Osoblaha

Ist Osoblaha ein Dorf oder ist es eine Stadt? Es ist der größte Ort in seinem nördlich nach Polen hineinragenden Zipfel Tschechiens, aber das heißt wenig, da er nur klein ist. Es hat einen Bahnanschluß, aber das heißt wenig, da es nur eine Schmalspurbahn ist, die nie stillgelegt wurde, weil das in Tschechien nicht geschieht.

Am Rande ist es klar dörflich, ältere Bauernhöfe wechseln sich mit tschechoslowakischen Einfamilienhäusern ab. Ob man das Zentrum als städtisch empfindet, hängt von den Kategorien, die man anlegt, ab, doch jedenfalls gleicht es keiner typischen tschechischen Kleinstadt, da die gesamte Bebauung aus der sozialistischen Zeit stammt. Obwohl sie nur eine einzige Straße bildet, läßt sie sich leicht in zwei Teile, einen alten und bunten und einen neuen und weißen, gliedern.

Selbstverständlich ist der alte Teil keineswegs alt, sondern wurde in den Fünfzigern nach dem Stalinismus oder jedenfalls unbeeinflußt von ihm gebaut. Er heißt Na náměstí (Auf dem Platz) und so ist in der Mitte ein kleiner Platz mit Grünanlagen.

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Von der schmalen Platzseite aus gesehen, mit der das Zentrum beginnt, ist auf der linken Seite ein langes dreigeschossiges Gebäude mit Walmdach und Läden im Erdgeschoß, die mal mit braunen Kacheln, mal mit schwarzem Schiefer verkleidet sind. Auf der rechten Seite steht erst das Kulturní Dům (Kulturhaus), dann ein dreigeschossiger Eckbau. Vielleicht ist der alte bunte Teil so wenig bunt wie alt, aber die Gebäude sind rot und gelb verputzt, was sie von denen des zweiten Teils unterscheidet.

Nach einer Querstraße folgt links zuerst eine Kaufhalle mit großem Schaufenster und vor das Dach gesetzten Dreiecksformen, bevor die Wohnbebauung beginnt. Ihre Fenster sind jeweils durch dunkelgraue Betonteile verbunden, während der übrige Beton ein fast weißes Hellgrau hat. Links steht nach der Kaufhalle das höchste Gebäude der Stadt, das sechs Geschosse in zwei zueinander versetzten Bauteilen hat.

Danach steht ein längerer viergeschossiger Bau mit vier Teilen, die abwechselnd ferner und näher an der Straße stehen. Rechts stehen parallel zur Straße zwei gerade viergeschossige Gebäude (im folgenden Bild seitenverkehrt).

Am Ende dieser Zentrumsachse ist eine Grünanlage und ein offener, aber teils von niedrigen Mauern umgebener Platz. Dahinter, an der nächsten Querstraße, sind zwei Schulgebäude, von denen eines ein nicht mehr als solches zu erkennendes altes ist, und dann noch ein deutlich altes, das zum dörflichen Rand überleitet, denn der ist ja nie weit weg, Osoblaha ist nur klein. Vereinfacht gesagt nimmt das städtische Zentrum mit seiner einen Straße und seinen zwei Plätzen einen Hügelkamm ein, während das Dorf sich darum erstreckt. Außer den Straßen führen noch einige Fußwege mit Treppen hinauf, vom Bahnhof im Süden einer an einer alten Mauer entlang, von Norden zwei über kleine stählerne Brücken über einen kleinen Bach.

Doch wie kommt es nun, daß es im Kern von Osoblaha nichts Altes mehr gibt? Die Antwort geben die beiden Plätze und die beiden Kunstwerke auf diesen. Auf dem alten Platz steht ein gußeiserner Brunnen, an dessen eckiger Basis zu zwei Seiten halbrunde Becken sind, bevor er in sich kompliziert verjüngenden runden Formen, aus denen Wasserhähne über die Becken ragen, in ein großes rundes Becken übergeht. Noch darin steht die Plastik einer Frau mit einer Amphore auf der Schulter, aus der ein weiteres kleines rundes Becken ragt.

Dieser Brunnen zeigt, daß Osoblaha einmal anders aussah, denn er entstammt offenkundig der bürgerlichen Kunst des 19. Jahrhundert und nicht nur im relativ nahen Branná steht ein fast identischer.

Der neue Platz am Ende der Straße öffnet seinen repräsentativen Teil, der rückwärtig von einer nicht ganz regelmäßigen niedrigen Mauer mit hellgrauer Steinverkleidung umgeben ist, nach rechts. Die großen schwarzen Rechtecke des Pflasters sind hier unterbrochen und ein Weg nur in Weiß, den vier quadratische Betonhochbeete flankieren, führt auf eine niedrige Sockelplatte mit drei Sandsteinskulpturen zu.

Die mittlere, etwas weiter vorne stehende zeigt auf einem kleinen Sockel mit der Inschrift „Poděkování a lásku Vám“ (Euch Dank und Liebe) eine Frau, die die Arme nach oben gereckt hat und eine fließende Form, eine Fahne sicher, die aber eins mit ihrem Haar ist, hält.

Rechts steht eine Stele mit geschwungen hinaufführender Rille, die sich in der Mitte als Fläche mit breiten horizontalen Wellenlinien verbreitert. Darin halten sich zwei Hände zum Gruß und über der rechten ist ein fünfzackiger Stern.

Links steht eine ähnliche, aber nicht identische Stele, in deren Mitte zwei von unten geöffnete Hände eine Taube aufsteigen lassen.

Während die querenden Wellen rechts wirken, als sei ein Knoten in die Stele gemacht, den der Handschlag besiegelt, scheinen sie links Wolken zu sein, vor denen die Taube fliegen kann. Hinter der Sockelplatte, fast versteckt, sind quer einige rechteckige Grabplatten mit fünfzackigem Stern.

Links von ihr, unübersehbar und eigentlicher Mittelpunkt des Platzes, steht auf einer schräg in die Grenze zwischen Pflaster und Wiese gesetzten niedrigen Betonplatte eine in den Himmel gerichtete sowjetische Flugabwehrkanone des Typs 52-K.

In Fortsetzung der Achse der Straße, während diese weiter links verläuft und das Denkmalensemble rechts steht, sind in der Mitte des Platzes Beete.

Durch die Grünanlage, die ihn zur etwas niedriger liegenden Ecke abschließt, führt nach links eine Treppe hinab

und leicht rechts geradeaus ein Weg.

Mittig in der Wiese ist ein runder gepflasterter Teil mit einem Steinquader, der heute altarartig funktionslos scheint, aber vielleicht als Rednerpult gedacht war.

Hinzu kommen Fahnenmasten und auch der eckige Turm der an der nächsten Querstraße stehenden Feuerwache wirkt als vertikales Element in den Platz hinein.

Dieser 1975 eröffnete Náměstí Osvobození (Platz der Befreiung), über den ein Bronzeschild hinten an der Mauer informiert, ist ein großartiges Denkmalensemble, das das Gedenken nicht irgendwo abseits, sondern mitten in den städtischen Raum, mitten ins Zentrum von Osoblaha setzt, es mit ihm förmlich verwebt.

„Grundstein zum Denkmal der Roten Armee/Enthüllt am 21.3.1945“

All seine Elemente, die drei Skulpturen, die Worte, das Kriegsgerät, sind von größter Einfachheit und meisterlich komponiert zusammengefügt. In solchen Platzensembles zeigt sich die Größe des tschechoslowakischen Städtebaus.

Indirekt erzählt der Platz auch davon, daß in Osoblaha in der Endphase des zweiten Weltkriegs schwere Kämpfe tobten. Als die sowjetische Armee es am 22. März 1945 als ersten Ort des tschechischen Teils der Tschechoslowakei befreit hatte, war die Stadt fast vollständig zerstört. Das ist ein für tschechoslowakische Orte durchaus seltenes Schicksal, weshalb es wenige vergleichbare Stadtzentren gibt. Man sieht, daß es der Tschechoslowakei gar nicht einfiel, etwas Altes zu rekonstruieren, sondern daß sie sich völlig selbstbewußt etwas Neues baute, das sie als sich angemessen empfand.  Ob es das ist, bleibt immer die Frage, aber es ist zumindest ein Stadtraum voller Offenheit und ohne Hindernisse. Jedes Gebäude ist von allen Seiten betrachtbar und erreichbar, überall sind Wege für Fußgänger.

Noch etwas anderes ist in Osoblaha auffällig: die unterschiedliche Bevölkerung in seinen verschiedenen Teilen. Im dörflichen Teil und im „alten“ Teil des Zentrums wohnen weiße Tschechen, während im neuen Teil Roma wohnen. So steht dort das Weiß der Architektur und das Grün der Vegetation in einem Kontrast zur dunklen Haut der Bewohner, was einen eigenartig schönen Eindruck von überraschender Exotik ergibt. Den ethnischen Unterschieden entsprechen in Tschechien, wie auch andernorts, immer soziale, so daß man mit weißen Tschechen im Restaurant in der Ecke rechts vom Platz sitzen kann, während an der Flugabwehrkanone Romakinder klettern. Das ist wohlgemerkt nicht so absolut, wie es sich eben vielleicht las, sondern nur ein oberflächlicher Eindruck. Gewiß gibt es in der Bewohnerstruktur der verschiedenen Teile Durchmischungen und in der Kneipe beim Kulturhaus und auf den Spielplätzen treffen sich Tschechen und Roma auch, Osoblaha ist nur klein.

Vielleicht sind es alle diese Kontraste – zwischen dörflichem Rand und städtischem Zentrum, zwischen altem und neuem Teil des Zentrums, zwischen überkommener bürgerlicher Kunst auf dem einen und sozialistischer Kunst auf dem zweiten Platz, zwischen den Hautfarben – Kontraste, die allesamt von typisch tschechischer Kleinstadtidylle so fern sind, durch die Osoblaha zur Stadt wird.

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