartige Leistung des jungen polnischen Staats. Es ist eine wichtige und in vieler Hinsicht faszinierende, ja, eine einzigartige Stadt. Es ist die neueste und polnischste Stadt an der Ostsee und bildet innerhalb der Trójmiasto (Dreistadt) den Gegenpol zum alten und deutscheren Gdańsk. Aber eine moderne, den neuen Ideen und Möglichkeiten seiner Zeit entsprechende Stadt, wie etwa das tschechoslowakische Zlín, ist Gdynia eben nicht.