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Gryfino

Gryfino ist eine neue Stadt im Rahmen einer alten. Gryfino ist eine Grenzstadt südlich von Szczecin. Gryfino liegt am Ufer der Oder, die sich hier aber bereits in einen östlichen und einen westlichen Teil mit einer dazwischenliegenden sumpfigen Insel gespalten hat, so daß das deutsche Ufer mehrere Kilometer entfernt ist.

Vom Fluß denn will Gryfino gesehen werden. Eine hellblaue Stahlbrücke mit flachem Bogen führt auf die Stadt zu, aus der in der Mitte ein großer backsteingotischer Kirchturm und weiter links vier elfgeschossige Punkthäuser aufragen.

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In der Verlängerung der Brücke verläuft die Hauptstraße, die wie die ganze Stadt von fünfgeschossiger fortschrittlicher Wohnbebauung geprägt ist. Hier ist rechts vor einem besonders langen Bau mit Läden im Erdgeschoß ein Fußgängerboulevard mit Hochbeeten und Bänken.

Bevor die parallel zum Ufer durch die Stadt führende Straße kreuzt, öffnet sich links der zentrale Platz mit der schon im Panorama so prägenden Kirche. Sie ist ein riesiger gotischer Bau, dem in vielen Bauphasen seitliche Teile mit Dreiecksgiebeln angefügt wurden, und sie hat außer Backstein auch überraschend viel fast schwarzen Naturstein. Der achteckige barocke Turm und jüngere Renovierungen tragen weiter zu ihrer komplizierten, disparaten Gestalt bei. Es ist, als wolle die Kirche im Gegensatz zur einheitlichen Stadt besonders viele Gegensätze und Details zeigen.

Jenseits der kreuzenden Straße begrenzt den Platzbereich ein weiteres langes Gebäude, das rechts im Erdgeschoß auf V-Stützen ruht, um die von der Brücke kommende Straße durchzulassen, und mit einem verglasten Restaurant endet. Hinter ihm bildet sich mit querstehenden Gebäuden eine klassische Kammbebauung, auf die der zum Bahnhof überleitende Park folgt.

Nach rechts macht die kreuzende Straße bald einen Bogen mit zwei fünfgeschossigen Punkthäusern, die zu einem ebenso wie sie frei in den Grünanlagen stehenden backsteingotischen Stadttor überleiten. Wie bei der Kirche verbindet sich in ihm Backstein mit schwarzen Steinblöcken.

Hier wird deutlich, daß das neue Gryfino in den Grenzen der Altstadt entstand. Sowohl im Park als auch im Richtung Oder zurückführenden Grünstreifen erhielten sich Reste der Stadtmauer, die mal noch tatsächliche Mauer aus schwarzem Stein und Backstein, mal nur Steinhaufen sind.

Weiter außerhalb folgt historistische Bebauung aus dem 19. Jahrhundert: die alte Stadtmauer umschließt das neue Gryfino.

Im linken Teil der Stadt ist das zuerst weniger deutlich, da sich mehr überkommene Bebauung in die fortschrittliche mischt und eine vom Bahnhof kommende Straße eine zu große Kreuzung schafft. Doch letztlich erklärt sich auch die geschwungene Anordnung der Punkthäuser dadurch, daß sie dem Mauerverlauf folgt, wie wiederum an einigen Resten zu erkennen ist. Wo die parallel zum Ufer verlaufende Straße die Stadtmauer durchbricht, muß ein Wohngebietszentrum die Rolle des fehlenden Stadttors übernehmen. Von der Kreuzung leitet eine Grünanlage mit langem Brunnenbecken darauf zu. Rechts ist zuerst ein Kaufhallengebäude mit ansteigendem Dach, dann ein Platz mit einem Rechteck aus leichten stahlgestützten blechernen Vordächern, das sich links zur Straße öffnet, rechts vor weiter zurückgesetzten anderen Ladenräumen verläuft und hinten an den flachen Vorbau eines dreigeschossigen Gebäudes anschließt.

Auf diesem Vorbau nun ist die Leuchtreklame: zweimal an den Seiten der linken Ecke zu Straße und Platz in roten Großbuchstaben „Centrum“ und an zweiteres anschließend in gelben Kleinbuchstaben „pixi“ mit einer stilisierten Maus als Maskottchen. Über allem prangt auf dem höheren Gebäude in Blau das Logo von „Społem“, den polnischen Genossenschaftsläden.

In diesem Wohngebietszentrum sind die ganzen polnischen sechziger Jahre, die ganze Leichtigkeit und Liebenswürdigkeit des Sozialismus. Der Bezug zur Stadtmauer war sicher stärker bevor die Bäume die Straßenseite schlossen, aber wenn man in der rechten hinteren Ecke den Platz verläßt, sieht man sie fast im selben Moment wie das verglaste Treppenhaus des dreigeschossigen Gebäudes. Und an dessen anderer Seite mit einem einzigen Gitterbalkon und weiterem Społem-Logo schaut man an der Mauer vorbei auf die sie fortsetzenden Punkthäuser.

Der Sozialismus brachte in Gryfino nach den Kriegszerstörungen einen überraschenden Rückzug innerhalb die alten Stadtmauern, über die die Stadt im Kapitalismus hinausgewachsen war, aber er ordnete alles darin neu. Außerhalb scheint alles zu zerbrechen, das gebannte Chaos kam doppelt zurück, nicht nur vielleicht durch den erneuerten Kapitalismus und das, was er gerade für Grenzstädte bedeutete. Eher verließ schon das sozialistische Gryfino nach der erstaunlichen und weitgehend erfolgreichen Anstrengung, etwas Neues in die Mauern des Alten zu bauen, die Kraft. Aber wertvoll und beispielhaft bleibt das, was hier geschaffen wurde.