Austrofaschistischer Boulevard

Die kurzen Jahre der austrofaschistischen Herrschaft in Österreich, der sogenannte Ständestaat, diese Zwischenzeit von ‘34 bis ‘38, hinterließen Wien einen Boulevard oder den Ansatz eines solchen. Man sieht ihn aber nicht. Der Boulevard ist ein Teil der Operngasse und beginnt, wie so vieles, am Karlsplatz.

Dort, an der Ecke Operngasse/Rechte Wienzeile, steht ein achtgeschossiges Gebäude.

OperngasseRechteWienzeile

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Zur Ecke hin im Erdgeschoß ein halbrunder Vorbau, darüber jeweils kurze vorgesetzte Fensterbänder zwischen rötlichbrauner Steinverkleidung, ganz oben ein höheres Geschoß mit größerer Glasfläche. Von diesem Eckteil schwingt sich das Gebäude zu beiden Straßen hin und wird in Stufen niedriger, so daß der Eindruck eines Schiffskiels entstehen kann. Es ist dort zwar immer noch sieben Geschosse hoch, doch deren oberstes ist bereits hinter einer Dachterrasse zurückgesetzt. Statt Steinverkleidung gibt es hier schlichten Putz. Das, sieben oder acht Geschosse, das oberste zurückgesetzt, schlichte Fassade, ist das Muster für alle anschließenden Gebäude auf der rechten Seite der Operngasse, die den Boulevard bilden.

Operngasse1

Es ist davon auszugehen, daß auch für die linke Seite, wo jetzt vor allem neuere Gebäude der TU sind, ähnliches geplant war. An den Ecken mit der Schleifmühlgasse und der Margaretenstraße endet der Boulevard mit abgerundeten Eckbauten.

Womit kann man diese austrofaschistische Architektur nun vergleichen?

Naheliegend scheint ein Blick nach Norden, zum nazifaschistischen Nachbarn Deutschland. Doch die Gemeinsamkeiten sind gering. Einzig die vorgesetzten steinernen Fensterrahmen, die der Eckbau seitlich hat, finden sich auch in der Naziarchitektur. Ansonsten hat ein zur selben Zeit entstandenes Naziwohngebäude, wie dieses in Berlin, nichts mit denen in Wien gemein.

NaziwohnhausBrandenburgerStraßeSächsischeStraße

In der Operngasse fehlen die verschnörkelten Erker und die überstehenden Kranzgesimse, ja, es fehlt jedes historisierende Element. Ein einziges der Kunstwerke, die die Gebäude des Boulevards begleiten, trägt deutlich nazistische Züge: ein Wandbild in der querenden Faulmanngasse mit leblosen Figuren und dem Spruch „Es gibt nur einen Adel, den Adel der Arbeit“.

AdelWandbildOperngasseFaulmanngasse

Aber es wirkt so sehr als Fremdkörper, daß es gut erst nach dem Anschluß entstanden sein kann.

Als nächstes könnte man nach Süden, ins faschistische Italien, schauen. Dort wird man schon eher fündig. Die Haltung des italienischen Faschismus zu Fragen der Architektur war liberal. Es gab einerseits eine monumentale reaktionäre Architektur, mit der sich der Staat und das Kapital repräsentierten, aber andererseits auch eine in jeder Hinsicht fortschrittliche Architektur, die ähnlich verbreitet war.

Aber die größten Gemeinsamkeiten gibt es mit einem anderen nördlichen Nachbarland, der Tschechoslowakei. Wiewohl sie demokratisch verfaßt war, ähnelte die architektonische Situation sehr der in Italien. Es gab Reaktionäres wie Fortschrittliches. Und schlichte Mietshäuser mit zurückgesetztem Dachgeschoß, genau wie jene am austrofaschistischen Boulevard Wiens, prägen in der Tschechoslowakei das Bild der größeren Städte, so hier in Brno.

BrnoMoravskéNáměstí

Schließlich kann sogar ein Blick auf die unmittelbar vorangegangene Wiener Architektur, die Gemeindebauten der sozialdemokratischen Ära, etwas verraten. So ähneln die Rundbögen in der Dachkonstruktion des Eckbaus an der Margaretenstraße denen etwa am Karl-Seitz-Hof, aber damit enden auch die Gemeinsamkeiten.

OperngasseMargaretenstraße

Das ganze Geheimnis dieses Boulevards, wenn es denn eins ist, verrät eine Inschrift im Bärenmühldurchgang, der durch den Eckbau am Karlsplatz führt:

BärenmühldurchgangInschrift

„Dieses Haus wurde an Stelle eines den Verkehr behindernden Althauses mit Hilfe des Wiener Assanierungsfonds […] im Jahre 1937 errichtet“. Darum geht es, um die Schaffung einer neuen Verbindung für den großstädtischen Verkehr. Ganz typische kapitalistische Stadterneuerung. Städtebaulich ist hier nichts anders als in Straßenzügen, die vierzig, fünfzig Jahre früher gebaut wurden. Es ist Blockrandbebauung, die den städtischen Raum im kapitalistischen Sinne effizient ausnutzt. Bloß die Fassaden sind einfacher als in der k.u.k. Zeit, aber auch das damit verbundene Ersparnis paßt gut zu den Bedürfnissen des Kapitalismus.

Operngasse2

Ähnliche Straßenzüge, ähnliche Gebäude, wurden nach dem Krieg, bis in die sechziger Jahre hinein, in Wien und anderswo gebaut und wirken auch deshalb so vertraut.

Vom Freihaus, einem großen Gebäudekomplex, der dem Boulevard weichen mußte, blieb nichts übrig, bloß die weitere Kunst erinnert daran. Am Eckbau ein verwitterndes Steinrelief zur Bärenmühle,

ReliefBärenmühle

in der Ecke Faulmanngasse eine farbenfrohes Relief zur Uraufführung von Mozarts „Zauberflöte“,

ZauberflöteOperngasseFaulmanngasse

an der Ecke Margaretengasse ein Wandbild über die Geschichte des Freihauses

WandbildFreihausOperngasseMargaretenstraße

und an der Ecke Schleifmühlgasse ein Stadtplan, der „das alte Freihaus und die neuen Strassenzüge“ zeigt.

PlanFreihausNeueStraßenzüge

Nichts unterscheidet diese netten und harmlosen Werke von solchen, die früher oder später enstanden.

Die Architektur des Austrofaschismus war also vor allem eins: normal. Normale kapitalistische Architektur auf der Höhe ihrer Zeit, in keiner Weise auffällig. Nicht normal war die Situation in Deutschland, wo etwas wie dieser Boulevard niemals hätte entstehen können. Es war eben enorm selten, daß Systeme allumfassende Vorgaben zur Architektur machten, wie allumfassende, totale Systeme insgesamt selten waren. Falls die austrofaschistische Architektur sich durch irgendetwas auszeichnet, dann gerade durch ihre Normalität und Unscheinbarkeit. Deshalb gibt es in Wien diesen Boulevard, aber man sieht ihn nicht.