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Chiqui vincit

Die Iglesia del Sagrado Corazón (Herz-Jesu-Kirche) tat ganz richtig daran, über ihren Eingang statt eines Turms einen dicken, säulengetragenen Sockel, auf dem eine riesige weiße Jesusskulptur steht, zu bauen, da sie richtig einschätzte, daß man sie sonst trotz ihren monströsen neoromanischen Formen in den engen Straßen der asturischen Hafenstadt Gijón kaum beachten würde.

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Dank dieser Entscheidung schwebt Jesus nun mit den Worten „Christus vincit“ (Christus siegt) hinter den Mauern des Instituto Jovellanos (Jovellanos-Instituts) über dem nahen rechteckigen Plaza del Instituto (Institutsplatz)

und hinter einer Ecke des ferneren Plaza del Seis de Agosto (Sechster-August-Platzes).

Aber während er vom ferneren Platz nur noch von wenigen Stellen zu sehen ist, gehört der nähere Platz seit langem nicht mehr ihm und auch nicht dem Institut oder dem zwölfgeschossigen franquistischen Neorenaissanceklotz an seiner Südseite

oder dem mit grauer und roter glatter Steinverkleidung von der Nordostecke hineinschauenden vierzehngeschossigen Wohngebäude,

sondern einem Jungen namens Chiqui.

Er steht in der Mitte einer orangenen Kunststoffläche in den beiden Obergeschossen eines Gebäudes an der Ostseite des Platzes, eine Comicfigur mit vorstehendem Umriß, gekleidet in eine Art Nachthemd mit blau-weißen vertikalen Streifen und angedeutete schwarze Halbschuhe am Ende der nackten Beine, eine Steinschleuder in den hinter dem leicht zurückgelehnten Körper verschränkten Händen, und blickt mit einem Gesichtsausdruck, in dem sich, obwohl er nur aus wenigen schwarzen Strichen im horizontalen Oval seines Kopfs unter einem schwarzen Haarschopf besteht, Verschmitztheit, vielleicht trotzig-fröhliches Schuldbewußtsein erkennen lassen, auf den Platz hinab, wenn nicht zu Jesus selbst, einfach ein kleiner Junge, ganz im Stile seiner Zeit, den frühen sechziger Jahren wohl, dargestellt und doch zeitlos verständlich. Über ihm steht in leicht krakeligen Schreibschriftbuchstaben „Chiqui“ (Kleiner), was dadurch mindestens so sehr sein Name wie der des Kinderschuhgeschäfts, das im Erdgeschoß seinen verglasten Eingang hat, wird, und um ihn sind kassettenartige rechteckige Felder mit zu ihrer orangenen Mitte goldbraun abgeschrägten Rändern und vor allem vertikale dünne weiße Streben.

Chiqui ist ein Stück Reklamekunst, aber eines so unübersehbar, so simpel und einprägsam, daß es zwangsläufig zum Symbol mindestens des Platzes werden mußte. Insofern erreichte Chiqui genau das, was der schwebende Jesus erreichen wollte und in gewissem Maße ja auch erreichte, aber er ist so viel näher, so viel liebenswerter, so viel menschlicher, daß er Jesus sofort übertrifft. Wollte jemand ihn entfernen, da der Laden inzwischen geschlossen ist, es würde wohl größeren Widerspruch auslösen, als wenn der Jesus auf der Kirche abmontiert werden würde, denn davon gibt es, auch ähnlich schwebend, viele; Chiqui gibt es nur in Gijón.